Trutz Rendtorff, Zum ethischen Sinn evangelischer Theologie. Ein Diskussionsbeitrag (1982): „Leben als Handeln heißt, in die kommunikative Grundstruktur des Lebens eintreten, die der Sache nach genau das ist, was den Inhalt des Glaubens bildet, dass nämlich unser Leben, das wir zu führen haben, immer das Leben ist, das wir empfangen und das uns deswegen zu einer Stellungnahme fordert, die uns über eigene Ziele und Lebensregeln hinaus in Anspruch nimmt für die Bewe­gung dieses Lebens, das sich mitteilt, gibt und insofern im Geben von Leben verwirklicht.“

Zum ethischen Sinn evangelischer Theologie. Ein Diskussionsbeitrag[1]

Von Trutz Rendtorff

I. Die kritische Funktion der Ethik für die evangelische Theologie

In diesem Jahrhundert ist »Ethik« zu dem kritischen Punkt evangelischer Theologie geworden. Die Diskussion um Sinn und Bedeutung von Ethik ist in gewisser Hinsicht identisch mit der Grundlagendiskussion der Theologie. Wo es um die Grundlegung der Ethik geht, geht es immer zugleich um das Selbstverständnis der Theologie überhaupt. Diese Grundlagendiskussion ist ohne Frage durch Karl Barth bestimmt worden, der, zumindest in den Anfän­gen seiner theologischen Arbeit, »Ethik« als negativen Begriff von Theologie bestimmt hat, den zu bekämpfen und zu überwinden die Theologie erst wieder auf ihren rechten evangelischen Weg bringen sollte. Daß ein Argument oder eine theologische Aussage »bloß ethisch« sei, ist in seinem Gefolge zu einem rechten Verdam­mungsurteil geworden. Der theologiegeschichtliche Kontext dieses polemischen Verständnisses der Ethik läßt sich am einfach­sten mit dem Hinweis auf Ernst Troeltsch herstellen, der am Beginn dieses Jahrhunderts die Ethik als »Grundwissenschaft« bezeichnet hat und damit einer Auffassung verpflichtet war, die für Schleier­macher leitend war. Schleiermacher hatte bekanntlich seiner Glau­benslehre ein theoretisches Fundament gegeben, das mit »Lehnsät­zen« aus der Ethik gelegt wurde.

Für die evangelische Theologie sind zwei Gesichtspunkte vor allem anderen entscheidend, wenn es um ihr Verhältnis zur Ethik geht oder um die Frage, ob und mit welchen Gründen evangeli­sche Theologie immer ethische Theologie sei.

Der erste hat es damit zu tun, daß die ethische Frage für das Grundverständnis evangelischer Theologie seit der Reformation konstitutiv ist. Der zweite hat es damit zu tun, wie sich das theolo­gische Verständnis der Ethik bzw. das Selbstverständnis der Theologie zur »Ethik« allgemein und überhaupt verhalte.

