»Bittet, suchet, klopfet an«. Predigt über Lukas 11,5-13
Von Günther Bornkamm
Liebe Gemeinde! So einfach also muß geredet werden, wenn es um das Gebet geht, so einfach, so bestimmt, so zudringlich. Gott der Vater, der hier durch den Mund Jesu Christi zu uns redet, ist, der erste, der, wo es um das Beten geht, mit einer unerhörten Beharrlichkeit sich an uns wendet und uns keine Ruhe läßt: bittet, suchet, klopfet an! Fast möchte man das Gleichnis, das Jesus im Eingang unseres Textes erzählt, ein wenig abwandeln, die Rollen vertauschen, als ob Gott hier die Rolle des bittenden Freundes innehätte, und wir wären die, die im wohl verschlossenen Hause sitzen und mit ihren Kindern darin ungestört schlafen wollen. Fühlen wir uns nicht angesichts dieses von draußen in unser Gehäuse hineindringenden Rufes in der Rolle des Aufgestörten, der zunächst nur antworten möchte: mache mir keine Unruhe! Die Tür ist verschlossen, meine Kinder sind bei mir in der Kammer, ich kann nicht aufstehen?! In der Tat, das ist die tausendfältig gegebene Antwort, mit der wir Menschen Gott antworten, wenn er uns zum Beten aufruft wie in diesem Worte Jesu. Er ist es, der uns keine Ruhe läßt und mit derselben Beharrlichkeit uns zusetzt, die Jesus hier an dem bittenden Freunde rühmt. Er ist zuerst der Bittende, Er ist zuerst der Suchende, der uns sucht, Er ist zuerst mit seinem Worte der Anklopfende: siehe ich stehe vor der Tür und klopf e an.
Warum tut er das und läßt sich so tief herab? Weil er uns nötig hätte? Was für ein vermessener Gedanke! Nein, weil uns nicht anders geholfen werden kann, als daß wir zu beten anfangen und bitten lernen. Solange das nicht geschieht, bleibt eben jene Tür verschlossen, bleiben wir in jenem Gehäuse unseres Daseins eingeschlossen, in dem wir schlafen und zugrunde gehen. Wir gleichen in der Tat, wie einer treffend gesagt hat, in einem erschreckenden Ausmaß dem Hungerkünstler, von dem kürzlich die Zeitung bekanntgab, daß er, in seinem Glaskasten sitzend, demnächst seinen eigenen Rekord brechen werde. Wir haben es schon erstaunlich weit gebracht in dieser zweifelhaften Kunst und halten diesen Zustand, wie es scheint, sogar beträchtlich länger aus als jener Hungerkünstler. Denn die Spuren des Verfalls sind ja hier nicht so unmittelbar und schrecklich zu erkennen wie bei einer Verweigerung der physischen Nahrung.
Freilich, so einleuchtend und heilsam ein solcher drastischer Vergleich für uns sein mag, es ist uns mit solcher bloßen Feststellung ja, wie wir alle wissen, noch herzlich wenig geholfen. Denn wir wisser ja allzu gut, daß die Gründe für die Ermattung oder gar das Ersterben unseres Betens sehr tief liegen und wir mit sehr bestimmten Hemmnissen und inneren Schwierigkeiten nicht fertig werden. Liegen sie wirklich darin, daß uns das Denkproblem zu schaffen macht: was es denn für einen Sinn haben solle, daß wir kleinen Menschen den allmächtigen, allwissenden Gott mit unseren Bitten bewegen wollen, uns zu Willen zu sein? Eine alte Frage — aber täusche ich mich nicht, so ficht uns diese Frage nicht als erste an. Ich glaube auch nicht einmal, daß das Problem der nicht erhörten Gebete für uns wirklich das erste ist und sein soll. Ganz gewiß, diese Frage und Erfahrung setzt vielen unter uns schon erheblich mehr zu. Und doch sollten wir nicht mit ihr beginnen, denn darüber sind wir im Grunde doch nicht im Zweifel, daß man schlechterdings nicht zuerst sich über die Erhörung unserer Gebete gleichsam eine Garantie zusichern kann, ehe man mit dem Gebet beginnt.
