Adolf Sommerauer, Ich spürte, wie der Tod ins Zimmer kam: „‚Du mußt es aushalten, bis er die Spritze bekommen hat, die ihm das wa­che Bewußtsein nimmt. Er hängt an dir, du darfst ihm das nicht antun.‘ In demselben Augenblick, als meine Frau um des Nächsten willen ihren Mann leiden ließ, war mir klar, dass Christus lebt und dass er da ist. Es war eine Geborgenheit in dem Christus, der dem Tod die Macht genommen hat. Und ich glaube, dass in ihm auch der Mann geborgen war, der an der Weggabel die andere Richtung nehmen musste.“

Ich spürte, wie der Tod ins Zimmer kam

Von Adolf Sommerauer

Daß menschliches Leben durch keine Formel hinreichend er­klärt werden kann, ist eine alte Geschichte. Trotzdem muß der Versuch immer wieder unternommen werden. Sollte die Menschheit als Ganzes oder in ihren Teilen auf den immer neuen Anlauf zum Selbstverständnis verzichten, müßte und würde sie sich selbst vernichten. Das ist denkbar. Jedermann erlebt bewußt oder unbewußt diese Verlegenheit, wobei zwi­schen „bewußt“ und „unbewußt“ kein allzu großer Unter­schied ist, wenn man ihn nicht – irrtümlich und hochmütig – zum Unterschied zwischen „gebildet“ und „ungebildet“ ver­einfacht.

Um diese Theorie praktisch darzustellen, schildere ich Teile meines Lebens als eine Mischung aus Bestimmung und Entscheidung. Beide Faktoren kann ich prozentual nicht fest­legen, aber keinen kann ich weglassen ohne völlige Verfäl­schung des anderen. Diese Stellung in einer unbestimmbaren Mitte erfordert eine Geduld, die, soweit ich es erfahren habe, von sehr vielen Menschen weder für sich noch für andere aufgebracht wird.

1. Ich bin in einer – damals noch selbstverständlicher als heute – unkirchlichen Arbeiterfamilie aufgewachsen. Als kirchliches Relikt war in der Wohnung eine bei der elterli­chen Trauung empfangene Bibel vorhanden. In dieser Bibel gab es fettgedruckte Stellen, in denen ich als Schüler – keine Erinnerung: wieso und warum – herumlas. Ohne solche fett­gedruckte Stellen hätte ich … aber Bestimmung hätte sicher auch noch andere Wege gehabt.

2. Damals konnte ein Arbeiter kaum auf den Einfall kom­men, seinen Sohn in eine höhere Schule zu schicken. Mein Lehrer ließ meinen Vater kommen und legte ihm diesen Ein­fall – für mein Leben war es einer! – nahe.

3. Mein Religionslehrer in der letzten Klasse des Gymna­siums zwang mich an verschiedenen Stellen zum denkenden Widerstand. Er meinte z. B. entsprechend der damaligen Ethik, daß das Vergnügen des Sonntags nur den Wert der Re­generation für die nächste Arbeitswoche habe. Ich wollte das Vergnügen als Selbstzweck erleben und habe mit dem Lehrer oft gestritten – übrigens um die gleiche Frage, nur theolo­gisch verbrämt, in späteren Jahren immer wieder mit man­chen Christen.

4. Nach dem Abitur, trotz allen modernen Jammerns kein Vergleich mit heute: keine Arbeit, keine Aussicht auf Liebe, zu der man damals noch die Erfüllung einer Ehe rechnete. Kein Sinn des Lebens, die Welt mit Brettern vernagelt.

Die weitere Entwicklung, den plötzlichen Entschluß, Pfar­rer zu werden, behalte ich für mich. Ich wurde oft darnach ge­fragt aus Neugier, aus ehrlicher Freundschaft, einmal sogar sehr intensiv von Heerespsychologen zur Erprobung meiner Tauglichkeit als Offizier. Ich nenne hier wenigstens einige Gründe für meine Schweigsamkeit. Solche sogenannte „Schlüsselerlebnisse“ werden in dem Augenblick zwielichtig, wo sie die Funktion eines Schlüssels nicht mehr haben. Je nach Situation und Laune kann man ein solches Erlebnis für ein Wunder halten, oder für einen wunderlichen Zufall, oder für Selbsttäuschung, oder für bewußte Umdichtung, jeden­falls für etwas anderes, als es war. Offenbar sind einige Erleb­nisse ausschließlich für zwei Menschen oder ausschließlich für einen Menschen und seinen Gott bestimmt, unbrauchbar als Nachweis oder Propaganda. Wenn es immer nach dem Willen Jesu gegangen wäre, würden einige Berichte im Neuen Testament fehlen. Hierher rechne ich auch, daß der Apostel Paulus ein solches „Schlüsselerlebnis“ bewußt so verschwommen andeutete, daß auch eine exakt theologische Neugier sich bescheiden muß.

