Gerhard von Rad, Predigt über Josua 5,13-15 und Psalm 31,9: „Es gibt ja einen Bann, der um uns Menschen liegt, eine Blindheit für die anderen, die ist furchtbar. Und sie weicht nur, wo uns Gott in seine Freistatt hinausführt und wo er uns wissen läßt »sein herrlich Recht«: Da erst werden die Menschen freier und wissender, da erst sehen sie den anderen nicht nur im Freund-Feind-Schema, da erst, so könnte man ganz einfach sagen, werden sie menschlicher.“

Aus Anlass des 50. Todestages von Gerhard von Rad seine Predigt über Josua 5,13-15 von 1968:

Predigt über Josua 5,13-15 und Psalm 31,9

Von Gerhard von Rad

Und es begab sich, als Josua bei Jericho war, daß er seine Augen aufhob und gewahr wurde, daß ein Mann ihm gegenüberstand und ein bloßes Schwert in seiner Hand hatte. Und Josua ging zu ihm und sprach zu ihm: Gehörst du zu uns oder zu unseren Feinden? Er sprach: Nein! sondern ich bin der Fürst über das Heer des Herrn und bin jetzt gekommen. Da fiel Josua auf sein Angesicht zur Erde nieder, betete an und sprach zu ihm: Was sagt mein Herr seinem Knecht? Und der Fürst über das Heer des Herrn sprach zu Josua: Zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn die Stätte, darauf du stehst, ist heilig. Und so tat Josua.

In die Predigt ist auch eingeschlossen ein Wort aus dem 31. Psalm (V 9):
Du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt.

Liebe Gemeinde! Vielleicht ist es ein Wagnis, eine kleine und noch dazu so unbekannte biblische Geschichte als Predigttext herauszu­greifen und bei der Gemeinde von vornherein das Einverständnis vorauszusetzen, daß sie das Erzählte unmittelbar angeht. Für viele verbindet sich ja mit solchen biblischen Geschichten die Vorstellung von etwas Frommem, aber im Grunde unglaublich Lebensfernem, das allenfalls der träumerischen Vorstellungswelt von Kindern angepaßt ist. Und das hieße dann doch: die Vorstellung von etwas zutiefst Unwahrem, Unwirklichem. Ach, wäre es doch unseren Dich­tern, aber auch unseren Zeitungsleuten und Politikern nur ein wenig gegeben, in ihrer Sache und in ihrer Sprache auch so nahe an der wahren Wirklichkeit des Menschen zu bleiben und ihr standzuhalten, wir müßten nicht in einem solchen geistigen Qualm leben, in dem keiner den andern mehr sieht. Das heißt nicht, daß sie nun alle fromm daherreden sollten. Gott bewahre uns davor! Genau das tun ja die biblischen Geschichten auch nicht. Sie berichten in einer Nüchternheit, Gerafftheit und Sachlichkeit, in einer Sachnähe, die all unserem oft so kraftlosen Sagen und Schreiben unerreichbar erscheint, – sie berichten von Widerfahrnissen von Menschen, in deren Leben Gott eingebrochen ist, von Menschen, die alle ein gerüttelt Maß von Gottesfeme in sich tragen, genau so tief einge­sponnen in ihr ichbezogenes Wesen wie wir alle, von Furchtsamen und Selbstgerechten, von Anständigen und Unanständigen, von Maßlosen und Verbohrten.

Jede dieser Erzählungen hat etwas unverwechselbar Eigenes. Und seht, dämm hören wir nicht auf, diese Geschichten zu lesen und zu bedenken, weil uns da etwas Merkwürdiges widerfährt. Es ist ja nicht so, daß wir diese Geschichten mit einigen Künsten zu uns herüber holen. Umgekehrt ist es: sie holen uns zu sich herein, weil in jeder von ihnen etwas von uns drinnen ist. Damit müßte also jede Betrach­tung einer solchen Geschichte schließen, mit der überraschten Fest­stellung: da war ja von uns die Rede! Und je unbekannter so eine Geschichte ist, um so schöner ist diese Entdeckung.