Nein, die inneren Schwierigkeiten sind ganz andere. Was uns das Gebet schwer, ja ungezählten unter uns immer wieder unmöglich macht, ist das Bewußtsein, daß zum Gebet nur der fähig ist, der nicht mehr nur ein Suchender ist, sondern einer, der gefunden hat, einer, der die unsichtbare Schwelle des bloßen Fragens und Denkens, ja gerade auch die Schwelle des bloßen theologischen Fragens und Meinens überschritten hat und in entschlossener Einfalt beginnt, wirklich, und das heißt in Einfalt zu glauben und zu Gott zu reden. Da fängt der Glaube ja in der Tat erst eigentlich an, da hört Gott für uns auf, ein rätselvolles Es zu sein, und wird zu einem Du. Luther hat den Glauben einmal nichts anderes „denn eitel Gebet“ genannt: „Wer nicht betet noch Gott anruft in seiner Not, der hält ihn gewißlich nicht für seinen Gott, gibt ihm auch nicht seine göttliche Ehre.“ Das aber ist für uns gerade die bedrängende Frage: Wie sollen wir über diese Schwelle hinwegkommen? Wer kann sich mit solcher Gewißheit nicht mehr nur als einen Suchenden, sondern als einen, der gefunden hat, verstehen, als einen, der nicht mehr nur sehnsüchtig fragend draußen steht, sondern schon mitten drin ist in jenem Lebenskreis eines wirklichen Herüber und Hinüber von Gott, dem Vater, zu uns, seinen Kindern, und von uns, seinen lieben Kindern, zu Ihm, dem lieben Vater? Wer dessen gewiß ist, dessen Zunge löst sich ganz von selbst, für den ist das Gebet ganz sicher keine Frage mehr. Aber können wir über unseren eigenen Schatten springen?
Liebe Gemeinde, so selbstverständlich und einleuchtend solche Einrede zu sein scheint, es ist das unsagbar Tröstliche in Jesu Wort, daß er sie uns nicht abnimmt und diese Unterscheidung zwischen denen, die noch draußen stehen, und denen, die schon drinnen sind, nicht anerkennt. In seinen Augen sind wir alle, wie weit immer wir es im Glauben gebracht haben, draußen Stehende, gerade nicht beati possidentes, glücklich Besitzende, sondern Nichtshabende, denen erst die Hände gefüllt werden müssen. Er setzt gerade nicht voraus, daß wir schon gefunden haben, eben darum gilt: Suchet! Er setzt gerade nicht voraus, daß die Tür sich schon aufgetan hätte und wir geborgen seien, sondern wir stehen vor der Tür. Darum gilt: Klopfet an! Wie weit wir es im Glauben gebracht haben, das wird auf einmal herzlich gleichgültig. Für das Recht und die Pflicht des Gebets liegt nichts, gar nichts daran. Ja, es ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments gerade das Kennzeichen der Glaubenden, daß sie wieder so sprechen müssen, wie nur irgendeiner, der mit den Fragen des Glaubens und des Gebetes nicht zu Rande kommt: wir wissen nicht, was wir beten sollen wie sich’s gebührt. Diese Not also ist im Glauben nicht erledigt, sondern sie hebt im Glauben erst eigentlich an. Es ist nicht wahr, daß er uns in eine heilige Sphäre versetzt, er stellt uns gerade hinein in die sehr unheilige Sphäre unserer unverstellten Wirklichkeit, in die Solidarität derer, die ehrlicherweise nur bekennen können: hilf meinem Unglauben.
