Walter Lüthis Predigt über Matthäus 26,36-46: „Derjenige, der uns wirklich hilft, so ganz hilft, dass er der Erlöser ist, ist schwach. Die Tatsache, dass Gott uns in Gethse­mane den Erlöser der Welt schwach zeigt, auch sie müsste auf uns abfärben. Das wäre der Beitrag, den wir als Christen dieser Welt schuldig sind, dass wir aufhören, unser Heil von irgendwelchen Machtpositionen her zu erwarten, dass wir im persönlichen und im Völkerleben der «Politik der Stärke» absagen und glauben, dass Got­tes Kraft in den Schwachen mächtig ist.“

Die Gethsemanestunde. Predigt über Matthäus 26,36-46

Von Walter Lüthi

36. Da kam Jesus mit ihnen zu einem Hofe, der hieß Gethsemane, und sprach zu seinen Jüngern: Setzet euch hier, bis daß ich dorthin gehe und bete. 37. Und nahm zu sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. 38. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir! 39. Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir, doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! 40. Und er kam zu sei­nen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? 41. Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. 42. Zum andernmal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille! 43. Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. 44. Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum drittenmal und redete dieselben Worte. 45. Da kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach wollt ihr nun schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hier, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. 46. Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät!

Es ist unmöglich, zu übersehen, daß Christus jetzt das Bedürf­nis hätte, allein zu sein, so wie er ja auch schon früher ganze Nächte in einsamer Zwiesprache mit dem Vater zubrachte. Am Ein­gang des Gehöftes, das Gethsemane heißt, sagt er zwar zu seinen Jüngern: «Setzet euch hier, bis daß ich dorthin gehe und bete» (36). Dann aber bittet er drei von ihnen, Petrus, Jakobus und Johannes, ihn zu begleiten. Aber auf halbem Weg läßt er auch diese drei zu­rück und begibt sich «ein wenig» weiter in die Nacht hinaus. Lukas sagt hier, «er riß sich einen Steinwurf weit von ihnen los». Es be­steht kein Zweifel: So sehr er allein sein möchte, diesmal, gerade diesmal darf er es nicht! Offenbar sind für das, was in dieser Stunde sich ereignen soll, Zeugen unentbehrlich. Gott legt hier deutlich Gewicht darauf, daß die Vorgänge von Gethsemane den Menschen kund werden sollen. So mögen auch wir in dieser Morgenstunde einen Blick in dies große Geheimnis hinein tun.

Ja, es ist auffällig, wie umfangreich ausgerechnet hier die Bericht­erstattung der Zeugen ist. Diese Ausführlichkeit ist bedeutsam. War­um? Man begreift es gut, daß Jesus seinerzeit anläßlich der Auf­erweckung der Jairustochter und später noch einmal auf dem Berg der Verklärung diese selben drei Zeugen mit sich nahm. Dort wurde Jesu Herrlichkeit offenbar. Hier in Gethsemane aber wird seine Niedrigkeit sichtbar wie vorher und nachher nicht. Hier sehen die Jünger ihren Herrn in einer Verfassung, die ihnen an ihm bis jetzt fremd war. Er muß sie hier um ihren Beistand bitten; wir haben recht gehört, nicht sie ihn, sondern er sie! Die Jünger sehen, alle Welt sieht, wir sehen in Gethsemane den Erlöser der Welt schwach. Der Helfer bedarf der Hilfe, der Arzt des Arztes! Das ist nun allerdings das Mißlichste, was einem in dieser Welt passieren kann. Wehe den Schwachen! Aber wenn es nun schon so sein muß, daß er schwach wird, warum verbirgt er sich denn nicht wenigstens vor ihnen? Man verbirgt doch sonst vor seinen Mitmenschen seine Schwächen, wenn man gescheit ist. Seltsam, sehr seltsam, wie Gott hier die Schwäche seines Sohnes ins Schaufenster rückt!

