Geleitwort zu „Die chassidischen Bücher“
Von Martin Buber
Franz Rosenzweig gewidmet
Ehe ich dieses Buch in die Weh gehen lasse, überdenke ich noch einmal, wodurch wohl der Chassidismus so in mein Leben gegriffen hat, daß ich ein großes Stück davon ihm hergeben mußte.
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Dreiundzwanzig Jahre, ehe der Baalschem geboren wurde, starben, in kurzem Abstand, zwei denkwürdige Juden; beide gehörten der jüdischen Gemeinschaft nicht mehr an, der eine, der Philosoph Baruch Spinoza, durch den Bannspruch der Synagoge, der andre, der „Messias“ Sabbatai Zwi, durch den Übertritt zum Islam. Diese beiden Männer bezeichnen eine spätexilische Katastrophe des Judentums, Spinoza die im Geist und in der Einwirkung auf die Völkerwelt, Sabbatai Zwi die im Leben und in der innern Struktur. Wohl ist Spinoza ohne geschichtserheblichen Einfluß auf das Judentum geblieben, aber er gehört doch in dessen Geschichtsgang, und auf eine wesentliche Weise; denn wie Sabbatais Abfall die historische Infragestellung des jüdischen Messianismus bedeutet, so Spinozas Lehre die historische Infragestellung des jüdischen Gottesglaubens. Beide führen damit einen Prozeß zum Abschluß, der mit einer einzigen geschichtlichen Erscheinung, mit der Jesu, angehoben hatte. Beiden gibt ein neuer Prozeß die Erwiderung und Berichtigung, der mit einer einzigen geschichtlichen Erscheinung, mit der des Baalschem, anhebt.
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Die große Tat Israels ist nicht, daß es den einen wirklichen Gott lehrte, der Ursprung und Ziel alles Wesens ist, sondern daß es die Anredbarkeit dieses Gottes als Wirklichkeit zeigte, das Dusagen zu ihm, das Mit-ihm-Angesicht-in-Angesicht-Stehn, den Umgang mit ihm. Freilich gibt es überall, wo es den Menschen gibt, auch das Gebet, und so ist es wohl von je gewesen; aber erst Israel hat das Leben als ein Angesprochenwerden und Antworten, Ansprechen und Antwortempfangen verstanden, vielmehr eben gelebt. Freilich wollen in allen Menschheitsschichten Mysterienkulte in einen, scheinbar so viel intimeren, Verkehr mit der Gottheit einführen; aber wie überall, wo es um Ausnahmezustände statt um den gelebten All-Tag geht, ist hier in dem als das Göttliche Empfundenen nur das menschgeborne Gebild einer Teilerscheinung des wirklichen Gottes, der Ursprung und Ziel alles Wesens ist, zu gewahren:
Der kleine Finger seiner linken Hand
Wird Pan genannt.
Gott in aller Konkretheit als Sprecher, die Schöpfung als Sprache: Anruf ins Nichts und Antwort der Dinge durch ihr Erstehn, die Schöpfungssprache dauernd im Leben aller Kreatur, das Leben jedes Geschöpfs als Zwiegespräch, die Welt als Wort, – das kundzugeben war Israel da. Es lehrte, es zeigte: der wirkliche Gott ist der anredbare, weil anredende, Gott.
Jesus – wohl nicht der tatsächliche Mensch Jesus, aber das Jesusgebild, wie es in die Seele der Völker trat und sie änderte – ließ Gott nur noch im Anschluß an ihn, den Christus, anredbar sein; das Menschenwort nur noch von ihm als dem Logos mitgetragen zu dem hindringen können, der Ursprung und Ziel alles Wesens ist; der „Weg“ zum Vater ging nur noch durch ihn. In dieser Abwandlung empfingen die Völker Israels Lehre vom anredbaren Gott. Es ergab sich, daß sie an seiner Stelle den Christus anreden lernten.
Spinoza unterwand sich, Gott seine Anredbarkeit zu nehmen. Man meine nicht, sein deus sive natura sei „ein anderer Gott“ gewesen. Er selber meinte keinen andern als den er als Knabe angeredet hatte, den eben, der Ursprung und Ziel alles Wesens ist; er wollte ihn nur vom Makel der Anredbarkeit reinigen. Der Anredbare war ihm nicht rein, nicht groß, nicht göttlich genug. Der fundamentale Irrtum Spinozas war, daß er in der Lehre Israels nur eine Lehre vom Personsein Gottes gegeben wähnte und sich gegen sie als eine Minderung der Göttlichkeit stellte. Aber die Wahrheit der Lehre ist das Auchpersonsein Gottes, und sie ist aller unpersonhaften, unanredbaren „Reinheit“ Gottes gegenüber eine Mehrung der Göttlichkeit. Salomo, der den Tempel baut, weiß, daß Gott im Licht erscheint, aber im Dunkel west, daß ihm alle Himmel nicht zulangen und er sich doch eine Wohnung inmitten der ihn An redenden kürt, daß er also beides ist, so der Schranken- und Namenlose als der Vater, der seine Kinder ihn anrufen lehrt; Spinoza weiß nur: Person oder Nichtperson, er stürzt Person als einen Götzen und verkündet die aus sich seiende Substanz, zu der Du zu sagen Tollheit oder schlechte Lyrik wäre.