Gerade so aber gilt uns Jesu gebietendes Wort und seine Zusage. Aber dieses Wort und diese Zusage gibt uns kein Recht zur Resignation, sondern bedrängt uns gebietend und verheißend: gerade ihr seid gemeint — bittet, suchet, klopfet an! Sein Wort ist gerade ein Ja zu unserer so im höchsten Maße profanen Wirklichkeit. Darum wird hier so „unheilig“ vom Gebet gesprochen, so menschlich, so einfach. Als ob er sagen wollte: Was habt ihr eigentlich aus dem Gebet gemacht? Ist das Gebet wirklich zuerst ein andachtsvolles Sich-Versenken in Gott, ein stilles Sich-Unterwerfen seinen Ratschlüssen? Wer könnte leugnen, daß gerade auch dies in Glauben und Gebet gelernt werden muß? Aber zunächst ist das Gebet dies alles nicht, sondern ganz einfach das Rufen zu Gott aus einer Not, mit der wir nicht fertig werden, ein sich nicht resignierend oder auch ergeben Abfinden mit dieser Not, und wenn es eine so elementare Not ist, wie sie diesen Bittenden hier im Gleichnis überfallen hat. An diesem Aufbruch aber, an diesem Rufen und Bitten ist nun alles gelegen. Wünsche allein sind noch kein Gebet, Klagen und Lamentieren machen es auch nicht. Du mußt es schon auf dich nehmen, an die richtige Adresse dich zu wenden und den Mund aufzutun, ja wirklich leibhaftig ihn auftun, und keine Ruhe geben, Gott in den Ohren liegen mit der Beharrlichkeit, mit der der Bittende in diesem so herzerquickend unheiligen Gleichnis seinem Freunde rücksichtslos zusetzt. Ehe das nicht gewagt ist, dieses inständige, beharrliche, ja — Jesus selbst scheut den Ausdruck nicht — dieses unverschämte Bitten, eher haben wir vom Beten überhaupt noch nicht gesprochen.
Gott sei dank, daß so zu uns geredet wird. Die Beharrlichkeit, mit der Gott uns zusetzt in diesem Worte Jesu, gibt uns das Kindesrecht frei, Ihm keine Ruhe zu lassen. Wie befreiend fährt Gott mit diesem Wort in den Nebel unserer frommen Gedanken hinein und rückt unsere Vorstellungen vom Gebet in höchster Einfachheit zurecht. Denn wir haben alle mehr oder weniger das Gebet in einer verhängnisvollen Weise „verheiligt“. Als ob nur die heiligsten Dinge in ihm ein Recht hätten und als ob das Gebet kein Gebet mehr wäre, wenn wir nicht alsbald die Wirkungen einer inneren Läuterung und Erhebung verspürten. Als ob wir erst Engel sein oder im Gebet zu Engeln werden und im Beten gleichsam auf den Thron Gottes entrückt werden müßten, wenn das Gebet einen Sinn haben soll.
Was haben wir dabei aus Gott gemacht? Wir haben ihn in eine nebelhafte Ferne der Heiligkeit versetzt. Das aber heißt in Wahrheit nichts anderes als dies: wir haben ihn zum Gespenst gemacht und ihm sein Vatersein genommen. Wir machen ihn zu einem Gott, der von jedem irdischen Vater sich beschämen lassen müßte. Gott aber will, daß wir seinen Vaternamen Wort für Wort beim Wort nehmen und also menschlich von ihm reden und menschlich als seine Kinder zu ihm reden. Dazu ist er selbst Mensch geworden in Jesus Christus und begegnet uns, die wir gerade mit unseren scheinbar so frommen Gedanken über das Gebet sein möchten wie Gott, in dem, der nichts sein will als ein Mensch. Um seinetwillen, in seinem Namen dürfen wir bitten wie Kinder zu ihrem Vater, als Kinder zu unserem Vater.