Und diese Schwäche ist so groß, daß er zittert. Wann haben sie ihn bis zu dieser Stunde zittern gesehen? Damals auf dem See, als es stürmte; wie ruhig schlief er da! Und dann, wie stand er auf und be­drohte den Sturm! Und unmittelbar nachher am Strand der Gadarener, als in der Gestalt jener Dämonischen die Hölle auf ihn ein­stürmt, wie steht er da, als Gebieter, als Herr! Und nun zittert er. «Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.» Und nun zittert der Grund. Das Fundament, das vor Grundlegung der Welt gelegt ist, zittert! Die Magnetnadel, die bisher unverrückt auf den Pol hin zeigte, ist ins Schwanken geraten! — Ja, nun passiert es ihm gar, was einem Mann besonders peinlich ist, so daß er es wenn immer möglich verbirgt. Welcher Vater weint vor seinen Kindern? Jesus weint nun vor seinen Jüngern. Und es ist diesmal nicht das grimmige Weinen an der Gruft des Lazarus, es ist auch nicht das majestätische Weinen des Erlösers über die Stadt Jerusalem. Hier in Gethsemane ist es das verzagte Weinen. Im letzten Buch der Heiligen Schrift werden einmal die Verzagten verflucht. In Gethsemane ist Jesus bei den Verzagten. Wie ein todwunder Löwe sich mit dem Rest seiner Kraft in den Schutz des nächsten Dickichts schleppt, so reißt sich der Herr der Welt einen Steinwurf weit von seinen Jüngern los. Sie hören die einsamen Schreie durch die Nacht. Und alle Welt soll diese Schwäche, dieses Zittern, Verzagen und Schreien zur Kenntnis nehmen! Wie soll man sich diese göttlich beabsichtigte Publizität ausgerechnet zu einer Stunde, da man es am wenigsten erwartete, erklären?

Ein Wort aus dem Hebräerbrief mag hier weiterhelfen. Dort heißt es von der Gethsemanestunde, Christus habe «in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert» (Hebt. 5,7). «Geopfert» hat er in Gethesmane. Jesu Lei­den und Sterben, das eben soll hier aller Welt kundgetan werden, ist ein Opfer. Wenn man die gläubige Unerschütterlichkeit Jesu vor und nach Gethsemane bedenkt, wie er, getragen von der Gewißheit des Endsieges, in sein Leiden hineinschreitet, wenn man die maje­stätische Überlegenheit in Betracht zieht, in der er seinen geistlichen und weltlichen Richtern begegnet, wenn man sich die Würde ver­gegenwärtigt, in der er unter den Fäusten seiner Häscher, Schänder und Henker sich befindet, wenn man die unvergleichliche Hoheit seiner Marter zwischen den zwei Mitgehenkten betrachtet, dann könnte man ja auf die Idee körnen, das Kreuz sei für ihn gar kein Opfer gewesen. Aber der Zusammenbruch von Gethsemane soll alle Welt ins Bild setzen darüber, daß hier, um mit dem Wort des Hebräerbriefes zu reden, tatsächlich «geopfert» wird. Christi Passion ist ein Opfer, und was für eines, ein Ganzopfer. Wie groß dieses Opfer ist, kann deswegen kein Mensch ermessen, erwägen und er­gründen, weil kein Mensch der Erlöser ist. Wir Menschen können nur menschliche Opfer verstehen. Hier aber geht es um Gottes Opfer. Was es ist, das Jesus hier «Kelch» nennt, wovor ihm so graut, wo­von er, wenn es beim Vater möglich wäre, verschont sein möchte, das wollen wir nun an Hand von drei Erwägungen aus gebührender Distanz wenigstens zu ahnen versuchen.