1. Der ethische Sinn des Grundverständnisses evangelischer Theologie

Das reformatorische Verständnis des Glaubens ist im Zentrum der ethischen Frage entstanden und hat sich an ihr gebildet. Ich fasse hier zusammen, was als Gemeingut dieser Tradition evangelischer Theologie gelten darf. Glaube, nicht als Akt des Erkennens oder als Substitut für Wirklichkeitserkenntnis, sondern Glaube als Gewißheit letztgültigen Heils, als Erfüllung der Gottesbeziehung, entsteht und besteht da und dort, wo das fordernde Gesetz als durch Gottes zuvorkommendes Handeln in Jesus Christus erfüllt erfahren wird, wo die geforderte Lebensführung sich in das verdankte Leben als Gabe Gottes bergen kann: Glaube als Ver­trauen in das empfangene Leben. Es ist die Lehre vom Gesetz, die das traditionsreiche Vorwort der Lehre vom Evangelium bildet. Das Gesetz als die theologische Summe der Ethik nicht durch äußeres Handeln erfüllen zu müssen, sondern als durch Gott selbst erfüllt zu begreifen, das ist der eigentliche Stellungswechsel, der sich in der inneren und äußeren Geschichte der Reformation Geltung verschafft hat. Insofern aber ist der Ansatz reformatori­scher Theologie mit einer eminent folgenreichen Stellungnahme zur ethischen Frage verbunden und immer wieder mit dieser Stellungnahme auszulegen. Kernstück reformatorischer Theolo­gie ist ein zentrales soteriologisches Interesse, das Interesse an dem, was letztlich gilt und trägt, das Interesse, wie derjenige Mensch, den Gott meint und anspricht, »selig werde«. Stellung­nahme und Stellungswechsel werden deutlich an Luthers Rede von dem ›punctus mathematicus‹, an dem eodem actu, an dersel­ben Stelle das tötende, weil fordernde Gesetz als solches in den evangelischen Sinn des Glaubens umschlägt, wo die Stellung­nahme zum Gesetz sich einstimmt in den Willen Gottes: Glaube nur! Evangelische Theologie ist aus dem ethischen Problem im Grundsinne hervorgegangen, nämlich aus der Frage nach der Stellungnahme, mit der die Lebensführung des Menschen sich ihres Anhaltes an der Wirklichkeit Gottes vergewissern könne.

Es ist genau diese Lösung der soteriologischen Frage, die evange­lischer Theologie die Ethik zugleich in einer anderen Hinsicht tief verdächtig gemacht hat, als Irrweg, als Versuch, mit dem Handeln etwas vollbringen zu können, was der Mensch nun gerade nicht vollbringen kann. Sowohl gegenüber der römisch-katholischen Lehre und Praxis wie gegenüber dem moralisch-religiösen Rigo­rismus des linken Flügels der Reformation wird die Hege des reinen Evangeliums deswegen ausgestattet mit einem, oft gera­dezu ängstlichen, Abwehren des »Ethischen« aus dem Verständnis von Glauben, Rechtfertigung und Theologie. Die Rückverwandlung des Evangeliums ins Gesetz ist das spezifische historische Kennzeichen konfessorischer Scheidelinien. Dieser Befund besagt alles andere, als daß die Ethik deswegen kein seriöses Thema der Theologie mehr sei und sein könne. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die evangeli­sche Theologie hat durch die Reformation vielmehr eine erwei­terte und vertiefte Sensibilität für den Lebenssinn der ethischen Frage eingestiftet erhalten, sie hat bleibend erkannt, daß die ethische Frage in der Tat im Grundsinne eine Lebensfrage ist und daß sie den Menschen über alles Vermögen hinaus als solchen in Anspruch nimmt. Darum war es immer ein Mißverständnis zu meinen, der Glaube der Rechtfertigung entlasse schlicht aus der ethischen Frage und führe dazu, sie anderen zu überlassen.

Diese Konsequenz wird verständlich, wenn man sich den zweiten Gesichtspunkt als Verhältnis zur »außertheologischen« Ethik verdeutlicht.

2. Ethik als eigene Disziplin innerhalb und außerhalb der Theologie

Es gibt etwa seit dem 17. Jahrhundert einen Methodenstreit, der sich in der evangelischen Theologie an dem Verhältnis von Dog­matik und Ethik entzündet hat und ein höchst variationsreiches Thema der Theologiegeschichte darstellt. (Vgl. H.J. Birkner, Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1,1978, S. 281-296). Dieser Streit hat seine historischen Gründe u. a. in einem wissenschafts­organisatorischen und lebenspraktischen Problem. Ethik ist seit der Aristotelesrezeption des Mittelalters der Name für eine philo­sophische Disziplin und für eine bestimmte weltliche Praxis. Hinter der Unterscheidung und Zuordnung von Dogmatik und Ethik, wie sie die theologischen Gemüter bewegt, steht die Frage, wie sich die Theologie zu anderen nichttheologischen Disziplinen zu stellen habe.