Nein, eine Kindergeschichte ist das nicht. Wir wollen froh sein, wenn sie uns Erwachsenen nicht zu viel zumutet. Fangen wir doch mit einer sehr weltlichen Feststellung an, daß nämlich diese Geschichte gerade in ihrer ungeheuren Gerafftheit eine eigentümliche Schönheit hat. Die, die etwas von Literatur verstehen, wissen, hier ist erzählt, wie man nur in ganz alten Zeiten erzählen konnte. Jeder Satz wie gemeißelt in seiner Kontur, und dazwischen wieviel Raum für das Geheimnis! Da ist der Mann Josua, der Nachfolger des Mose, offenbar ein kriegerischer Draufgänger. Da ist der Ort, nahe bei Jeri­cho, und da ist vor allem der geheimnisvolle andere, der mit dem Schwert in der Hand, dessen Josua plötzlich gewahr wird, als er seine Augen aufhebt. Und das ist auch schön, wie Josua auf ihn zugeht und ihn männlich auffordert, sein Visier zu lüften. Und dann der Dialog zwischen den beiden. Was für Räume werden in dieser Hand voll Sätzen durchmessen! Das ist freilich klar, daß Josua das Gespräch mit der falschesten aller Fragen begonnen hat. Aber gerade darin ist Josua ganz einer der unseren. Darin spricht er für uns alle, daß er sofort fragt: Freund oder Feind? Wie tief sitzt er in seinem im Grunde heillosen Freund-Feinddenken gefangen! Er kennt nur dieses Entweder-Oder: Bist du mein Feind, so schlag ich dich nieder; bist du mein Freund, so stehst du mit mir gegen meine Feinde. Aber so läßt sich der andere nicht einordnen. Auf die Frage: Freund oder Feind antwortet er mit einem hintergründigen Nein. Er kommt aus der Welt Gottes, aus einer Dimension, in der man nicht in dieser heillosen Alternative, in der man ganz anders über Menschen denkt. Das zwingt Josua in die Knie. Man hat das Gefühl, er sei mit einem Schlag matt gesetzt mit all dem, was er sich unter einer Begegnung vorstellen konnte. Auf seine Frage, was er denn nun zu tun habe, gibt der andere eine sehr merkwürdige Antwort: »Zieh deine Schuhe aus, denn die Stätte, da du stehst, ist heilig.« Und dann schließt die Geschichte mit dem kurzen Satz, daß Josua den Befehl befolgt habe. Er hat die Heiligkeit des Ortes sofort anerkannt.

Eine sehr merkwürdige Geschichte! Offenbar war sie für die Alten interessant, wahrscheinlich sogar aufregend. Aber wir wollen uns nichts vormachen: die kleine Erzählung hat ja noch nicht einmal angefangen, zu uns zu sprechen. Offenbar geht es um etwas, das Josua unbedingt wissen muß und von dem er noch nichts weiß: daß er sich gerade jetzt an einer heiligen Stätte befindet. Aber was ist das denn, so fragen wir etwas hilflos, eine heilige Stätte? Ja, liebe Gemeinde, so kann, so muß wohl ein moderner Mensch fragen, obschon die Generationen von Jahrtausenden ihn verständnislos anschauen. Könnten wir jetzt zusammen aus den dunklen, engen, muffigen Basargassen der Jerusalemer Altstadt hinaufsteigen zum Tempelplatz und diesen Gegensatz erleben! Mit einem Schlag, wel­che Weite, welches Licht, welche Freiheit, was für eine Raumver­schwendung. Heilige Stätte, das war den Alten ein Ort, wo allein Gott der Herr ist; eine Freistatt, wo Gott sein Recht setzt, und wo nur das gilt, was er vom Menschen denkt und wo all das außer Kurs gesetzt ist, was die Menschen von sich aus über einander denken. Wenn es Gott gefiel, konnte er sogar über einen Verbrecher seine Hand halten. Sich plötzlich an so einer Stätte vorzufinden, mußte etwas Beunruhigendes gehabt haben. Von Jakob wird ja etwas ganz Ähnliches erzählt. Da heißt es, als er die Nacht in Bethel zugebracht hatte, sogar, er habe sich gefürchtet und gesagt: wie unheimlich, wie schauerlich ist diese Stätte, hier ist die Pforte des Himmels. Liebe Gemeinde, kein Volk hat so viel von dem gewußt, was alles der Mensch verkraften muß, wenn Gott ihm nahekommt, wie das alte Israel, was alles der Mensch verkraften muß, wenn er nur ein wenig von dem erfährt, wie Gott über ihn denkt. Und doch hat dieses Volk schließlich gesagt: ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend.

