Verantwortung. Predigt über 2. Korinther 11,29
Von Albert Goes
„Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird geärgert – und ich brenne nicht?“ (2. Kor. 11, 29)
Es gibt eine Art von Behutsamkeit, an der Gott keine Freude haben kann. Oder, daß wir es anders sagen: der Mann, der unser Textwort an die Gemeinde von Korinth geschrieben hat, der Apostel Paulus, der wollte sich nicht «fein draußen» halten; er war dabei und wollte dabei sein. Er wurde angegangen von der Sorge, und er ließ sich angehen. «Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird geärgert – und ich brenne nicht?» Von Mazedonien ruft mich im Traum der Unbekannte: «Komm herüber – und hilf!» Und ich sollte nicht helfen? Briefe kommen, Fragen, kluge Fragen, törichte Fragen – und ich sollte nicht antworten, weil meine Antworten Verstimmungen zeitigen könnten? Gefahren lauern am Weg, Feinde rotten sich da und dort zusammen, Gefahr ist auch im eigenen Lager und im eigenen Herzen. Aber ich muß tun, was ich tue; ich habe mich auf dem Weg nach Damaskus von einem überwinden lassen, der war wie ein Blitz, wie ein starkes Licht, von dem einen, der «Mensch für die Menschen» heißen darf und der Jesus und «Hilfe» heißt: in seiner Nachfolge gehen mich die Menschen an. Und gehen sie uns an, so gehen sie uns in allem an. Ihre Seele, ihr Heil, ja. Aller Leben ist unteilbar, und wer nach dem Menschen fragt, muß nach allem fragen, was im Menschen ist: Auch nach seinem Leib, nach seinem Stand, nach seinen erklärten Zielen und nach seinen verborgenen Wünschen.
Von wem sprechen wir? Von Paulus? Die Flamme will nicht erlöschen. Es wäre gut, Freunde, wir könnten sagen: wir sprechen von uns. «Wie sehen Sie das?» (so hat mich kürzlich eine ausländische Zeitschrift gefragt). «Welchen Beitrag kann ein in dieser Weltstunde lebender Christenmensch zum Gedeihen der Menschheit leisten? Christliches Gewissen – was ist das?»
Ich habe dem Fragenden bis zur Stunde noch nicht geantwortet. Aber heute mühe ich mich um eine Antwort.
Christliches Gewissen ist zuerst ein aufgeschrecktes Gewissen.
Ich habe mir – absichtlich ein wenig aus dieser unserer Gegenwart auswandernd – ein Ereignis vergegenwärtigt, das damals, vor fast fünfzig Jahren nun schon, die Welt und gerade die Christen in der Welt, stark bewegt hat, die Ältesten unter euch werden sich vielleicht noch daran erinnern: ich meine die lebten Lebenstage des Grafen Tolstoi.
Erregende Vorstellung: an einem Spätoktobertag des Jahres 1910 verläßt Tolstoi, Rußlands großer Dichter, der Gutsherr auf Jasnaja Poljana, sein Haus und flieht… Möchte fliehen. Wohin? Ins Inkognito? Ja, das auch. In die Wahrheit hinein möchte er fliehen. Nun, was die Flucht ins Inkognito anging, in die ersehnte Namenslosigkeit, so mißlang sie sogleich und gründlich. Er wurde im Zug erkannt, der Telegraphendraht tat sein Werk, und da er nun, ein Sterbender, in einem kleinen Bahnhofsgebäude seine lebten Tage durchlebte, nahm ganz Rußland teil an diesem Erdenabschied. Aber die andere Flucht, die eigentliche, die Flucht heraus aus dem Zwiespalt, dem unerträglich gewordenen, dem Zwiespalt von Rede und Tat – gelang sie ihm? Wir wissen es nicht. Wir sehen einen zu Tode erschrockenen Mann, welcher der Lüge, der schönen Lüge, entfliehen wollte. Man hat sich seine Worte gemerkt, diese in der Agonie gemurmelten Worte: «Aber die Bauern – wie sterben denn die Bauern?» Und ganz zuletzt: «In Wahrheit … ich liebe viel… wie sie …» Wie wer? Das ist nicht zu beantworten. Reden wir von Fiebervisionen? Von ekstatischer Narrheit? Genug: ein Zeichen war aufgerichtet, und man hat es nicht übersehen. Das aufgeschreckte Gewissen schrieb, einige Buchstaben nur, an die Wand der Welt.
