Die Profanität des Kultus. Aus Anlaß zweier neuer Bücher
Von Paul Schempp
Wenn ein theologisches Buch erstaunliche Belesenheit, mit größter Sorgfalt schaffende Gelehrsamkeit und fröhliche Unbefangenheit in harmonischer Verbindung aufweist, so verdient es schon damit eine große Leserschaft. Wenn es dazuhin beharrlich und geduldig den Weg hin und zurück führt von der Sendung und Verheißung der Kirche, des Pfarramts und der Gemeinde, von der Predigt in die kultische Ordnung und in die Möglichkeit und Freiheit vielfältiger Gottesdienste bis in die Gefahren, Versuchungen und Irrtümer der heutigen Praxis und ihrer theoretischen Begründungen hinein, dann kann man dem Leser in Aussicht stellen, daß ihm da aufgehen könnte, wie die frohe Botschaft zur kirchlichen Ordnung ruft und der frohe Glaube zwanglos situations- und zweckgemäße Ordnungen schafft.
Dies gilt von dem im letzten Jahr im Chr. Kaiser Verlag erschienenen Buch von Manfred Mezger, Die Amtshandlungen der Kirche als Verkündigung, Ordnung und Seelsorge. Band I: Die Begründung der Amtshandlungen (274 S., davon 12 S. Literaturverzeichnis; DM 15.80; Band II: Die Gestalt der Amtshandlungen soll 1959 erscheinen, hoffentlich dann mit einem Sachverzeichnis für beide Bände).
Wenn im Amtsblatt der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom 21. Dez. 1957 zu lesen ist, daß als Textrevision des Vaterunsers verfügt wird, in der fünften Bitte künftig nicht mehr von „Schulden“, sondern von „Schuld“ zu sprechen, so wird man diese kleine Änderung als folgerichtige Anpassung an den revidierten Luthertext des Neuen Testaments und als ein winziges Stück der Vereinheitlichung der Kultsprache innerhalb der E. K. i. D. hinnehmen. Kommt darin nicht evangelische Freiheit auch gegenüber dem griechischen Text, der ja bei Matthäus wie bei Lukas eine Mehrzahlform aufweist, zum Ausdruck und ebenso auch der Wille zur Gemeinschaft, die sich gerne zur Gleichheit der Formel bewegen läßt? Oder zeugt es etwa von der Entschlossenheit zur Konsolidierung der Gesetzeskirche, daß man auch über den Wortlaut des Herrengebetes verfügt, und von der Trägheit der Pfarrer und Gemeinden, daß sie sich jeder Art von verfügtem Konformismus beugen? Gerade wo die formale Gleichschaltung so einleuchtend und so harmlos erscheint wie in diesem Falle, sollte es doch zu denken geben, daß sie einfach verfügt wird.
Was wurde nicht alles seit dem Kriegsende geredet und geschrieben von Buße und Erneuerung der Kirche und auch vom Mündigwerden der Gemeinden, und wie tatkräftig hat man im Westen unter der Sonne des Wohlwollens von Staat und Parteien und der sogenannten Öffentlichkeit die erweiterte Lebens- und Einflußsphäre benützt zum sichtbaren Wiederaufbau der Kirche, nicht nur durch Kirchenbauten, sondern noch mehr durch neue Ordnungen, neue Methoden, neue Organisationen und vor allem auch durch Weckung und Befriedigung kultischer Bedürfnisse. Dabei kann man nun wieder geradezu programmatisch gleichzeitig zwei Wege gehen. Der eine heißt: hinein ins Volk, in die Öffentlichkeit, in die Presse, in Rundfunk und Fernsehen, in Kino und Theater, in die Berufsschulen, Volkshochschulen und Akademien, in die Fabriken, in Zelte und Großkundgebungen, in die Politik und das Gewerkschaftsleben. Der andere Weg heißt: hinein in die Kirchen zur Teilnahme an den schönen Gottesdiensten in weihevollen Räumen mit viel kultischen Gebärden und Zeremonien und aktiver Beteiligung der Gemeinden, in die kirchlichen Institutionen und Verbände, zu Diskussionen, Tagungen und Werbungsaktionen, hinein in die beglückende Großgemeinschaft gleicher Losungen, Lesungen, Wochenanliegen und Festtagsliturgien. Beides ist da vereinigt, die Bewegtheit der Kirche durch die Betriebsamkeit der Fachleute, Funktionäre und Agenten, und der Gleichschritt der Kirche durch Verwaltung, gesetzliche Regelung und Agenden. Beides ist theologisch leicht zu begründen durch die Sendung der Jünger in die Welt und durch die Mahnung zur