Was haben wir nur angestellt, daß das so gar nichts Erregendes mehr für uns hat, mit einemmal in die Freiheit des Urteils Gottes hinausge­stellt zu sein. Wo ist da noch bei uns das Schaudern Jakobs oder das Glücksgefühl des Psalmisten? Ein anderer Psalmist hat das, was ihm an einer heiligen Stätte widerfahren ist, in dem unvergeßlichen Wort zusammengefaßt: »Du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt.« Was für ein Aufatmen! Er hat diese Worte fast geschlürft. Es ist fast zum Neidischwerden. Wo, wo ist denn für unsere Füße der weite Raum? Die heiligen Gebäude allein tun’s ja nicht. In den herrlich­sten unserer Dome sieht man heute mehr Touristen als Gläubige. Haben die recht, die sagen, die Zeit dieser Kirchen und dieser Gottesdienste gehe zu Ende, und im Zug der sozialen Wandlungen seien ganz neue Formen des Christseins und auch des christlichen Feierns im Kommen? Vielleicht müssen wir wirklich dem ins Auge sehen, daß sich da vieles wandelt. Aber das laßt mich sagen: Ihr, die ihr ans Morgen denkt und vielleicht schon an neuen Formen für unsere Gottesdienste arbeitet, – seid vorsichtig, daß ihr den weiten Raum nicht verderbt, den weiten Raum, über den Gott seine Hand halten will, um uns da einmal ganz für sich zu haben. Ja freilich, Gott sei es geklagt, es gibt unter den Christen oft so viel mehr Enge als weiten Raum zu spüren. Es fallen Worte in unseren Gottesdien­sten, die haben ihre Valuta verloren. Merkwürdige Sache – Worte, die einst die höchsten Inhalte des Glaubens umschlossen haben, sind kraftlos geworden und fallen zur Erde, ehe sie uns getroffen haben. Aber das, was die Apostel und Propheten doch offensichtlich als etwas Aufregendes unter die Menschen geworfen haben und das von ihren Hörern auch so empfunden wurde, das darf doch nicht zu ausgeleierten Redensarten werden, von denen sich jeder geistig wache Mensch mit Recht abwendet. Aber daran sind nicht die alten gottesdienstlichen Formen schuld, sondern viel mehr unsere geistige Engbrüstigkeit. Es scheint ja fast, als seien die Dinge der Bibel zu groß für uns, um noch in Einfalt nachgesprochen werden zu können. Da ist der Lobpreis, den uns die Liturgie immer wieder anbietet. Hand aufs Herz! Hätten wir ihn aus eigenem Impuls von uns aus angestimmt? Ich glaube nicht. Die Worte werden uns von der Ordnung der Liturgie förmlich in den Mund geschoben. Aber wenn wir sie vielleicht auch ein wenig ungeschickt und verlegen gesungen haben, – das wußten die Alten noch: in diesem Augenblick sind wir Schulter an Schulter gestanden mit allen denen, die uns voraufge­gangen sind und die schon vor Gottes Thron stehen, und neben allen denen, die überall in der Welt Gott anbeten. Ist das nicht weiter Raum! Ein paar Atemzüge im Lobpreis getan zu haben, und das würde doch heißen, ein paar Atemzüge für Gott dagewesen zu sein und nicht für uns; einmal das ausgesprochen zu haben, wozu wir die ganze Woche über den Mund nicht aufbringen: daß Gott eben doch recht hat in allem, was er tut, und daß er herrlich ist über unser Verstehen.