Wie wenig auch das spätexilische Judentum von ihm erfuhr: damit ist etwas vom Judentum aus in die Völker hinein geschehen, und was geschah, ist von seiner Herkunft nicht abzulösen. Etwas vom Innersten Israels war, wie auch abgewandelt, einst durchs Christentum in die Völkerwelt eingedrungen; es ist großer Sinn, daß nur ein Jude es hinwegtun lehren konnte; ein Jude hat es getan. Spinoza half dem Geist der Geistigen unter den Völkern, sich von jenem Eingedrungnen zu befreien; die Tendenz des abendländischen Geistes zum monologischen Leben wurde durch ihn entscheidend befördert– und damit die Krisis des Geistes überhaupt, als der in der Luft des monologischen Lebens glorreich verdorren muß.
Der Baalschem hat von Spinoza vermutlich nichts gewußt; dennoch hat er ihm die Erwiderung gegeben. In der Wahrheit der Geschichte kann einer erwidern, ohne gehört zu haben; er meint, was er sagt, nicht als Erwiderung, aber es ist eine. Und daß die Erwiderung des Baalschem nicht zur Kenntnis der Geister gelangte, welche die Rede Spinozas vernahmen, auch das beeinträchtigt nicht ihre Bedeutung; in der Wahrheit, der Geschichte gilt auch das unbekannt Gebliebne.
Um diesen ersten Erwiderungscharakter der chassidischen Botschaft deutlich zu machen, muß ich auf ein Grundmotiv Spinozas hinweisen, das mit jenem einer „Reinigung“ Gottes eng verknüpft ist, aber einer noch tieferen Schicht der Geistesseele anzugehören scheint.
Der wirkliche Umgang des Menschen mit Gott hat an der Welt nicht bloß seinen Ort, sondern auch seinen Gegenstand. Gott redet zum Menschen in den Dingen und Wesen, die er ihm ins Leben schickt; der Mensch antwortet durch seine Handlung an eben diesen Dingen und Wesen. Aller spezifische Gottesdienst ist seinem Sinn nach nur die immer erneute Bereitung und Heiligung zu diesem Umgang mit Gott an der Welt. Aber es ist eine Urgefahr, wohl die äußerste Gefahr und Versuchung des Menschen, daß sich von der menschlichen Seite des Umgangs etwas ablöst und verselbständigt, sich rundet, sich scheinhaft zur Gegenseitigkeit ergänzt, sich an die Stelle des wirklichen Umgangs setzt. Die Urgefahr des Menschen ist die „Religion“. Das sich so Verselbständigende können die Formen sein, in denen der Mensch die Welt Gott zuheiligte, das „Kultisch-Sakramentale“; nun sind sie nicht mehr Weihung des gelebten All-Tags, sondern seine Ablösung; Weltleben und Gottesdienst laufen unverbindlich nebeneinander her; aber der „Gott“ dieses Dienstes ist nicht mehr Gott, es ist der bildsame Schein – der wirkliche Partner des Umgangs ist nicht mehr da, die Gebärden des Verkehrs schlagen in die leere Luft. Oder das sich Verselbständigende können die seelischen Begleitumstände des Umgangs sein, die Andacht, die Ausrichtung, die Versenkung, die Verzückung; was in die Bewährung an der Fülle des Lebens zu münden bestimmt und angewiesen war, wird von ihr abgeschnitten; die Seele will nur noch mit Gott zu tun haben, als wollte er, daß man die Liebe zu ihm an ihm und nicht an seiner Welt ausübe; nun meint die Seele, die Welt sei zwischen ihr und Gott versunken, aber mit der Welt ist Gott selber versunken, nur sie allein, die Seele, ist da, was sie Gott nennt, ist nur ein Gebild in ihr, was sie als Dialog führt, ist ein Monolog mit verteilten Rollen, der wirkliche Partner des Umgangs ist nicht mehr da.
Spinoza lebte in einer Zeit, in der die seelische und kultische Verselbständigung sich wieder einmal zusammentaten. Seiner Gottentfremdung innegeworden, suchte das Abendland nicht etwa, seinem Weltleben die Richtung auf Gott zu geben, sondern einen weltfreien Verkehr in mystischer und sakramentaler Exaltation mit ihm anzuknüpfen; jene reizvolle Fiktivität des Barock ist der künstlerische Niederschlag dieses Unterfangens. Es ist aus Spinozas geistiger Haltung zu erkennen, daß solcher vorgebliche Verkehr für ihn das eigentlich Unreine war. Nicht außer der Welt, sondern nur in ihr selber kann der Mensch das Göttliche finden; diese These setzt Spinoza der seiner Zeit geläufig gewordenen Zweiteilung des Lebens entgegen. Das tut er aus einem urjüdischen Antrieb; aus dem gleichen ist einst der Protest der Propheten gegen den verselbständigten Opferkult entstanden. Aber sein Angriff schwingt über dessen rechtmäßigen Gegenstand hinaus; mit dem weltfreien Verkehr wird ihm aller personhafte Verkehr mit Gott unglaubhaft; die Einsicht, daß Gott nicht neben der unreduzierten Lebenswirklichkeit her angeredet werden kann, weil er eben in ihr anredet, verkehrt sich ihm in die Ansicht, es gebe keine Rede zwischen Gott und dem Menschen; aus dem Ort der Begegnung mit Gott wird ihm die Welt zum Ort Gottes.