Liebe Gemeinde, erst wenn dies alles unter uns klar ist und wieder klar und einfach zu werden anfängt, erst wenn wir uns diesen Elementarunterricht im Gebet von Jesus gefallen lassen, können wir weiterreden über das Gebet. Es bedarf ja im Grunde keines Wortes, daß Jesus uns nicht zu dem rufen und ein Recht geben will, was er selbst das Gebet der Heiden genannt hat: den vermessenen und zugleich so angstvollen Versuch, mit verzweifeltem Geplärr Gottes Willen uns gefügig zu machen. Alles echte Gebet kann nur im Gehorsam und im Vertrauen geschehen. Zu nichts anderem ruft uns auch unser heutiger Text. Wir werden uns darum auch hüten müssen, uns die Zusage der Erhörung unserer Gebete in einem vermessenen Sinn zu eigen zu machen. Sie ist nicht den Vermessenen, sondern den Zaghaften und Verzagten gegeben. Da gilt sie freilich mit einer Bestimmtheit, von der wir alle uns nichts träumen lassen. Wird uns darum die Erfahrung, daß unsere Gebete, wie wir meinen, unerhört bleiben, erspart bleiben? Ganz gewiß nicht. Sie werden vielleicht unerhört bleiben auch da, wo wir ganz und gar diesen Sinn der Entscheidungen Gottes nicht verstehen. Aber daß wir doch merken möchten, daß diese unseren Glauben so tief anfechtenden Fragen erst da ein Recht haben, wo wir wirklich in Gehorsam und Vertrauen gebetet haben, und daß die Lösung ganz gewiß nicht die sein kann, daß wir nun also vor Gott ins Schweigen verfallen, sondern — so paradox es klingt — daß wir weiter bitten. Nicht der Rückzug ins Schweigen, sondern der Durchstoß nach vorn, auch wenn wir meinen möchten, er werde uns nie gelingen, ist die einzige Hilfe.
Diesem Gebet gibt Jesus die unbedingte, bestimmte Verheißung: „Um wieviel mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist geben denen, die ihn bitten.“ Was für ein seltsamer Beschluß in unserem Text. Oft genug mutet er uns an, als ob all unser Bitten nun also doch nur einen Inhalt haben dürfe, die Bitte um den heiligen Geist, als wäre nun doch zum Schluß die ganze Freiheit, die uns gewährt schien, peinlich-feierlich eingeschränkt. Und der Lästerer hat, wie es scheint, nun endlich doch guten Grund zu sagen: also wird an die Stelle dessen, was der Mensch in seiner Not begehrt — Brot und Kleidung, Hilfe in seinen leibhaftigen Anfechtungen, Bewahrung vor Krankheit und Krieg und was wir sonst nennen mögen —, zum Schluß nun doch das zweifelhafte Surrogat, der fadenscheinige Trost einer frommen Vokabel gesetzt, — Steine statt Brot, eine Schlange für einen Fisch, ein Skorpion für ein Ei.
Wer im Gehorsam und im Vertrauen sich von Jesu Wort hat rufen lassen, der kann so nicht mehr reden. Er wird vielleicht als einer, dem sein Gebet erhört wurde über Bitten und Verstehen, vielleicht als einer, dem seine Bitte für seine eigenen Augen unerfüllt geblieben ist, inne werden, daß diese Zusage Gottes gilt, daß es nichts größeres für uns geben kann als das Zeugnis des heiligen Geistes, der Zeugnis gibt unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind, als das Zeugnis des heiligen Geistes, der unserer Schwachheit aufhilft und vor Gott für uns, die wir nicht wissen, was uns heilsam ist, mit unaussprechlichem Seufzen eintritt. Die Zusage des heiligen Geistes — was kann sie Größeres bedeuten, als daß der Friede Gottes, höher als unser Verstehen, unsere Herzen und Sinne wie ein guter Wächter in seinen Schutz nimmt und sie bewahrt in Christus Jesus, unserem Herrn. So im Frieden und in der Kraft seines Geistes darf der Betende bekennen, was der Dichter sagt:
Wir steigen im Gebete zu ihm wie aus dem Tod, Sein Hauch, der uns umwehte, tut unsern Herzen not.
Liebe Gemeinde, es könnte sein, daß wir das alles uns heute sagen lassen, und daß nun doch nichts geschieht, daß wir selbst in unserem verschlossenen Gehäuse bleiben und daß wir wieder auch den Dienst, den wir als Glaubende der Welt schulden, ihr schuldig bleiben, den Dienst, das Fenster zum Himmel aufzutun und das Licht der Ewigkeit eindringen zu lassen in diese unsere Zeit und Welt. Gott gebe, daß das nicht geschehen möchte. Gott gebe, daß das Wort, das aus seinem Munde geht, nicht leer zu ihm zurückkommt, sondern erfüllt, beladen mit der ganzen Last und Fracht unserer Gebete. Amen.
Gehalten im Universitätsgottesdienst zu Heidelberg.
Quelle: Evangelische Theologie 13 (1953), S. 1-5.