Eine erste Überlegung: Paulus schreibt den Korinthern einmal das befremdliche Wort: «Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht» (2.Kor. 5,19). Jesus ist tatsächlich ohne Sünde. Er ist der Reine, Heilige, der von allem Anfang an von der Sünde Getrennte, der schon unbefleckt Empfangene. Dabei hat er sich nie auch nur einen Augenblick von den Sündern distanziert, hat geradezu betont im Bereich und in der Gemeinschaft von ausgespro­chenen Sündern sich aufgehalten. Er redet mit der moralisch mehr als zweifelhaften Samaritanerin am Jakobsbrunnen, setzt sich mit den Zöllnern und Sündern auf dieselbe Bank, obschon ihm doch das Wort des ersten Psalms bekannt ist: «Wohl dem, der nicht sitzt, da die Spötter sitzen»; er läßt sich im Hause des Pharisäers zum großen Befremden desselben von der stadtbekannten Dirne die Füße küssen, ruft dem Oberzöllner und Obersünder Zachäus unter allgemeinem Murren zu: «heute werde ich bei dir zu Gaste sein», er duldet Judas bis zuletzt in seinem engsten Kreis. Diese seine Solidarität mit den Sündern ist es ja just, was ganz allgemein bei den Frommen seiner Zeit Aufsehen und Befremden erweckt. Aber bei all diesem seinem engsten Kontakt mit den Sündern bleibt an ihm selber, an seiner Person, doch nie das geringste Stäubchen und auch nicht der Schat­ten eines Fleckchens hängen. Seine Hände sind rein, seine Lippen sind rein, seine Seele ist heilig. Nun aber muß er, der tatsächlich «von keiner Sünde weiß», hinein in die Sünde. Nun mutet Gott ihm zu, nicht nur die Sünde selber anzurühren, sie nicht nur an sich heran-, sondern in sich hineinkommen zu lassen, die Sünde der Welt als seine Sünde anzunehmen und anzuerkennen. Vom Sündlosen ist jetzt erwartet, für uns den Platz des Sünders einzunehmen. Davor graut ihm. Wie sollte ihm davor nicht grauen! Zwar wankt sein Entschluß, der Erlöser der Welt zu sein, keinen Augenblick; aber ist dazu dieses letzte Grauenhafte nötig? muß es sein? «Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.» Es wäre doch dem Vater bestimmt möglich, seinem Sohn zu ersparen, daß er «für uns zur Sünde gemacht werden soll». Die Antwort lautet, daß es sein muß. Es ist des Vaters Wille, die Erlösung so ganz, so unmißverständlich ganz durchzuführen, daß er seinen Sohn tatsächlich für uns «zur Sünde macht». Der Sohn soll sich mit der Sünde dieser Welt nicht nur solidarisieren, sondern identifizieren, soll die fremde Sünde zur eigenen machen. Das ist es, wogegen sich die heilige Natur des Erlösers in Gethsemane zunächst sträubt. Aber er gehorcht. «Ob­schon er der Sohn ist, lernte er in dem, was er litt, Gehorsam.» Sein Opfer ist ein totales. Und er sagt ja dazu. Für uns.

Eine zweite Überlegung: Sie betrifft den Teufel. Jesus hat ihm gleich am Anfang seiner Wirksamkeit den Meister gezeigt. Aber der Teufel hat ihm die Niederlage nicht vergessen. Lukas beendet die Versuchungsgeschichte mit dem Hinweis: «Da verließ ihn der Teufel bis zu gelegener Zeit.» Diese «gelegene Zeit» ist mit der Gethse­manestunde nun für den Teufel gekommen. Und nicht nur als Ver­sucher, zugleich auch als Vergelter und Rächer seiner verletzten Teufelsehre kehrt er nun zurück. Zwar tritt er in Gethsemane nicht persönlich in Erscheinung, aber während dieser ganzen Stunde ist er im Spiel, gleichsam in der Atmosphäre. An Jesus selber hat der Teufel nichts mehr zu suchen, das weiß er. Um so schauriger wird er sein Mütchen an Jesu Umgebung, an den hier beteiligten Menschen kühlen. Es ist ihm möglich und offenbar gestattet, sich jetzt die Men­schen zu gefügigen Werkzeugen zu machen. Darum, wenn es hier heißt, Jesus sei in der Menschen Hände, in der Sünder Hände, aus­geliefert worden, kommt das praktisch darauf hinaus, daß er nun in die Hände des Teufels überantwortet wird. Die Rollen werden in dieser Nacht und am kommenden Tag nun gleichsam vertauscht sein: Jesus, der Sieger, wird vor aller Welt als Unterlegener dastehen, Satan, der Unterlegene, aber wird vor den Augen der Menschen als Sieger aus dem Treffen hervorgehen. Pilatus wird ein Funktionär des Teufels, «des Teufels General», sein. Kaiphas und die hohe Geistlichkeit werden Teufelsdienste tun. Das Volk, das «kreuzige ihn» schreit, tut es aus Anstiften des Teufels. Petrus und die Jünger haben vernommen, daß «Satan ihrer begehrt». Und in Judas ist vollends der Teufel gefahren. Finsternis wird am Karfreitag wie nie zuvor das Erdreich bedecken und Dunkel die Völker. Christus ist entschlossen, den Weg des Erlösers zu Ende zu gehen. Aber vor diesem Vergeltungsfeuer des Teufels, vor diesem Triumph der Bos­heit graut ihm, nicht zuletzt um der lieben Menschen willen, die er während der kommenden Stunden in der Hand des Teufels sehen muß. Ihm graut vor dem Hohngelächter der Hölle. Darum seine Frage: Muß das sein? Diese völlige Umkehrung, diese völlige Ver­deckung des guten Gotteswillens durch den bösen Teufelswillen? Und es ist des Vaters Wille, daß der Sohn nun in die Hand der Menschen, d. h. in die Hände des Teufels, ausgeliefert werde, daß er den ganzen Ansturm der Hölle aushalte und pariere. An ihm soll jetzt der Teufel durchs Tor rasen, sich zutode siegen. Alle Welt soll von dieser Gethsemanestunde an für alle Zeiten wissen und zur Kenntnis nehmen: Wenn Gott einen teuflischen Plan vereiteln will, dann gewährt er ihm zunächst Gelingen. Wenn Teufel auf dem letz­ten Loch pfeifen, dann siegen sie. Je saftiger in dieser Welt gesiegt wird, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um Nie­derlage handelt. Seine eigentlichen Siege aber hüllt Gott in Nieder­lagen. So wird es in der Stunde von Gethsemane offenbar. Der Löwe ist hier zum Lamm geworden. So sieht es aus, das Opferlamm, das der Welt Sünde trägt. Es ist ein Opfer, und was für eines, ein Ganzopfer!