Martin Luther hat sich in einer seiner, nicht sehr zahlreichen, Äußerungen zu akademischen Fragen einmal so ausgesprochen: Es gehe um die Unterscheidung von verschiedenen »professiones« oder »Stände« unter den Gelehrten: Die Rechte seien »moralia«; sie gehen mit den Dingen um, die äußerliche und gute Zucht belan­gen. Darum sei der Kaiser ein ›moralis philosophus‹ und Aristote­les der beste Lehrer in der philosophia moralis. Die Medizin sei die ›naturalis philosophia‹, eine Kunst, die mit natürlichen Dingen umgeht und zu tun hat. Die Natur könne aber nicht höher kom­men, denn daß sie den Leib und Verstand erhält. Der Arzt bereitet das Instrument zu, das ist den Leib, welches ein Jurist recht brauchen soll. Und dann fahrt er fort: ›Nach diesen kommt die Theologie und spricht: Wir müssen auch etwas haben nach diesem zeitlichen Leben, nämlich, das ewige Leben, dasselbe wird uns geschenkt aus Gnaden, ohn unser Verdienst, um Christus willen durch den Glauben.‹

Hier begegnet uns das Modell der drei Oberfakultäten, Rechts­wissenschaft, Medizin und Theologie. In dieser enzyklopädischen Einteilung stellt sich die Ethik als die Theorie der weltlich-politi­schen Lebensführung dar.

Der Unterschied ist damit klar. Aber es ist ein Unterschied im Rahmen einer gemeinsamen Beziehung auf das Leben und die Lebensführung. Diesen Unterschied zu machen, das ist die Ange­legenheit der akademischen Distinktionen. Was aber ist das Kriterium dieser Unterscheidungen?

Für Luther ist es: die Art der Gewißheit, die mit den Regeln und Beweisen der einen und anderen Wissenschaft verbunden ist. »Doch ist bei Gott gewiß, daß wer da gläubt, der wird selig. Solche sonderliche und gewisse Demonstrationes und Regeln haben weder die Juristen noch die Mediziner; wohl haben sie gemeine Regeln, aber dieselben lehren nichts Gewisses.«

Dieses Kriterium fungiert aber erst dann in seinem spezifisch theologischen Sinn, wenn man sieht, daß die Gewißheitsfrage nicht jenseits der konkreten Lebensführungsprobleme ihren Ort hat, sondern die Stellungnahme betrifft, die in allen anderen Stellung­nahmen immer mitthematisiert ist. Eben dieser Zusammenhang aber ist es, der die Theologie bei solcher Disziplinenunterscheidung nicht aus der Verantwortung entläßt, sondern auf ihre Weise in Anspruch nimmt. Was bedeutet denn das Grundverständnis evangelischer Theologie für die Ethik? In dieser Richtung muß sie ihren eigenen ethischen Sinn explizieren und darf sich nicht auf ein schiedlich-friedliches »Das-geht-uns-nichts-An« einlassen.

3. Die ethische Aufgabe evangelischer Theologie

Die ethische Frage muß im Kern als eine Lebensfrage radikal ernst genommen werden, sie darf nicht allein endlichen Aspekten der Lebensführungspraxis subsumiert werden. Die Theologie hat in den ethischen Diskurs die dafür angemessene Fragestellung, ihre Fragestellung einzubringen. Sie hat dafür einzustehen, daß die theologische Dimension der Lebenswirklichkeit in der Ethik eine aufklärende und orientierende Rolle spielt. Aus dem Wissen darum, daß das Leben des Menschen nicht in sich selbst Bestand hat, nicht zu den Dingen gehört, über die wir wie über Sachen verfügen, hat sie konstruktive und weiterführende Konsequenzen zu entwickeln. Sie zielen darauf ab: das Leben kann letztlich nur in Gemeinschaft gelebt werden, in der Gemeinschaft mit derjenigen Wirklichkeit, die Bestand hat, in Gemeinschaft mit Gott. Leben als Handeln heißt, in die kommunikative Grundstruktur des Lebens eintreten, die der Sache nach genau das ist, was den Inhalt des Glaubens bildet, daß nämlich unser Leben, das wir zu führen haben, immer das Leben ist, das wir empfangen und das uns deswegen zu einer Stellungnahme fordert, die uns über eigene Ziele und Lebensregeln hinaus in Anspruch nimmt für die Bewe­gung dieses Lebens, das sich mitteilt, gibt und insofern im Geben von Leben verwirklicht.