Nein, schlimmer könnten wir das alles nicht mißverstehen, als wenn wir glaubten, wir müßten uns in diesem weiten Raum verfälschen. Was meint ihr, wie es an diesen heiligen Orten im alten Israel ausge­sehen hat! Da waren Deklassierte, die aus der streng gebundenen Gemeinschaftsform herausgefallen waren oder die überhaupt nie hineingefunden hatten und die an der Verzweiflung entlang lebten; da waren entflohene Sklaven aus dem Ausland, da waren auch – ein bißchen unheimliche Gestalten! – religiöse Enthusiasten, um die man gern einen Bogen machte, und sogar Verbrecher, die in den Frieden des Asyls geflohen waren. Und doch stand nun jeder unter dem Schutz Gottes und war in einen Frieden eingewiesen, der höher ist als alle Vernunft. So sah es an diesen heiligen Orten damals aus. Nicht so arg heilig, aber Hilfe war da, wirkliche Hilfe für bedrängte Menschen. Wiegt das nicht mehr? Und Hilfe wodurch? Nur durch einen Machtspruch Gottes und dadurch, daß Menschen diesen Machtspruch gehört und ihm Raum gegeben haben. Es ist wie bei dem Hausvater im Gleichnis von dem großen Abendmahl, er spricht: hier bin ich der Herr; es ist Raum genug, weiter Raum für solche, die die Menschen unmöglich von sich aus unter einem Dach zusammenbrächten.

Ach, wenn doch jetzt und hier in diesem Sinne das Evangelium bei uns wieder aktuell, und das würde heißen, zu einer ganz realen Hilfe für das Zusammenleben der Menschen würde! Da müßten freilich wir den Anfang machen mit dem Verwundern darüber, daß es so eine Hilfe sein kann. Über unser Leiden wissen unsere Denker und Dichter und Sozialkritiker ausgezeichnet Bescheid zu geben. Zu all dem, was seit Urzeiten auf dem Menschen liegt, ist nun noch ein schreckliches geistiges Unbehaustsein über die Menschen gekom­men. Die einen suchen noch irgendeine Form der Geborgenheit, die anderen haben das ganz aufgegeben. Und weil keiner einen Ruheort hat, verdächtigt einer den anderen, er hätte sich einen erschlichen, womöglich auf Kosten der anderen. Die Jungen finden sich in der Vorstellungswelt der Alten nicht mehr zurecht und die Älteren sehen in dem Aufbruch der Jungen etwas Zerstörerisches. Weiß Gott, jetzt bedürften wir jener Freistatt, jenes weiten Raumes, in dem wir über das Freund-Feinddenken hinausgehoben wären!

Zwei Fragen, so erinnert ihr euch, hat Josua gestellt. Die erste Frage, das war die ungeschickte: »Freund oder Feind?« Dann aber fragte Josua: »Was hat mein Herr seinem Knecht zu sagen?« Das klingt schon anders. Er fragt jetzt nach dem Willen Gottes. Und doch frage ich mich: greift das noch, kommt das noch an, wenn ich jetzt sagen würde: Im Hören auf das Wort Gottes würde sich uns dieser weite Raum eröffnen? Lieber Josua, dieser dein Satz »Was hat mein Herr seinem Knecht zu sagen?« ist sicher ein großartiger Satz, aber hast du das nicht doch fast ein bißchen zu schön, ein bißchen zu richtig gesagt? Im Gesangbuch steht auch irgendwo: »Mir ist nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun.« Das klingt uns auch ein bißchen zu überschwenglich. Lieber Josua, weißt du denn gar nichts von dem, was sich alles in uns querlegt, wenn wir auf Gott hören sollen? Weißt du denn nicht, daß jeder von uns wie in einem zemen­tenen Turm sitzt mit schmalen Luken, die wir lieber als Schieß­scharten benutzen als um hinauszuhorchen. Ja, wie soll ich auf diese Fragen antworten? Vielleicht hat Josua wirklich noch längst nicht alles gewußt von dem ungeheuren Leidensweg des Wortes Gottes bei den Menschen von Josua hin zu Jesus Christus, den sie aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen haben, und von Jesus Christus ab bis auf unsere Tage. Die einen haben das Wort Gottes auf ihre Fahne geschrieben und sind mit ihm wie mit einem Programm losgezogen, zum Angstkriegen! Die anderen haben es wie jener judäische König gemacht, dem man die Botschaft des Propheten Jeremia vorlas und der ein Messer nahm und Seite um Seite zerschnitten und ins Feuer geworfen hat. Mißbrauch zur Rechten und Mißbrauch zur Linken. Und dieses Wort ist nun doch seinen Weg gegangen, und manchmal ließ sich sogar so ein Gewapp­neter sehen, der mit dem Schwert auf die Stätte hinwies, an der uns Gott weiten Raum lassen wollte. Als wir jung waren und als Studenten die Hörsäle besuchten, da wurden die Christen ja auch schon von der Frage umgetrieben: Wie verhält sich eigentlich der Glaube zur Wissenschaft? Steht er nicht einer freien Entfaltung der Wissenschaften im Wege? Zehn Jahre später bekamen wir die Antwort. Das war in der Hitlerzeit, als die Flut der Parolen wuchs und selbst die Wissenschaft anfing, erst ganz fein und dann immer gröber, sich politisch dirigieren zu lassen. Und nun zeigte sich etwas Merkwürdiges: die Christen, die man immer ein wenig über die Achsel angesehen hatte, zeigten sich viel freier. Nein, nicht nur in ihrem Innenleben, nicht durch eine »innere Emigration«. In den Universitäten, in ihren Wissenschaften waren sie viel freier. Die Historiker, die Juristen konnten jeder in seinem Fach, ordentlicher, sauberer arbeiten. Ihnen war in all der großen Betörung der weite Raum gelassen. Die Wissenschaft im Schutz der Kirche! Das war das Letzte, was wir erwartet hatten. Auch das machte uns nachdenklich, daß nämlich die Freiheit zum Denken und zum Forschen gar nichts Selbstverständliches ist, das sich der Mensch nur zu nehmen braucht. Auch das muß Gott geben. Ach, immer muß er uns bergen vor unserem eigenen Wahn. Sonst bleiben wir gefangen in unseren kleinen oder großen Besessenheiten.