Ich wollte also, wenn auch nicht Apostel, so doch Pfarrer werden, hatte aber keine Ahnung, wie das praktisch zu ma­chen ist. Ich ging zu dem Studentenpfarrer, von dem mir je­mand – wer? – erzählt hatte. Er fragte mich, was ich werden möchte, wenn ich kein Pfarrer würde. Ich habe die Wahrheit gesagt: Dichter. Er hat mich nicht ausgelacht, aber später im­mer mit großem Respekt daran erinnert, daß ihm außer mir nie jemand zugab, Dichter werden zu wollen.

5. So allmählich – wegen vieler „Nebenbeschäftigungen“ studierte beziehungsweise lernte ich nur ein Jahr lang ernst­haft Theologie – wurde ich Vikar in Regensburg. Man hatte mir zugesagt, daß ich eine Stelle in München bekommen würde, wo meine Braut wohnte. Großer Ärger also wegen Re­gensburg, aber dort habe ich den Pfarrer gefunden, der mir ermöglichte, ohne Komplexe Pfarrer zu werden. Seine erste Frage bei meinem Antrittsbesuch, meiner Erinnerung nach ohne irgendeine Einleitung: „Was tun Sie, wenn Sie im Ur­laub an ein christliches Hospiz kommen?“ Ich habe eine theo­logisch richtige Antwort überlegt und, weil mir diese nicht einfiel, die Wahrheit gesagt: „Ich gehe im großen Bogen au­ßen herum.“ Darauf er: „Wir werden uns ausgezeichnet ver­tragen.“ Und so war es dann auch. Ich bitte alle Hospize um Entschuldigung und leiste als Gegengabe die Einsicht, daß es sicher für viele Menschen eine gnädige Bestimmung war, mir nicht begegnet, sondern im großen Bogen um mich herumge­gangen zu sein.

In Regensburg, wohin ich zunächst überhaupt nicht wollte, fand ich meine besten Freunde, und ich weiß inzwischen, was Freundschaft für den Glauben, seine Erprobung und Entwick­lung bedeuten kann.

6. Im Krieg saß ich bei einem russischen Großangriff ne­ben einem Soldaten im Graben auf der Gasmaske. Ich ver­suchte meine Klamotten, Stahlhelm, Maschinenpistole und dergleichen in diesem simulierten (?) Weltuntergang bei mir, aber auch den Überblick zu behalten. Ich stand auf, um die Lage im Ge­fechtsfeld zu prüfen, setzte mich dann wieder neben den Ka­meraden, aber jetzt auf seiner anderen Seite. Mir zerhackte die nächste Granate einen Fuß, ihm wurden beide Oberschen­kel weggerissen, er verblutete sehr rasch. Als irgendwo einer rief, daß jetzt die Panzer kommen, wollte ich in diesem Zu­stand nicht in Gefangenschaft geraten und richtete meine Pi­stole her. Ich habe mich nicht erschossen und weiß nicht, wo­durch meine Angst gebremst wurde, obwohl in dieser Situa­tion die Chance des Weiterlebens ziemlich gering war. Trotz­dem habe ich während der Stunden, wo ich ohne Hilfe lag, immer wieder den Fuß ab – und aufgebunden, um den Kreis­lauf nicht völlig abzuschnüren. Indem mir auf diese Weise das Knie erhalten wurde, konnte ich in späteren Jahrzehnten fast wie ein unbeschädigter Mensch meine Arbeit tun.