Daß die chassidische Botschaft, obgleich ihre Sprecher und Hörer nichts von Spinoza wußten, als eine Erwiderung an ihn verstanden werden darf, kommt daher, daß sie das Bekenntnis Israels auf eine neue Weise aussprach, und zwar auf eine, durch die es zur Erwiderung wurde. Von alters her bekannte Israel, daß nicht die Welt Gottes Ort, sondern Gott „der Ort der Welt“ ist, und daß er doch ihr „einwohnt“. Der Chassidismus sprach diesen Ursatz neu aus, nämlich ganz praktisch. Durch die Welteinwohnung Gottes wird die Welt – allgemein-religiös gesprochen – zum Sakrament; sie könnte es nicht, wenn sie Gottes Ort wäre: nur eben dies, daß der ihr überseiende Gott ihr doch einwohnt, macht sie zum Sakrament. Aber das ist keine objektive Aussage, die unabhängig vom gelebten Leben der Menschenperson zu Recht bestünde, noch weniger freilich eine in der Subjektivität allein beschloßne; sondern in der konkreten Berührung mit dem Menschen wird die Welt je und je sakramental. Das heißt: in der konkreten Berührung ihrer Dinge und Wesen mit diesem Menschen, dir, mir. Die Dinge und Wesen, in denen allen Funken des Göttlichen wohnen, werden diesem Menschen zugereicht, daß er in der Berührung mit ihnen die Funken erlöse. Dieses, daß einem die Dinge und Wesen so in ihrer sakramentalen Möglichkeit zugereicht werden, ist das Dasein des Menschen in der Welt. Das ist also nicht wie die Spinozas eine jenseits des gelebten Lebens und des zu sterbenden Todes, meines und deines, beharrende Welt, sondern es ist das Weltkonkretum dieses Personaugenblicks, bereit, Sakrament zu sein, bereit, wirkliches Erlösungsgeschehen zu tragen. Es ist das Zugereichte, das Zugefügte, das Angebotne; es ist das, worin Gott mich anredet und worin er die Antwort von mir empfangen will.
Draußen bleibt das Selbstgenügen der Seele, die ihren versponnenen Selbstverkehr mit dem wahren Zwiegespräch im All-Licht verwechselt; Gott setzt sich nicht über seine Schöpfung hinweg. Draußen aber bleibt auch die metaphysische Konstruktion des Geistes, der meint, ins Sein sehen zu können, indem er von der gelebten Situation absieht, und von Gott reden zu können wähnt, als säße der seiner Begriffsbildung Modell und bärge sich nicht vielmehr im „Drum und Dran“ eben dieses denkerischen Augenblicks, durch keinen Begriff abzubildendes Geheimnis, und doch im Konkretum der Situation erscheinend, ansprechend, sich erbietend – und im metaphysischen Absehn antwortlos verworfen.
In dieser Grundhaltung, dem tätigen Annehmen Gottes in den Dingen, ist die chassidische Botschaft ein Vollzug und eine Ausweitung der vorzeitlichen Weisung Israels. Ein Vollzug; jenes „Werdet heilig, denn heilig bin ich“ erweist sich ja in allem Bereich des Gesetzes als ein Gebot nicht einer Abheiligung des Menschen von den Dingen hinweg, sondern einer Zuheiligung der Dinge durch den Menschen, als seines Dienstes an der Schöpfung. Aber doch auch eine Ausweitung. So ist etwa das Opfer im alten Israel das kultische Geschwister des Mahls, das ohne es nicht bestehen kann, die Darheiligung eines Teils ebenderselben organischen Materie, deren Rest dem Menschen zur Ernährung zufällt; aber im chassidischen Leben ist das Essen selber sakramentaler Dienst geworden: an tierischem und pflanzlichem Wesen geschieht durch die geheiligte Aufnahme zur Speise die funkenemporhebende Erlösung der Kreatur. Greift hier noch des Gesetzes Scheidung zwischen reinen und unreinen Tieren abgrenzend und beschränkend ein, so wird in der Erstreckung der Heiligung auf allen Gebrauch die Abtrennung eines grundsätzlich der Heiligung entzogenen Bezirks der Natur grundsätzlich überwunden: alles, was der Menschenperson zum Gebrauch zugeteilt ist, von Vieh und Baum zu Acker und Gerät birgt Funken, die durch diesen Menschen erhoben werden wollen, die im heiligen Gebrauch von diesem Menschen erhoben werden; und noch Begegnungen mit fremden Dingen und Wesen in der Fremde meinen heilige Tat.
Aber nicht bloß durch die Welt geht keine grundsätzliche Scheidung mehr: auch durch die Seele des Menschen. Wie die Dinge und Wesen, mit denen einer zu schaffen bekommt, ihm zugereicht worden sind, so auch, was an Vorstellungen, an Gedanken, an Wünschen mit dem Anschein der Fremdheit in die Seele fällt. In all dem schwingen Funken, die vom Menschen erlöst werden wollen. Nichts ist ja an sich unheilig, nichts an sich böse; was wir das Böse nennen, ist nur das richtungslose Stürzen und Stürmen der erlösungsbedürftigen Funken, die „Leidenschaft“ – also ebendieselbe Kraft, die, wenn sie mit Richtung, der Einen Richtung, begabt worden ist, das in Wahrheit Gute, den wahren Dienst, die Heiligung hervorbringt. So gibt es denn in der Seele des Menschen nicht mehr qualitativ gesondert das Weltliche und das Geistliche nebeneinander, es gibt nur noch die Kraft und die Richtung. Wer sein Leben zwischen Gott und Welt teilt, indem er der Welt „das Ihre“ gibt, um Gott „das Seine“ zu retten, der verweigert Gott den geheischten Dienst, das richtungverleihende Wirken an aller Kraft, die Heiligung des Alltags an der Welt und der Seele.