Die ethische Aufgabe der Theologie beginnt also überall dort, wo der Lebenssinn des Glaubens und Vertrauens ausgelegt wird, wo das Heilsinteresse sich noch einmal reflektiert und überschreitet, sich an seine eigene Begründung hingibt, die nicht im Besitz der Gewißheit liegt, sondern in dem, der sie gibt und vermittelt.

In dieser Richtung liegt es, wenn wir sagen, Ethik sei eine »Steigerungsform der Theologie« (Ethik, Bd. 1, S. 16).

Wir lassen den, letztlich unfruchtbaren, Streit um die Unter­scheidung der Disziplinen innerhalb und außerhalb der Theologie hinter uns zugunsten der Frage, wie die Auslegung des Grundver­ständnisses evangelischer Theologie aussieht, wenn ihre eigenen Prämissen und Voraussetzungen ernst genommen werden und der Versuchung zu einer sublimen theologischen Werkgerechtigkeit in der Bewahrung des reinen Evangeliums durch Abgrenzung der Abschied gegeben wird, um entschlossen aus den Voraussetzun­gen herauszudenken, die dabei in Anspruch genommen werden.

II. Leben als Paradigma evangelischer Ethik

Wenn wir uns fragen, in welchem Bezugsrahmen und mit welchen Vorstellungen der Sinn der ethischen Frage verbunden wird, dann müssen wir uns über den Ort klar werden, an dem die ethische Frage in unserer Welt auftritt.

Das besondere Kennzeichen des ethischen Diskurses unserer Epoche ist es, daß ethische Fragen nicht so sehr auf das Verhalten des einzelnen Menschen zu seiner Lebenswelt abzielen, sondern die Verfassung dieser Lebenswelt selbst zum Thema haben. Ob wir auf die Familie blicken, oder auf die Politik, auf die ökonomi­schen Bedingungen oder die Natur als Umwelt – überall haben wir es heute mit Fragen zu tun, die nicht nach dem Kanon verlaufen, wie sich der einzelne hier richtig verhalten solle, sondern wie denn die Welt verfaßt sei, in der wir leben. Die ethische Frage ist zu einer Frage nach der Verfassung der menschlichen Lebenswelt überhaupt geworden; darin ist sie die Frage des Menschen nach sich selbst. Die ethische Frage bedrängt uns als Frage nach der überindivi­duellen Verfaßtheit unserer Lebenswelt und ist in diesem Zusam­menhang als die Frage nach der eigenen Stellungnahme und der eigenen Lebensführung, ans Subjekt adressiert. Begriff und Vor­stellung von »Leben« können als Paradigma evangelischer Ethik ausgearbeitet werden, wenn es — gegenüber einem abstrakten Begriff des sich selbst bestimmenden Einzelsubjekts — darum geht, die ethische Vermitteltheit menschlicher Subjektivität zu erklären und zu entschlüsseln, und das in einem weiten, umfassenden Bedeu­tungszusammenhang von Wirklichkeit. Wo immer die Verfaßtheit der Lebenswelt in Hinsicht auf die Lebensführung thematisch wird, wird sie in Beziehung auf das menschliche Subjekt thematisch. Dieses Beziehungsverhältnis kann in der theologischen Analyse des Lebensbegriffs explizit werden.

1. Das Gegebensein des Lebens als ethischer Grundsituation

Das Gegebensein des Lebens ist elementarer Art, weil es diejenige Voraussetzung bezeichnet, die immer schon in Anspruch genom­men werden muß, wo für Menschen Probleme und Aufgaben der Lebensführung auftreten. Man muß diesen Sachverhalt in eine Frage kleiden, um zu wissen, was gemeint ist: Für wen ist das Gegebensein des Lebens relevant? Für denjenigen, dem es gegeben ist — nicht also eine allgemeine anthropologische Auskunft oder eine naturwissenschaftliche Feststellung, sondern eine Beziehung ist zu explizieren; in Beziehung auf uns als Subjekte unseres Lebens, die zur Stellungnahme gefordert sind, gilt, daß uns das Leben immer schon gegeben ist.