Ja, es war, auch als das Gewissen eines einsamen alten Mannes, in Verbindung mit den Geschicken ringsumher. «Was geschieht, geht mich an.» So spricht das wache Gewissen. Wir denken nicht an die nervöse Wachheit, zu der uns unsere illustrierten Zeitungen überreden wollen, wenn sie uns für den Gesundheitszustand arabischer Herrscher oder das Herzensglück vielgenannter Künstler interessieren und uns damit abziehen von dem genau zu erkennenden Kreis unserer Verantwortung: der Welt nämlich, die uns fragt, und der wir deshalb die Antwort schulden, weil kein anderer sie geben kann als wir, gerade wir. Wir in unserer Eigenschaft als Mitbürger, als Eltern, als Schülerväter und -mütter, als Verkehrsteilnehmer, als Zeugen und Kläger wohl auch, als Abgeordnete, als Gemeindeglieder. «Wer wird geärgert – und ich brenne nicht?» Friedrich Naumann war ernstlich betroffen, in der Botschaft Jesu kein Wort über Straßen- und Wegbau zu finden: er hatte auf einer Reise durch das Heilige Land die Straßen Palästinas kennengelernt, er zog Schlüsse auf die Wegverhältnisse früherer Zeit und fragte nun: ist das Martyrium der Tiere, die auf diesen Wegen Lasten tragen und ziehen müssen, dem Herrn nie unmittelbar ins Bewusstsein gekommen? Nun war Naumann Theologe genug, sich zu seiner eigenen Frage einige Antworten hinzuzudenken, und wir sollen jetzt darauf keine Antwort suchen, das ist jetzt unsere Sache nicht. Genug, daß uns in der Frage des Mannes, stellvertretend gleichsam, die heilige Ungeduld begegnet, die sich nicht abfindet. Es begegnet uns die Phantasie der Liebe, die nicht fremde Leiden erdichtet, die aber in der «Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten» (Albert Schweizers unvergeßliche Prägung) ihren Platz und Aufgabe kennt.
Diese Aufgabe schafft unruhige Gewissen. Unruhig zuerst im Blick auf die eigene Kraft. Es ist immer der Ozean uns gegenüber, und es ist immer nur eben der Eimer in unserer Hand. Ein Ozean Aufgabe und ein Eimer Kraft, ein Ozean Leid und ein Eimer Hilfe.
Erinnert euch an eine Stunde über euerem Adressenbüchlein: ihr tragt bedachtsam und gewissenhaft – da ist nun das Wort! – einen neuen Namen ein, den sechzigsten, den siebzigsten, und ihr nehmt in Gedanken damit einen Menschen in den engeren Kreis euerer Verantwortung auf. Ihr werdet teilhaben – woran? An seinen Berufspflichten, Erfolgen und Enttäuschungen, an seinen Geburtstagen, an Todesfällen in seinem Haus, an seinen Festen … und während ihr die Adresse zu Ende schreibt, denket ihr, im Widerstreit der Empfindungen, beides zugleich: was ich mit dieser neuen Aufgabe wage, ist schon zuviel, wenn ich auf meinen Lebenstag achte, und ist noch zuwenig, wenn ich die «frierende Welt» vor Augen habe.