In der chassidischen Botschaft ist die Trennung vom „Leben in Gott“ und „Leben in der Welt“, das Urübel aller „Religion“, in echter, konkreter Einheit überwunden. Aber auch der falschen Überwindung durch die abstrakte Aufhebung des Unterschieds zwischen Gott und Welt ist hier die Erwiderung gegeben. Unter vollkommener Wahrung der Weltentrücktheit und Weltüberlegenheit des doch welteinwohnenden Gottes ist hier die breschenlose Ganzheit des Menschenlebens in ihren Sinn eingesetzt: ein Empfangen der Welt von Gott und ein Handeln an der Welt um Gottes willen zu sein. Empfangend und handelnd weltverbunden steht der Mensch, vielmehr nicht „der“, sondern dieser bestimmte Mensch, du, ich, unmittelbar vor Gott.
Dieses, die Lehre von der Weltverbundenheit des Menschen in Gottes Angesicht, die Erwiderung des Chassidismus an Spinoza, war das eine, wodurch er so übermächtig in mein Leben griff. Ich ahnte ja früh, wie ich mich auch dagegen wehrte, daß mir unausweichlich bestimmt sei, die Welt zu lieben.
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Und das andre –aber es ist im Grunde kein andres, sondern das gleiche.
Was ist es um die Erlösungsbedürftigkeit der Welt? Aber was ist es um die Welteinwohnung Gottes, „des, der bei ihnen wohnt inmitten ihrer Makel“? Es ist im Grund die gleiche Frage. Der Makel der Geschöpflichkeit und ihre Erlösungsbedürftigkeit sind eins; daß Gott ihr einwohnt und daß Gott sie erlösen will, auch diese sind eins.
Der Makel der Geschöpflichkeit und nicht bloß des Menschen; die Welteinwohnung und nicht bloß die Seeleneinwohnung Gottes; von hier ist auszugehn, um zu erfassen, was die chassidische Botschaft von der Erlösung sagt.
Was wir „das Böse“ nennen, ist nicht bloß im Menschen, es ist als „das Übel“ an der Welt, es ist der Makel der Schöpfung. Aber dieser Makel ist nicht ein Wesen, nicht eine existente Eigenschaft der Dinge. Es ist nur ihr Nicht-Standhalten, Nicht-Richtungfinden, Sich-nicht-entscheiden.
Gott hat eine Welt erschaffen, und hat die erschaffne sehr gut geheißen, – woher kommt da das Übel? Gott hat eine Welt erschaffen und hat ihre Vollendung gefeiert, – woher kommt da das Unvollendete?
Die Gnosis aller Zeiten stellt der guten Gottesmacht eine andre Urmacht entgegen, die das Böse wirke; als den Kampf zwischen beiden will sie die Geschichte, als dessen siegreiche Austragung die Erlösung der Welt erscheinen lassen. Wir aber wissen, was von dem namenlosen Propheten, dessen Worte im zweiten Teil des Buches Jesaja stehen, verkündet worden ist: daß, wie Licht und Finsternis, so das Gute und das Böse Gott selber erschaffen hat. Kein Unerschaffnes besteht ihm entgegen.
Dann wäre das Böse, das Übel, also doch ein Wesen, eine existente Eigenschaft? Aber auch die Finsternis ist ja kein Wesen, sondern der Abgrund des Licht-Ermangelns und des Ringens um das Licht; und eben als solcher von Gott erschaffen.
Die Bibel läßt das Böse durch ein Tun der ersten Menschen in die Schöpfung eindringen; aber sie kennt eine eben diese Tat einflüsternde, also böse, außermenschliche Kreatur, die „Schlange“. Die kabbalistische Lehre, die der Chassidismus sich eingebaut hat, verlegt das Eindringen in den Schöpfungsvorgang selber zurück. Der Feuerstrom der schöpferischen Gnade schüttet sich über die ersterschaffnen Urgestaltungen, die „Gefäße“, in seiner Fülle hin; sie aber halten ihm nicht stand, sie „zerbrechen“– der Strom zersprüht zur Unendlichkeit der „Funken“, die „Schalen“ umwachsen sie, der Mangel, der Makel, das Übel ist in die Welt gekommen. Nun haftet in der vollendeten Schöpfung die unvollendete; eine leidende, eine erlösungsbedürftige Welt liegt zu Gottes Füßen. Er aber beläßt sie nicht einsam im Abgrund ihres Ringens; den Funken seiner Schöpferbrunst nach, die in die Dinge fielen, steigt seine Herrlichkeit selber zur Weh nieder, geht ein in sie, ins „Exil“, wohnt ihr ein, wohnt bei den trüben, den leidenden Geschöpfen, inmitten ihrer Makel, –verlangend, sie zu erlösen.