Niemand kann sich selbst das Leben geben – das gilt ohne Aus­nahme. Alle Aufgaben und alles Handeln sind durch das gegebene Leben vermittelt. Am Anfang steht nicht das wählende und frei agierende Subjekt, sondern dieser Anfang bildet sich für uns immer in einem Kontext des gegebenen Lebens, d. h. in Beziehung auf uns: des empfangenen Lebens, des verdankten Lebens. Gegeben­sein und Empfangen des Lebens sind zwei Seiten desselben Sach­verhaltes.

Die Bedeutung solcher elementaren Sätze tritt für die theolo­gische Ethik dort hervor, wo es sich um die Auseinandersetzung mit der aufklärungsbedingten Annahme handelt, der Mensch sei erst dann wahrhaft Mensch, nämlich frei, wenn er sein Leben sich selbst verdanke und niemand sonst, Geschöpf seiner selbst, Selbstproduktion. Diese Annahme setzt mit einer fundamentalen Negation ein, der Negation des gegebenen und empfangenen Lebens. Es ist diese Negation, die einer Ethik unvermittelter Auto­nomie den Zug zum unendlichen Sollen verleiht, das zum Verlust an Wirklichkeit und lebensweltlicher Orientierung führt, zur Nichtanerkennung von verbindlichen Voraussetzungen des Le­bens. Doch nicht die Negation dieser Negation ist die Pointe, d. h. ein solches theologisches Interesse, das den Menschen auf seine Grenzen verweist, um seinen Hochmut in die Schranken zu weisen.

Die eigentliche Pointe ist, daß der Mensch das Leben empfan­gen muß, das heißt, daß er sich gerade als ethisches Subjekt, als der zur Lebensführung aufgerufene und veranlaßte Mensch, gegeben ist. Das Leben, das vom Menschen empfangen wird, hat selbst subjekthafte Struktur, es ist das zur eigenen Lebensführung be­stimmte Leben, dessen Appellstruktur nicht als Werk und Lei­stung erst dem gegebenen Leben abgerungen werden muß; des Menschen Freiheit macht als ethisch bestimmte die Art und Weise des ihm gegebenen Lebens aus.

Lebenserfahrung heißt darum, mit dem Leben einen Auftrag zu empfangen, der in dem empfangenen Leben selbst beschlossen liegt. In diesem Sinne ist die Lebensaktivität des Menschen, als seine individuelle Freiheit, selbst bereits Antwort auf das gegebene Leben, nicht unmittelbarer Besitz, sondern vermittelte Freiheit.

Nicht die Beliebigkeit, sondern diese Bestimmtheit des Lebens ist der Grund für Verantwortung, für die ethische Qualifikation einer jeden Lebensführung.

In diesem Sinne nehme ich den Satz von G. Ebeling auf, die Rechenschaft des Glaubens beginne bei der Frage nach seiner Beziehung zum Leben (Dogmatik I, S. 2).

Das Sollen, wie immer es sich im einzelnen als von uns gebildet darstellt, gründet in diesem Sein.

Damit wird das Gegebensein des Lebens transparent auf die tragenden theologischen Gedanken über die Welt als Schöpfung Gottes und die Geschöpflichkeit des Menschen; nicht eine subjekt­lose Natur, sondern die darin gegebene Subjektivität des Men­schen ist durch die »Geschöpflichkeit« angesprochen.

2. Das Geben des Lebens – die Subjektbedingtheit von Wirklichkeit

Subjektsein hat es mit Unverwechselbarkeit des gegebenen Lebens zu tun, wie sie Grund der Personalität des Menschen und darin ele­mentares Merkmal der Würde des Menschen ist vor allem Han­deln, vor allen bestimmten Funktionen, die er für andere und im gesellschaftlichen Zusammenhang ausübt, vor aller Nützlichkeit eines bestimmten Lebens. Die darin auftretenden Abgrenzungen wären freilich unzureichend, wenn sie nicht zugleich und in demselben Argumentationszusammenhang auch den Anspruch auf das tätige Leben erkennen ließen.