7. Ein späteres Erlebnis erzähle ich am einfachsten durch einen Abschnitt aus einer Rundfunkpredigt. Diese Predigt liegt mindestens 25 Jahre zurück und hat vielleicht für das ge­genwärtige Thema Bedeutung als „Dokument“ einer weit zu­rückliegenden Haltung: „In meinem Zimmer lag ein Mann, der einige Tage später die gleiche Operation durchzustehen hatte. Er starb daran. Ich habe es gespürt, wie der Tod ins Zimmer kam. Wenn man selbst nur noch zur Hälfte lebendig ist, ist es noch schwerer, das Elend anzuschauen, das in der nächsten Stunde das eigene sein kann. Ich habe meine Frau gebeten, daß sie mich aus dem Zimmer bringen lassen sollte. Ich könnte es nicht mehr aushalten. Dies ist also keine rühm­liche Geschichte. Sie hat mir ins Ohr geflüstert: ‚Du mußt es aushalten, bis er die Spritze bekommen hat, die ihm das wa­che Bewußtsein nimmt. Er hängt an dir, du darfst ihm das nicht antun.‘ In demselben Augenblick, als meine Frau um des Nächsten willen ihren Mann leiden ließ, war mir klar, daß Christus lebt und daß er da ist. Es war eine Geborgenheit in dem Christus, der dem Tod die Macht genommen hat. Und ich glaube, daß in ihm auch der Mann geborgen war, der an der Weggabel die andere Richtung nehmen mußte.“ Seitdem sind Jahre vergangen. Alles, was Sie über diesen Bericht den­ken können, habe ich auch gedacht. Phantasterei aus Schwä­che? Spätere Umdichtung eines an sich harmlosen Vorgangs? Meine Frau hat erst später von mir erfahren, was ich erlebt habe. Damals hat sie nichts gemerkt. Aber kein gegenwärtiger Zweifel kann aus der Welt schaffen, daß ich damals keinen Zweifel hatte … Kann man solche Erlebnisse überhaupt er­zählen? Eigentlich nicht. Ich habe es hier trotzdem getan, da­mit Sie sich zu Ihren Erfahrungen wenigstens vor sich selbst bekennen möchten. Viele Menschen haben Erfahrungen, die sich an die Behauptung der Heiligen Schrift „Der Herr ist auf­erstanden“ anhängen können. Solche Erlebnisse sollten Sie nicht zu den Akten legen. Fragen Sie sich wenigstens, warum Sie sich selbst gegenüber so mißtrauisch sind. Lieben Sie etwa Ihren Tod? Christus liebt Ihr Leben. Deshalb hat er es so schwer mit Ihnen und Sie mit ihm.“

Insgesamt habe ich aus dem ständig wiederholten Zusam­menklang und Gegensatz von Bestimmung und Entschei­dung dreierlei gelernt.

1. Was mir Gott an einem anderen Zeitpunkt meines Le­bens als Entwicklung meines Glaubens erlaubt hat, etwa Punkt 3, ist mir heute nicht mehr erlaubt. Im Glauben muß man ständig hinzulernen. Was war, dient meinem Verhältnis zu Gott nur dann, wenn es eine Fortsetzung hat. Es ist eine notwendig behutsame, aber mögliche Frage: Was habe ich da­zugelernt?

2. Das Verhältnis von Bestimmung und Entscheidung kann bei einem anderen Menschen ganz anders liegen als bei mir. Ich würde mich gegenüber Gott versündigen und dem Nächsten Unrecht tun, wollte ich für Gott und den Nächsten mich als Maßstab nehmen. Mitunter muß ich urteilen, denn es geht in meinem Leben und in jedem anderen Leben um ei­nen Wert. Ich muß mich aber immer erinnern, daß das letzte Gericht Gott zusteht. Wenn das Jüngste Gericht nicht in der Bibel stünde, müßte man es erfinden. Die Technik dieses Ge­richts muß ich Gott überlassen, aber ohne Zuversicht zu die­sem Gericht würde das Leben gehässig, rechthaberisch, dabei auch denkfaul.

3. Wesentlich war für mich immer die Begegnung mit Menschen. Es mag einiges sozusagen zwischen Gott und mir allein sich zugetragen haben, aber auch dabei habe ich den Verdacht – mehr als ein Verdacht steht mir nicht zu –, daß versteckt und vergessen doch irgendwelche Menschen dabei waren, wo ich meinte mit Gott allein zu sein. Für die Lehre Jesu über das Verhältnis zu Gott und das Verhältnis zu Men­schen finde ich immer mehr „Beispiele“.

Wenn ich angeben soll, was meinem Leben Richtung gab, kann ich nur für das ganze Leben eine Richtung sehen, einge­schlossen alle angeblichen Kleinigkeiten. Wollte ich einem einzelnen Erlebnis mehr Gewicht beimessen, würde ich den Wert des Ganzen mindern – meine ich. Jede Einzelheit hat ihre größte Würde dann, wenn ich sie als einen Teil des Le­bens verstehe, dem im biblischen Glauben der Charakter „ewig“ zugesprochen ist.

Quelle: Was meinem Leben Richtung gab. Bekannte Persönlichkeiten berichten über entscheidende Erfahrungen, Herderbücherei, Bd. 940, Freiburg i.Br.: Herder, 1982, S. 146-151.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. Jede Entscheidung
    hat ihre eigene Würde

    wenn sie gefallen ist
    ist dieser subjektive Moment

    vielleicht für niemand anderen
    zu verstehen

    als dem Erlebenden
    seiner Erfahrung und Bestimmung
    sein wahrhaftiges Ereignis

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