Wenn die Kabbala es auch nicht ausdrücklich sagt, so schließt doch unverkennbar diese Lehre die Konzeption ein, daß schon jenen Urgefäßen, wie den ersten Menschen, eine Eigenbewegung, eine Selbständigkeit, eine Freiheit zugeteilt war, sei es nur eben die Freiheit, dem Gnadenstrom standzuhalten oder nicht standzuhalten. Als ein Nichtstandhalten stellt sich ja auch die Sünde der ersten Menschen dar: alles ist ihnen gewährt, die ganze Gnadenfülle, auch der Baum des Lebens ist ihnen nicht verboten, nur eben die Kenntnis des Beschränkenden, des Verhältnisses von ursprünglicher Reinheit und gewordenem Makel in der Schöpfung, nur eben das Geheimnis des Urmangels, das Geheimnis von „Gut und Böse“ hat Gott sich vorbehalten; sie aber halten der Fülle nicht stand, sie folgen der Einflüsterung vom Element der Beschränkung her, –nicht etwa, daß sie sich gegen Gott auflehnten, sie entscheiden sich nicht gegen ihn, sondern sie entscheiden sich nur eben nicht für ihn, es ist keine rebellische, es ist eine ratlos, richtungslos, „willenlos“ lässige Bewegung, dieses „Handausstrecken“, sie tun’s nicht, sie haben’s getan, man sieht das richtungslose Stürmen und Stürzen der erlösungsbedürftigen Funken in ihnen, Lockung, Wirbel und unentschiednes Tun; und so „erkennen“ sie das Beschränkende, freilich eben als Menschen, wie Menschen erkennen, wie Adam hernach sein Weib „erkennt“, erkennen die Beschränkung, sich mit ihr vermischend, erkennen „Gut-und-Böse“, dieses Gut-und-Bose in sich aufnehmend, wie die gepflückte und gegeßne Frucht. Ein Nichtstandhallen also –wir wissen darum, wir, an denen sich Tag und Tag die Situation der ersten Menschen, immer wieder erstmalig, wiederholt, wir wissen um dieses leidende Handeln, das nichts als ein Hinauslangen aus dem richtungslosen Wirbel ist, wissen um das Stürmen und Stürzen und Sich- verfangen der Funken, wir wissen, daß die da sich regt, unsre Bosheit, unsre Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungssucht ist. Und vielleicht wissen wir auch, von jenen heimlichen unausdenkbaren Augenblicken her, das Andre, jenen zartesten Durchbruch, das Richtungempfangen, das Sichentscheiden, die Kehre der verkreisten Weltbewegung auf Gott zu. Hier erfahren wir, unmittelbar, daß uns Eigenbewegung, Selbständigkeit, Freiheit zugeteilt ist. Wie es auch mit außermenschlicher Geschöpflichkeit sich verhalte, vom Menschen wissen wir, daß er durch sein Erschaffensein ins Leben eingesetzt ist als einer, der nicht etwa in einer flüchtigen Selbsttäuschung, sondern in der Wirklichkeit beides vermag: Gott zu wählen und Gott zu verwerfen. Sein Fallenkönnen bedeutet sein Steigenkönnen; daß er der Welt zur Verderbnis wirken kann, bedeutet, daß er ihr zur Erlösung wirken kann.
Dieses konkrete Hereingenommensein des Menschen in die Mächtigkeit bleibt, wie punktuell auch manche Religion und Theologie es verstehen will (etwa als die bloße Fähigkeit, zu glauben oder den Glauben zu versagen), der Kern des religiösen Lebens, weil es eben der Kern des Menschenlebens überhaupt ist. Wie punktuell es auch verstanden werde, die Tatsache bleibt, daß die Erschaffung dieses Geschöpfs Mensch die geheimnisvolle Aussparung einer mitbestimmenden Kraft, eines Ausgangsorts von Geschehen, eines Anfangens bedeutet. Nicht einmalig stand, sondern all malig steht es dieser Kreatur frei, Gott zu wählen oder ihn zu verwerfen, vielmehr unerwählt zu lassen. Heißt das, daß Gott sich eines Quentleins seiner Bestimmungsmacht begeben habe? Das fragen wir nur, wenn wir Gott den Gesetzen unserer Logik unterzuordnen beflissen sind. Aber die Augenblicke des Durchbruchs, in denen wir unmittelbar erfuhren, daß wir frei sind, und doch unmittelbar nun wissen, daß uns Gottes Hand getragen hat, lehren uns von unserm eignen personhaften Leben aus, uns dem Geheimnis nähern, darin jenes und dieses, Wirklichkeit des Menschen und Wirklichkeit Gottes, kein Widerspruch mehr sind. Man kann auch anders fragen. Die ersten Menschen standen in der Freiheit, ehe sie von Gott abfielen; heißt das, daß Gott nicht gewollt hat, was sie taten? wie kann denn etwas geschehen, was Gott nicht will? Keine theologische Argumentation kann uns hier weiterhelfen, nur die entschloßne Einsicht, daß Gottes Gedanken nicht wie unsre Gedanken beschaffen sind, daß sein Wille nicht wie unser Wille begriffen und abgegriffen werden kann. Wir dürfen sagen, Gott wolle, daß der Mensch ihn erwähle und nicht von ihm abfalle; aber wir müssen dazu auch sagen, Gott wolle, daß seine Schöpfung nicht ein Ende in sich sei, wolle, daß seine Welt ein Weg sei; und weiter: damit dies in Wirklichkeit geschehe, müsse die Kreatur den Weg selber gehen, von sich aus und immer wieder von sich aus, müsse der Abfall so wirklich sein wie die Erlösung, und der Mensch, die Kreatur, in der die Weltbahn sich knote und darstelle, wie er von sich aus real abfällt, so von sich aus real an der Erlösung zu wirken vermögen. Heißt das, Gott könne seine Welt nicht ohne ihre Mitwirkung erlösen? Es heißt, daß Gott eben das nicht können will. Braucht Gott den Menschen zu seinem Werk? Er will ihn brauchen.
Gott will zum Werk an der Vollendung seiner Schöpfung den Menschen brauchen; in diesen Satz ist die Grundlage der jüdischen Erlösungslehre einzufassen. Aber Wille Gottes, das bedeutet, daß dieses „Brauchen“ wirkende Wirklichkeit wird: in der geschehenden Geschichte harrt Gott des Menschen.