Niemand soll für sich selbst leben, weil keiner aus sich selbst allein lebt. Das eigene Leben bestimmt und bewirkt in seinem tätigen Vollzug immer auch Leben für andere. Wir sind und gestalten eine Welt des Lebens für andere. Das ist die zweite Hinsicht, um die es hier zu tun ist: die elementare Sozialität des Lebens. Das Geben des Lebens, Leben zu geben, ist Inhalt und Wirklichkeit allen Handelns, unablöslicher Teil einer jeden Le­bensführung und nicht etwas, was zum eigenen Leben noch zusätzlich hinzutritt. Darauf zielt die Rede vom Tun des Guten.

»Leben geben« ist zu unterscheiden von Dominanz, Beherr­schung, Untertanmachen: Es enthält das Moment der Gegensei­tigkeit, der Beziehung auf den, für den Leben gegeben, ermög­licht, gestaltet, bestimmt wird! Damit ist sofort die Frage verbun­den, wie im eigenen Leben und Handeln die Selbständigkeit des anderen Lebens geachtet wird und Raum hat.

Es ist diese Art von Fragen, die man sich stellen muß, um sich klarzumachen, daß »Leben geben« den Sinn erhält, anderen zu dienen, zunutze zu sein.

Denn das bedeutet ja, daß für das eigene, aktive Handeln, als Tun des Guten intendiert, nicht allein und nicht einmal vorrangig die eigene gute Gesinnung, das eigene moralische Bewußtsein, die eigenen Überzeugungen das Entscheidende sind: entscheidend und vorrangig ist das, was den anderen gegeben wird, d. h. was es für sie bedeutet, wie es ihnen zum Leben hilft und dient, oder eben: zunutze ist. Das ist die Richtung des theologisch-ethischen, christlichen »Utilitarismus«. Denn genau dies ist gemeint und soll als Konkre­tion das Geben von Leben leiten.

Wenn Glaube den Sinn von Vertrauen hat, dann heißt das in ethischer Hinsicht, daß es um die Wahrnehmung und Konkretion 6 von Vertrauen im Verhältnis zueinander geht. Vertrauen ist der – innere Sinn der Sozialität; es stellt die Grunderwartung dar, vom anderen nicht das Böse, sondern das Gute zu empfangen. Mit ‹ Begriff und Vorstellung des Vertrauens wird das, was andere betrifft, in die eigene Lebensführung übernommen: dem Vertrauen zu entsprechen und zu genügen, das ist der allgemeine Inhalt des Grundgebots, Leben zu geben. In Rückbeziehung auf das handelnde Subjekt gesagt: Das Annehmen des Lebens anderer statt es nur unter selbstgewählten Bedingungen zu akzeptieren, nur als Instrument eigener Weltgestaltung und Weltpläne zu perzipieren.

2. Die Reflexivität des Lebens – die der Ethik inhärente Dogmatik

Es wird rasch deutlich, daß sowohl elementare Bestimmungen über sich hinaustreiben. Sie führen zu erhöhter Reflexivität der Lebensführung, nicht erst für den professionellen Denker, son­dern mit jedem Schritt der Lebensführung in den Beziehungen der Lebenswirklichkeit. So kann sich Vertrauen, Annehmen anderer als Hingabe und Anerkennung gegenseitig nur halten, wenn sie gehalten werden von dem ethischen Sinn der Vergebung. So wird das Mißlingen bestimmter Beziehungen nur fruchtbar, wenn es an einem Gelingen des Lebens orientiert ist, das vom Subjekt aller Wirklichkeit, von Gott allein abhängt. So wird diese Abhängig­keit nur ethisch entschlüsselbar, wenn Gott selbst als sich der Welt des Menschen vermittelnde Subjektivität gedacht werden kann. Ethik drängt von sich aus auf die Fragen, die die Dogmatik bewe­gen. Ethik ist das Medium für die Genese und die Aktualität christlicher Dogmatik.

Zeitschrift für Evangelische Ethik 26 (1982), S. 19-28.


[1] In den folgenden Bemerkungen mache ich Gebrauch von Argumentationen, die im einzelnen in meinem Buch »Ethik« (Bd. 1, 1980) entwickelt sind.

Hier der Text als pdf.

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