Das unruhige Gewissen, und unruhig aus einem zweiten Grund. Wir mühen uns um das Rechte, aber eh wir’s uns versehen, sind wir in Grenz- und Streitfälle verstrickt, in denen kaum zu erkennen ist, was nun das Rechte sei. August Winnig – ich vergesse die Abendstunde nicht, in der er mir davon sprach – war kurz vor dem Ersten Weltkrieg als Vertrauensmann seiner Bauarbeiter dazu gekommen, als Streikführer auftreten zu müssen. Er wußte, daß Streikende mit der Aussperrung zu rechnen hatten, mit Arbeitslosigkeit und Armut. Woran sollte er denken: an das Nächstliegende, an die Sicherheit, oder an das weitergesteckte Ziel? Winnig sprach von den schweren Nächten der Verantwortung und sagte: auch jetzt, aus der Entfernung von dreißig Jahren, wisse er nicht zu sagen, welche Entscheidung vor der wirklichen Wahrheit standhalte.
Es gibt einen dritten Grund. Wir alle sind in das Netz der Vergangenheit verstrickt, wir dürfen der Last unserer Geschichte nicht entrinnen. Es geht hier nicht um Theorien und Spiele. «Ich will heimsuchen die Sünden der Väter –», so steht es im Buch des Gottesbundes – und dann folgt eine Begrenzung: «bis ins dritte und vierte Glied». Daß wir konkret sprechen: nicht Bismarcks Fehler mehr, wohl aber die Verbrechen der Jahre, die wir durchlebt haben, gehören in das Geflecht unserer Mitverantwortung hinein. Christliches Gewissen ist unruhiges Gewissen um dieser Zeitgenossenschaft willen. Wenn wir zu Staatsmännern und Delegationsführern sprächen, so müßten wir wohl sagen: führt die deutsch-polnischen Verhandlungen, wo und wie und worüber ihr wollt, aber an Auschwitz und am Ghetto von Warschau dürft ihr nicht vorbeidenken. Ihr seid nicht an den Gaskammern schuld, nein. Aber ein lebendiges Gewissen hat in sich einen Mitwisser, der so genau wie sein wohlwollendes Gegenüber gedenkt und so wenig wie sein schwieriger Partner vergißt.
Und endlich, schwerer lastend nun als alles vorher Gesagte: das Gewissen des Christen ist ein unruhiges Gewissen, weil ein Christ die Schuld jedes neuen Tages sich nicht vom Herzen weglügen kann. Unsere Klugheit weiß viele Schlupfwinkel; aber unser Herz weiß Bescheid. «Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute, finde ich nicht»: im Gefängnisrund dieser Erkenntnis läuft unser Leben bis zum lebten Tag umher. Unser Ungehorsam trennt uns von dem Reich, zu dem wir berufen sind.
Und hier wäre nun alles ausweglos: keine Wähl bliebe uns als die Wahl zwischen der Hölle des ruhelosen Gewissens und der Hölle des ständig betäubten und zuletzt stumpf gewordenen Gewissens, wenn uns nicht hier, da kein guter Rat mehr helfen will, die Opfertat der Ewigen Liebe einholte, wie ein in sein Verderben Fliehender eingeholt wird. «Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird geärgert, und ich brenne nicht?» In Christus ist dieses Wort erfüllt. Seine Liebe umfaßt vom Kreuz her die Geschwächten und die Geärgerten und erreicht auch die, welche die anderen schwächen und ärgern: sie umfaßt die Klagetöchter und die Spottknechte und die Schächer, beide, den zur Rechten und den zur Linken. «Er war der Allerverachtetste.» Die alte Jesajaverheißung vom Gottesknecht geht in Erfüllung, und der Sohn wird die Versöhnung der Welt: «Die Strafe lag auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind geheilt.»
Um dieser Versöhnung willen darf christliches Gewissen – in Gehorsam und Dankbarkeit – versöhntes Gewissen sein. Vom guten, ruhigen und sicheren Gewissen ist nicht die Rede – aber das versöhnte Gewissen lebt von der Vergebung wie von Brot.