Nicht zum Schein ist Gott in seiner Welteinwohnung ins Exil gegangen; nicht zum Schein erleidet er in seiner Einwohnung das Schicksal seiner Welt mit. Und nicht zum Schein harrt er, daß von der Welt aus die anfangende Bewegung auf die Erlösung zu geschehe, – anfangend nicht zum Schein. Wie es zugeht, daß dies nicht Schein, sondern Wirklichkeit ist, wie Gott dem Allmächtigen und Allwissenden irgend etwas von seiner Welt aus, sei es Abfall, sei es Umkehr, widerfahren kann, das ist Gottes des Schöpfers und Erlösers Geheimnis, mir nicht geheimnisvoller als daß er ist; und daß er ist, ist mir schier weniger geheimnisvoll als daß ich bin, der ich, auf einer Felsenbank über einem Wasser, dies mit zögernden Fingern schreibe.
Es wäre eitel sinnwidrig zu erwägen, wie groß wohl der Anteil des Menschen an der Erlösung der Welt sei. Es gibt gar keinen Anteil des Menschen und keinen Anteil Gottes; es gibt kein Bishierher und Vondaan; es gibt da nichts Meßbares und Wägbares; im Grunde wäre schon falsch, von einem Zusammenwirken zu sprechen. Das gilt ja von allem Menschenleben und vielleicht von allem Leben der Geschöpflichkeit: es ist sinnwidrig, zu fragen, wie weit mein eignes Handeln reicht und wo Gottes Gnade beginnt; sie grenzen gar nicht aneinander; sondern was mich allein angeht, ehe ich etwas zustande bringe, ist mein Handeln, und was mich allein angeht, wenn es geriet, ist Gottes Gnade; jenes nicht weniger wirklich als diese, und keins von beiden eine Teilursache. Gott und der Mensch teilen sich nicht in das Regiment der Welt; das Wirken des Menschen ist in das Wirken Gottes eingetan und ist doch wirkliches Wirken.
So steht denn der gelebte Augenblick des Menschen in Wahrheit zwischen Schöpfung und Erlösung, in seiner Gewirktheit an die Schöpfung, in seiner Wirkensmacht an die Erlösung geknüpft; vielmehr, er steht nicht zwischen beiden, sondern in beiden zugleich; denn wie die Schöpfung nicht bloß einmalig im Anfang, sondern auch allmalig in der ganzen Zeit ist, so ist auch die Erlösung nicht bloß einmalig im Ende, sondern auch allmalig in der ganzen Zeit. Nicht bloß bezogen ist der Augenblick auf beide, sondern beide einbezogen in ihn. Und wie die Schöpfung nicht „eigentlich“ einst geschehen ist und etwa jetzt nur „fortgesetzt“ würde, so daß alle Schöpfungsakte bis auf diesen, der jetzt geschieht, sich zum Werk der Schöpfung summierten, vielmehr das Gebetswort, daß Gott alletage das Werk der Schöpfung erneut, vollkommne Wahrheit ist, der Schöpfungsakt also, der jetzt geschieht, ganz anfangsgewaltig, und der schöpferische Augenblick Gottes nicht in der Zeitfolge nur, sondern in seiner eignen Unbedingtheit steht, – wie solchermaßen im Bereich der Schöpfung, in dem Gott allein waltet, der Augenblick nicht bloß von irgendwoher, sondern aus sich und in sich sich begibt, so auch im Bereich der Erlösung, in dem Gott verstauet und verlangt, daß seinem Wirken ein Wirken der Menschenperson unbegreiflich sich eintue. Nicht bloß auf die Vollendung hin, auch in sich selber ist der erlöserische Augenblick wirklich; sie summieren sich nicht, wohl reihen sie sich aneinander, aber doch rührt jeder eine unmittelbar an das Geheimnis der Erfüllung; jeder nicht zielgetragen bloß, auch sinngetragen; jeder in die Zeitfolge, in den großen Weg der Welt an seinem Ort gefügt und da geltend, aber jeder auch in seinem Zeugnis versiegelt. Das bedeutet nicht ein mystisches Zeitloswerden des Nu, sondern dessen Zeitvoll werden: in dem verschwebenden Bruchteil der Zeit kündigt sich die Fülle der Zeit an, – Geschehen nicht an der Seele, leibhaftes Geschehen an der Welt, von der konkreten Begegnung zwischen Gott und Mensch aus. Es ist „das Niederfließen der Segnung“.
Die chassidische Botschaft hat auch dieses in geheimer und in offenbarer Lehre überlieferte Wissen um den All -Tag der Erlösung ganz praktisch ausgesprochen. Und sie hat, entgegen dem Ungeheuern Apparat der kabbalistischen Anweisungen, entgegen den gewaltsamen Anstrengungen der „Bedränger des Endes“, auf das stärkste und deutlichste herausgehoben: es gibt nicht ein bestimmtes, aufzeigbares, lehrbares magisierendes Handeln in festgelegten Formeln und Gebärden, Seelenhaltungen und Seelenspannungen, das auf die Erlösung ein wirkte; nur die unterschiedslose Heiligung alles Handelns, nur das Gottzutragen des gewohnten Lebens, wie es. sich fügt und schickt, nur die Weihe der natürlichen Weltverbundenheit hat die erlöserische Kraft. Nur aus der Erlösung des Alltags wächst der All-Tag der Erlösung.
Darauf gründet sich die – nicht bloß in der Wahrheit der Geschichte, sondern auch in ihrer Wirklichkeit erfolgte – chassidische Erwiderung auf jene Katastrophe des jüdischen Messianismus, die unter dem Namen des Sabbatai Zwi steht.