Die dritte Überlegung betrifft den Kelch. «Vater, ist es nicht möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille.» Ist es zufällig, daß das Kreuzesleiden hier in Gethsemane dem Herrn in Gestalt gerade eines Kelches vor Augen steht und ins Blickfeld gerückt ist? Von den Propheten des Alten Bundes wird auffällig oft ein Kelch erwähnt. Es ist dort der soge­nannte Taumelkelch, den Gott den Völkern und schließlich sogar seinem eigenen Volk immer dann einschenkt und kredenzt, wenn sie es mit der Sünde so weit getrieben haben, daß Gericht unabwendbar wurde. Wenn das Maß der Sünde zum Überfließen voll ist, dann, sagen die Propheten, reicht Gott den Taumelkelch herum, gefüllt mit dem Geist der Trunkenheit, des Größenwahns, der Verblendung, der Zwietracht und der Verwirrung. Im Neuen Testament kehrt diese Vision des Taumelkelchs wieder in den «Sieben Zornschalen» der Offenbarung des Johannes. Ezechiel nennt ihn den «tiefen und weiten, der gar viel faßt». Diesen Kelch des göttlichen Zorns, diesen Kelch des Gerichts, diesen Taumelkelch, diesen «tiefen und weiten, der gar viel faßt», sieht jetzt der Herr vor sich. An der Statt seines Volkes und der Völker soll er ihn austrinken. Was die Menschen ein­gebrockt haben, soll er nun gleichsam auslöffeln. Jesus sieht den In­halt des Kelches. Nur er sieht ihn. Und was er da drin sehen muß, ist derart, daß ihm davor graut. Wie ein Kind die bittere Arznei, so möchte der Sohn die Hand des Vaters, die ihm den Kelch reicht, von sich stoßen. Aber der Vater will, daß er ihn trinke. Und nun ergreift er ihn mit beiden Händen. Hier in Gethsemane trinkt er gleichsam den ersten Schluck davon. Und obschon er immer wieder absetzen und innehalten muß, trinkt er ihn bis zum bitteren Bodensatz, bis dorthin, wo er dann rufen muß: «warum hast du mich verlassen?», ja bis daß er «abermals laut schrie und verschied». Er bringt das Sühn­opfer am Kreuz so, daß er, der von keiner Sünde weiß, sich für uns zur Sünde machen läßt, so, daß er, der Sieger, das Austoben des Teufels durchsteht, so, daß er den Kelch des göttlichen Zorns trinkt, «den tiefen und weiten, der gar viel faßt». Seither ist der Menschheit ein anderer Kelch aus der Hand des Erlösers dargeboten: der Kelch des Heils. Dieser ist so tief und so weit, dieser faßt so viel, daß die Einladung ergeht: «Trinket alle daraus!» Es ist genug drin. Was am Kreuz erworben wurde, reicht für alle.