Und nun laßt es mich endlich gerade heraus sagen: wo immer uns so etwas widerfährt, wo Gott uns gegen unsere eigene unselige Art in Schutz nimmt, da ist – und das ist nicht im religiösen Überschwang geredet – eine heilige Stätte; denn da geschieht etwas an uns, das wir uns nie aus eigenem noch so guten Willen selber geben können. Es gibt ja einen Bann, der um uns Menschen liegt, eine Blindheit für die anderen, die ist furchtbar. Und sie weicht nur, wo uns Gott in seine Freistatt hinausführt und wo er uns wissen läßt »sein herrlich Recht«: Da erst werden die Menschen freier und wissender, da erst sehen sie den anderen nicht nur im Freund-Feind-Schema, da erst, so könnte man ganz einfach sagen, werden sie menschlicher. Durften wir das nicht in manchen Gesprächen, auf den Kirchentagen etwa, erfahren, daß man da doch anders miteinander sprechen, anders aufeinander hören konnte? Ach, da war auch nicht eitel Einigkeit. Aber es waren doch immer wieder Gespräche möglich, bei denen beide Partner wußten, daß Gott sie gegen ihren eigenen Fanatismus schützen mußte. Und es waren Gespräche möglich — wie soll ich es ausdrücken -, über denen die Ahnung lag, daß vor Gott mein Irren und dein Irren im Grunde schon in Ordnung gebracht und überholt ist. Vielleicht treten wir in eine Zeit ein, in der wir menschlich mitein­ander nur noch da sprechen können, wo Gott seine Hand über unsere Gespräche hält.

Soll ich zum Schluß schnell noch sagen, was ich an dieser Erzählung als besonders tröstlich empfinde? Es ist dies, daß der Engel den Josua nicht beschwört: Schützt diesen Ort! Etwas Kostbares ist jetzt in eure Hut gegeben, eine große Verantwortung liegt auf euch! Es ist doch vielmehr, als spräche er: alles, was diesen Ort anlangt, das laßt nur Gottes Sache sein. Er wird eure Füße schon auf seinen weiten Raum stellen, nicht nur bei Jericho, immer wieder, wo es ihm gefällt. Ihr sollt es ihm nur zutrauen und von ihm erwarten. Dann aber, wenn euch so etwas widerfahren ist, sprecht im Stillen einen Lobpreis, denn da war in unserer verworrenen Welt eine heilige Stätte. Amen.

Predigt am 28. Januar 1968 im Universitätsgottesdienst in Heidelberg.

Quelle: Gerhard von Rad, Predigten, hg. v. Ursula von Rad, München: Chr. Kaiser, 2. A., 1978, 154-160.

Hier die Predigt als pdf.

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