Unbeflecktheit von der Welt und zur Einigkeit. Beides ist heute erstaunlich erfolgreich, denn auf dem einen Weg begegnet der Kirche im Westen selten offener Widerspruch, jedenfalls keiner, der zu vergleichen wäre mit den Angriffen von Seiten der Geschiehts- und Naturwissenschaft, der Philosophie, des Sozialismus und politischer Parteien von der Mitte des letzten Jahrhunderts bis zum Dritten Reich. Und auf dem andern Weg wird die Kirche so sehr in Anspruch genommen, daß die Klage über Mangel an Arbeitskräften und Geldmitteln nicht verstummt. Beides macht eine Vermehrung der Gesetze und Verordnungen, der zentralen Steuerung, des planenden Apparates und damit eine Steigerung der Autorität des oberen Klerus fast unvermeidlich. Natürlich ist man sich der Gefahren beider Wege bewußt und man versäumt es nicht, die eigene Wachsamkeit zu betonen. Die eine Gefahr ist die Verweltlichung der Kirche, der sogenannte Säkularismus, die andere ist die Verkirchlichung der Welt, der sogenannte Klerikalismus. Die erste Gefahr scheint heute die kleinere zu sein, denn man glaubt ein besseres theologisches Rüstzeug gegen Liberalisierung zu haben, man ist abwehrbereit gegen wirkliche oder vermeintliche Irrlehre, man braucht wenig Furcht vor Ansteckung durch konkurrenzfähige Ideologien zu haben, weil das geistige Trümmerfeld doch noch zu groß ist und die Wissenschaften bis hin zur Archäologie weithin die Neigung zu freundschaftlichen Beziehungen zum Christentum zeigen. Die Gefahr des Säkularismus liegt heute eher in der Bereitwilligkeit der Kirchen, möglichst vielen religiösen Bedürfnissen und Ansprüchen der Volksfrömmigkeit Rechnung zu tragen. Und eben hier trifft sie zusammen mit der anderen Gefahr, mit der Tendenz zum Klerikalismus, dessen heftige Ableugnung immer unglaubwürdiger wird im Blick etwa auf die großzügige Verleihung des Prädikates christlich, auf die konfessionell paritätische Ämterverteilung oder auf die wachsende Zahl kirchlicher Weihen und Segnungen, einleitender Gottesdienste, Begrüßungsansprachen und Repräsentationen durch Geistliche bei allen möglichen außerkirchlichen Feierlichkeiten, Treffen und Neuanfängen bis hin zu agendarisch geregelten Weihegebeten zu Fabrikneubauten.
Diese Gedanken einer kritischen Analyse des Zeitgeistes und des Kirchentums finden sich nicht etwa in dem angezeigten Buche Mezgers, aber sie bilden einen Hintergrund, der gelegentlich in oder zwischen den Zeilen sichtbar wird, da Mezgers theologische Begründung und Rechtfertigung der Amtshandlungen scharfe Grenzen gegen die Sakralisierung des Profanen und gegen den Liturgismus und die diesem inhärierende Eigenmächtigkeit des Kultischen zieht. Mezger geht den schmalen Weg, vom Glauben an das verkündigte und zu verkündigende Evangelium rechte Ordnungen des vielfachen gottesdienstlichen Handelns zu suchen, und gibt schon im ersten Band eine Anleitung zu guter Ordnung am Beispiel der Taufe von der Vorbereitung bis zu Liedwahl und zum Segen. Er hat die Gabe, mit sachlicher Überlegenheit in Theologie und Praxis, gelegentlich auch mit einem Schuß Ironie, die Thesen und Argumente der Gegner zu entkräften, weil er Verständnis hat für die geheimen und offenen Versuchungen zum Unglauben, die jede Amtshandlung, ob sie in Gebundenheit oder in Freiheit geschieht, mit sich bringt. Es geht ihm um die Herrschaft des Wortes, um den Gottesdienst Gottes über alle amtlichen Handlungen in den Gottesdiensten des Menschen und um das Risiko der Freiheit des Glaubens in allen Ordnungen der Amtshandlungen. Die Zahl der Bücher ist nicht groß, die so viele Anregungen zum eigenen Denken, Prüfen, Erproben und vor allem zum willigen Arbeiten geben wie dieses, das dazu in flüssigem Stil geschrieben ist (die Fülle der unnötigen Anführungsstriche nehme ich aus). Um so größer ist die Zahl der Pfarrer, die unter der Fülle der Amtshandlungen entweder zu routinierten Zeremonienmeistern oder zu seufzenden Schwerarbeitern zu werden drohen oder geworden sind.