Und nun liegt es Gott, wie wir gesehen haben, daran, daß wir von den Vorgängen dieser Gethsemanestunde Kenntnis nehmen. Es gilt von der ganzen Passion Christi, vor allem aber von dieser Stunde, die uns zeigt, wie groß und ganz sein Opfer ist, daß wir sie betrachten sollen. Zu welchem Zweck solch Betrachten geschehen soll, deutet jener Liederdichter an, der mahnt «Daß nie mir komme aus dem Sinn, / wieviel es dich gekostet, / daß ich erlöset bin.» Es soll dem­nach nicht ein Betrachten der Neugier sein, was ein Begaffen eines Passionsspieles wäre. Es soll auch nicht ein fromm oder ästhetisch genießerisches, sondern ein verpflichtendes Betrachten sein. Gott erwartet Früchte von der alljährlich in seiner Kirche wiederkehren­den Betrachtung der Passion, Gesinnungsänderung, Umgestaltung. Gethsemane zeigt Gottes Opfer als Rettung der Welt. Wenn aber Opfer der Sinn des rettenden Handelns Gottes ist, müßte dieser Um­stand nicht auf alle, die diesen Gott des Opfers kennen und an ihn glauben, abfärben? Nicht etwa, daß wir zum Versöhnungsopfer, das Gott in Christus dargebracht hat, etwas beitragen und hinzufügen, es gar wiederholen könnten. Gerade die Gethsemanestunde lehrt ein­drücklich genug, wie einsam und allein der Erlöser sein Opfer bringt. Keiner seiner Allernächsten ist imstande, ihm auch nur entfernt be­hilflich zu sein. Aber dieses sein alleiniges und einmaliges Opfer schreit nach Dank. Nachdem wir hier erfahren, «wieviel es dich ge­kostet, daß ich erlöset bin», kann es nicht anders sein, als daß unser Leben mit allem, was wir sind und haben, ein Dankopfer, eine ein­zige Hingabe aus Dank, zu werden beginnt. Die Betrachtung der Passion müßte uns so durchs Herz gehen, daß in unser aller Leben Verzicht begehrenswerter würde als Genuß, Aufopferung lieber als Selbstbehauptung, Geben seliger denn Nehmen. Eine Revolution des Dankes und der Hingabe, ein «diakonisches Jahr», nein, ein diako­nisches Leben müßte ausgehen von Menschen, die der Gethsemane­stunde Christi einmal als Betrachter beigewohnt haben. Das ist der Beitrag, den wir als Christen dieser Welt schuldig sind und bis jetzt weithin schuldig blieben: Die nichtchristliche Welt soll merken, daß die Mitte des Christenglaubens ein Opfer, ein Geopferter ist. Solange die außerchristliche Welt uns Christen nicht als Menschen der Hin­gabe und des Dankopfers kennenlernt, ist das ein Zeichen dafür, daß wir das Opfer Christi, dargebracht in seiner Passion, immer noch nicht recht betrachtet haben.

Damit im Zusammenhang steht schließlich noch eine andere Frucht, die Gott von unserer Betrachtung speziell der Gethsemane­stunde erwartet. Wir Menschen sind alle mehr oder weniger ange­steckt von einem bösen Aberglauben. Wir glauben an die Macht, an die Stärke. Unser Denken ist befangen, geradezu besessen von der Überzeugung, daß man stark sein müsse, um helfen zu können. Wir sind darum anhaltend dran, Hilfe von den Starken zu erwarten. Der heutige Mensch — leider macht da der Christ weithin keine Aus­nahme — sieht sein Heil in der Stärke. Gleichzeitig schwant es uns allerdings in letzter Zeit, daß ein Geschlecht, das sein Heil in der Stärke sucht, an dieser Stärke zugrunde gehen wird. Stärke hilft nicht. Macht ist böse, Gethsemane zeigt uns ein anderes Bild, eine andere Welt. Derjenige, der uns wirklich hilft, so ganz hilft, daß er der Erlöser ist, ist schwach. Die Tatsache, daß Gott uns in Gethse­mane den Erlöser der Welt schwach zeigt, auch sie müßte auf uns abfärben. Das wäre der Beitrag, den wir als Christen dieser Welt schuldig sind, daß wir aufhören, unser Heil von irgendwelchen Machtpositionen her zu erwarten, daß wir im persönlichen und im Völkerleben der «Politik der Stärke» absagen und glauben, daß Got­tes Kraft in den Schwachen mächtig ist. Damit sind wir an den Ort der Seligpreisungen verwiesen. Selig sind die Armen, denn das Him­melreich ist ihr. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen; selig sind die Friedfertigen, die Barmherzigen —. Diese Sätze atmen den Geist von Gethsemane. An diesem Geist kann unser Geschlecht genesen. Amen.

Quelle: Walter Lüthi/Eduard Thurneysen, Der Erlöser. Predigten, Basel: Friedrich Reinhardt, o.J. [1961], S. 97-104.

Hier die Predigt als pdf.

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