Es ist ein Irrtum, den jüdischen Messianismus im Glauben an ein einmaliges endzeitliches Ereignis und an eine einzelne Menschengestalt als Mitte dieses Ereignisses erschöpft zu sehen. Die Gewißheit der mitwirkenden Kraft, welche dem Menschen, den Geschlechtern der Menschen zugeteilt ist, verband die Endzeit mit dem gegenwärtigen Leben. Schon in der Prophetie des ersten Exils[1] erscheint in geheimnisstarker Andeutung die Reihe der „Gottesknechte“, die, von Geschlecht zu Geschlecht erstehend, in Niedrigkeit und Verschmähtheit den Makel der Welt tragen und durchläutern. Im spätem Schrifttum ergänzt sich der Hinweis zu einer heimlichen Perspektivik der Weltgeschichte, darin auch die großen Personen der biblischen Erzählung messianischen Charakter tragen: jeder von ihnen war berufen, jeder versagte in irgendeinem Belang, eines jeden besondre Sünde bedeutete eben sein Versagen vor der messianischen Berufung. So harrt Gott in den Geschlechtern der Menschen des einen, in dem die unerläßliche Bewegung von der Kreatur aus ihre entscheidende Mächtigkeit gewinnt. Mit der Vertiefung des Weltexils, die sich durch das Exil Israels darstellt, sinken die in den Geschlechtern Erscheinenden aus der Offenbarkeit in die Verborgenheit, tun ihre Tat nicht mehr im Licht der kenntlichen Geschichte, sondern im Dunkel eines unzugänglichen persönlichen Leidenswerks, von dem keine oder nur eine entstellende Kunde nach außen gelangt. Aber je leidvoller das Schicksal der Welt wird, das in seiner Welteinwohnung Gott miterleidet, um so mehr wird auch das Leben dieser Menschen in sich sinnreich und wirkend. Sie sind nicht mehr bloß gleichsam Vorproben der messianischen Gestalt, sondern der endzeitlichen Messianität geht in ihnen eine allzeitliche, über die Zeiten ausgegoßne voraus, ohne die die Welt in ihrem Abgefallensein nicht bestehen könnte. Wohl sind sie Versuche von der Kreatur aus, wohl Vorläufer, doch aber ist die messianische Kraft selber in ihnen. „Messias Sohn Josefs erscheint von Geschlecht zu Geschlecht.“ Das ist der Leidensmessias, der immer wiederum Gottes willen die tödliche Pein erduldet.
Dieses messianische Mysterium steht auf der Verborgenheit; nicht auf einer Geheimhaltung, sondern auf einer echten, faktischen, in die innerste Existenz reichenden Verborgenheit. Die Menschen, durch die es geht, sind die, von denen der namenlose Prophet in der Ichrede sagt, daß Gott sie zum blanken Pfeil spitzt und dann in seinem Köcher versteckt. Ihre Verborgenheit gehört wesenhaft zu ihrem Leidenswerk. Jeder von ihnen kann der Erfüllende sein; keiner von ihnen darf in seinem Selbstwissen etwas anderes sein als ein Knecht Gottes. Mit dem Zerreißen der Verborgenheit würde nicht bloß das Werk aussetzen, ein Gegen werk würde einsetzen. Messianische Selbstmitteilung ist Zersprengung der Messianität.
Man muß in die Tiefen dieses in keinem Bekenntnis zusammengeschloßnen, aber aus den Zeugnissen erweislichen Glaubens hinabsteigen, um das Verhältnis des Judentums zur Erscheinung Jesu wahrhaft zu verstehn. Was auch seine Erscheinung der Völkerwelt bedeutet (und ihre Bedeutung für die Völkerwelt bleibt für mich der eigentliche Ernst der abendländischen Geschichte), vom Judentum aus gesehn ist er der erste in der Reihe der Menschen, die, aus der Verborgenheit der Gottesknechte, dem wirklichen „Messiasgeheimnis“, tretend, in ihrer Seele und in ihrem Wort sich die Messianität zuerkannten. Daß dieser Erste –wie ich immer wieder erfahre, wenn sich mir die personhaft klangechten Worte zu einer Einheit fügen, deren Sprecher mir schaubar wird – in der Reihe der unvergleichlich Reinste, Rechtmäßigste, mit wirklicher messianischer Kraft Begabteste war, ändert nichts an dem Faktum dieser Erstheit, ja es gehört wohl eben dazu, gehört zu dem furchtbar eindringlichen Wirklichkeitscharakter der ganzen automessianistischen Reihe.
Dazu gehört es auch wohl, daß der letzte in der Reihe–jener Sabbatai Zwi, der im gleichen Jahr wie Spinoza starb –der tiefsten Problematik verfiel, aus der redlichen Selbstgewißheit in eine gespielte hinüberglitt und im Abfall endete. Und eben diesem war nicht wie jedem der frühem eine kleine Schar, sondern die Judenheit zugefallen und hatte von ihm Äußerungen, die ihr einst unerträglich waren und ihr gegen die Wahrheit einer Berufung zeugten, als legitime Kundgebung entgegengenommen. Eine im Leidensabgrund zerrüttete Judenheit freilich, aber doch auch die Trägerin einer wirklichen Krisis: der Selbstauflösung des Automessianismus. Immer bis dahin hatte das Volk den Proklamationen der „Meschichim“ und seinem eignen Erlösungsdurst widerstanden; nun da es das eine Mal den Widerstand aufgab, bereitete die Katastrophe nicht bloß diesem einen Ereignis das Ende, sondern der ganzen Ereignisform: dem Begegnen eines Menschen, der den verhängnisvollen Schritt aus der verborgnen Gottesknechtschaft zum messianischen Selbstbewußtsein gemacht hatte, mit einer Schar, die sich vermaß, das Reich Gottes zu beginnen.