Das versöhnte Gewissen dient der Versöhnung. Kreuzzüge werden von diesem Gewissen nicht gutgeheißen: was wollen wir, etwa als «christliches Abendland» (so heißt man das ja wohl), eine Welt unterwerfen, dem Kreuz unterwerfen, die längst unterworfen, längst versöhnt ist, auch wenn sie es nicht weiß?
Der Versöhnung dienstbar: so wird an unserer Menschentür, auch an unserer Staatsmännertür nicht stehen dürfen: «so oder so», und nicht: «auf Biegen und Brechen», sondern: «In alls geduldig.»
Der zur Versöhnlichkeit Verpflichtete ist behutsam, korrigierbar, sprechbereit, des Kompromisses fähig. O düstere Welt unserer Grundsätze, o schlimmer Wortschatz unserer Unerbittlichkeit! «Hundertprozentig»: das ist ein Wort, das einer, der seine Sprache lieb hat, niemals verwenden dürfte, und einer, der die Wahrheit liebt, zweimal nicht. Im Aufgabenfeld des christlichen Gewissens, wie es gerade der heutige Tag vor Augen stellt, geht es nicht um die Siege einer Idee – Ideen sind Götzen, und wir sind nicht zum Götzendienst berufen –, sondern um erträgliche Zwischenlösungen im Zwischenland der Erde. Der Auftrag ist einfältig und allumfassend zugleich. Er lautet in der Sprache des Apostels Paulus: «Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.»
Das ist ganz unfanatisch gesprochen. Aber die leidenschaftliche Entschlossenheit aus unserem «Wer wird geärgert, und ich brenne nicht?» ist mit am Werk. «Soviel an euch ist»: das heißt: alles kommt darauf an, in diesem Dienst am Frieden der erste zu sein und nicht der zweite. Nicht der, der auf das störrische Gegenüber wartet, sondern der, der beginnt. Das haben wir oft gehört. Wir hören es heute zu Recht noch einmal und wollen den Zusatz nicht überhören: daß es bei diesem Auftrag keinen Urlaub gibt, kein Stillhalteabkommen und keine Zone, für die er nicht gilt.
Der Friede Gottes ist «höher als alle Vernunft». Der Friede unter Menschen will neben vielem, was er von uns will, gewiß auch unsere Vernunft in Pflicht nehmen. Aber über alle Vernunft hinausweisend, will er das Wagnis unserer Herzen, zu glauben an die Freiheit des Heiligen Geistes, der wirken will, wo es ihm gefällt.
In unserer Weltstunde heißt das: es gilt, die Staatsmänner, die frommen und die unfrommen, als Menschen zu sehen, die auf das Wort «Friede» nicht taktisch, sondern wirklich antworten können. Die Zuversicht hierauf, diese täglich neu angefochtene, täglich neu zu belebende Zuversicht ist – das glaube ich – eine Macht. Gibt es etwas wie eine Einübung in diese Zuversicht? Ich meine, es gibt diese eine: wir können an dem Teppich des Friedens weben, an jeder, jeder Stelle, die uns in die Hand kommt, wohl wissend, daß bei diesem Gewebe alle Teile mit allen Zusammenhängen: deine Frau und das fremde Land, dein Parteigänger und dein Vater, dein Chef und Israel.
Ist das alles zu persönlich gesprochen? Es kann immer nur persönlich gesprochen werden. So bleibe ich in der Tonart, in der ich anfing, indem ich zum Schluß sage, wie ich diesen Tag begonnen habe. Idi meinte, es sei gut, nicht vieles, sondern eines zu bedenken. So dachte ich in der Frühe dieses Tages an eines: an die Stadt Hiroshima. Und über dem Denken erneuerte ich in mir die Bitte des Franziskus von Assisi: «Herr, mach aus mir ein Werkzeug deines Friedens.»
(Aus: «Hagar am Brunnen.» Fischer-Bücherei)
Quelle: Neue Wege: Beiträge zu Religion und Sozialismus, Band 52 (1958), Heft 6, S. 161-165.