Um zu verstehen, wovon geredet wird, ist zu erkennen nötig, daß es hier nicht, wie es unserm Zeitalter als selbstverständlich erscheint, um das Zusammentreffen zweier Selbsttäuschungen, einer persönlichen und einer gruppenhaften, geht, sondern um das zweier realen Überschreitungen einer realen Grenze, an der der Mensch nur im Magnetnadelzittern der bangsten Verantwortung sich zu bewegen vermag. Die Begebenheiten der automessianistischen Epoche des jüdischen Erlösungsglaubens (denen auf der christlichen Seite die des Täufertums in seinen verschiedenen Gestalten entsprachen) waren ein Fehlgeschehen, aber ein Fehlgeschehen in der Wirklichkeit zwischen Mensch und Gott.
Nach der Katastrophe, nach dem entscheidenden inneren Abfall Sabbatai Zwis von der Selbstwahrheit zur Selbstlüge, der dem äußeren voranging, gibt es keinen echten Automessianismus mehr im Sinn jenes realen Begegnens zwischen einem Einzelnen und einer Schar; er artet aus, in Literatur, wie bei dem genialischen Mose Chajim Luzzato, oder in Betrug, wie bei Jakob Frank, der noch einmal einen Teil der polnischen Judenheit in einen kurzen Taumel riß und dann, wie Sabbatai Zwi zum Islam, zum Christentum übertrat.
Das war schon zur Zeit des Baalschem. Eine von der Geschichtschreibung angestrittene Überlieferung läßt den Baalschem im Jahr vor seinem Tod an der Disputation der polnischen Rabbinen gegen Frank teilnehmen. Aber größer und in seiner Wesenswahrheit unbestreitbar ist der Kampf in der einsamsten Stille, von dem die Legende erzählt. Hier wie anderswo sammelt diese die ganze Lebenshaltung in eine Begebenheit ein. Immer wieder sehen wir in der Legende den Baalschem gegen den entarteten Automessianismus aufstehen, lehrend, beeinflussend, das Blendwerk zerstreuend, am falschen Handeln hindernd, auch unmittelbar gegenwirkend. Aber das stärkste Zeugnis ist wohl die Versuchungsgeschichte.
Vermutlich gibt es im Leben jeder stifterischen Person eine zentrale Versuchungsgeschichte, wenn auch nicht alle erzählt worden sind. Kennzeichnend für die Art und Bestimmung des Einzelnen ist, wie, von wem, wodurch er versucht wird. Dem Baalschem erscheint als der Versucher der tote Sabbatai Zwi. Zuerst bittet er den Baalschem, ihn zu erlösen. Dergleichen kann aber nur so geschehen, daß man das eigne Wesen an das Wesen des Toten bindet, Seele an Seele, Geist an Geist. Das begann nun der Baalschem zu tun, doch behutsam und allmählich, daß nicht das Böse ihn selber versehre. Als im Gang dieses Erlösungswerks Sabbatai Zwi wieder einmal in den Traum des Baalschem trat, versuchte er ihn, aber der Baalschem stieß ihn hinweg, und er stürzte zurück in die Tiefe. „Ein heiliger Funke“, hat der Meister später von Sabbatai Zwi gesagt, „wohnte in ihm, aber Sammael hat ihn in der Schlinge des Hochmuts gefangen.“
Es ist unverkennbar, daß mit der Versuchung, von der die Legende so berichtet, die automessianistische gemeint ist. Der Widerstand gegen die Einflüsterung, der Messias zu sein, eröffnet einen neuen Vorgang.
Wohl haben nach dem Tod des Baalschem seine Schüler darauf hingedeutet, seine Seele würde im Messias wiederkehren. Wohl ist im spätem Chassidismus sogar das „Bedrängen des Endes“ neuaufgelebt. Aber die Botschaft bleibt.
Im Zusammenhang mit der Lebenshaltung des Baalschem ist zu verstehen, was die chassidische Botschaft von der Erlösung sagt. Sie erhebt sich gegen die messianistische Selbstunterscheidung eines Menschen von den andern Menschen, einer Zeit von den andern Zeiten, einer Handlung von den andern Handlungen. Allem Menschentum ist die mitwirkende Kraft zugeteilt, alle Zeit ist erlösungsunmittelbar, alles Handeln um Gottes willen darf messianisches Handeln heißen. Aber nur absichtsloses Handeln kann ein Handeln um Gottes willen sein. Die Selbstunterscheidung, die Rückbiegung des Menschen auf einen messianistischen Vorzug dieser Person, dieser Stunde, dieser Handlung zersetzt die Absichtslosigkeit. Die Ganzheit seines Weltlebens Gott zuwenden und es dann in all seinen Augenblicken bis auf den letzten sich auftun und abfolgen lassen, das ist Wirken des Menschen an der Erlösung. Wir leben in einer unerlösten Welt. Aber aus jedem willkürlos weltverbundnen Menschenleben fällt in sie ein Samen der Erlösung, und die Ernte ist Gottes.
Quelle: Martin Buber, Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner, 1928, S. XI-XXXI, wiederabgedruckt in: Martin Buber, Chassidismus II: Theoretische Schriften, hrsg. v. Susanne Talabardon MBW 17, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019, S. 129-143.
[1] Den Erweis muß ich meinem Buch über den biblischen Glauben vorbehalten, dessen zweiter Teil die prophetischen Schriften behandelt.
Ob wir unser Leben der Religion opfern oder einem Computerspiel ist eigentlich egal. Beides sind Dinge, die der Mensch sich gegen die Angst erfunden hat ..