Es ist wohl nirgends deutlicher zu sehen, daß Säkularismus und Klerikalismus siamesische Zwillinge sind, als gerade an den Amtshandlungen, wenn damit in weitem Sinn der gesamte Kultus der Kirche gemeint ist. Da kann man Rechtsansprüche an das geistliche Handwerk stellen; da kann man Zuschauer oder gar Mitwirkender bei der Ableistung religiöser Pflichten sein; da kann man das Profane in sakrale Gewänder kleiden; da kann man sich der eigenen Empfänglichkeit für Religion bewußt werden; da ist man eingereiht in die Menge der Gläubigen oder wartet auf das Einsatzzeichen, nach dem man selber drankommt, irgend etwas feierlich zu bejahen oder zu versprechen; da befindet man sich wohl beim Ablauf altvertrauter Riten oder hat neugierige Augen, weil es doch so schön ist; da bewirkt schon der Anlaß die erforderliche Einstellung auf Freude oder Trauer; da wird leicht bald der richtige Ablauf der Handlung, bald die gesteigerte Stimmung zur Garantie für Gottes eigenes Handeln; da ist man aus der unheiligen Welt in den Bezirk des Heiligen getreten und Ort, Zeit, Handlung und Zeichen haben in sich selbst schon den Charakter der Heiligkeit. Weltlichkeit und Kirchlichkeit stellen sich gegenseitig besuchsweise zur Verfügung. Offenbarung ist objektiv darzustellende Gegebenheit oder vorzuführendes Ereignis, und die Welt der guten Gesellschaft hat auch ihren kirchlichen Sektor zur Verwaltung ihres geistlichen Kulturgutes. Es soll ja im Kultus alle Profanität ausgeschlossen und die Sakralität des Gottesdienstes möglichst anschaulich gemacht werden, und gerade diese falsche Absicht, die das Wehen des Geistes in einen Windkanal zwingen und die freie Wirkung des Evangeliums kultisch zu Gunsten der Hörer unterstützen will, bringt den Kultus jeden Augenblick haarscharf an die Grenze des Theaters, der religiösen Dramatik, die sich nur in der Wahl der Stücke und in der Dekoration vom Kult anderer Religionen unterscheidet.
Nicht als ob Kultus in evangelischen Gemeinden verwerflich sei. Er ist ja auf alle Fälle unentbehrlich. Schon wo zwei oder drei gemeinsam beten, ist Kultus, denn sie müssen eins werden darüber, was und wie sie beten. Selbst wo eine Predigt im Freien ohne Gebet, Gesang, Geste und Handlung geschehen würde, wäre Kultus, weil jeder Hörende zu schweigen hat, um nicht das Hören der andern zu verhindern.
Es hilft nichts, mit den Antinomern das Gesetz aus der Kirche ins Rathaus hinüberzutragen, nur weil man begriffen hat, daß Christus das Ende des Gesetzes ist. Das Gesetz kommt dann um so sicherer wieder herüber in die Kirche durch die Herrschaft frommer Juristen. Es hilft nichts, mit den Schwärmern den Kultus in der Kirche zu verdammen und Bilder, Altäre und Kultgeräte zu zerstören, nur weil man begriffen hat, daß Christus das Ende des Kultus ist. Der Kultus, den man so nur in allerlei possierlichen Formen in die Häuser, auf die Gassen und in den Winkel getragen hat, kommt um so sicherer wieder im Selbstbewußtsein der Kerngemeinde der wahrhaft Frommen und Erwählten, die wieder zur Kultgemeinde wird. Mit Christi Tod und Auferstehung ist ein für allemal die Schranke aufgehoben zwischen Juden und Heiden, zwischen Priestern und Laien, zwischen sakralen und profanen Orten, Zeiten und Handlungen. Das Wort allein scheidet Fleisch und Geist, das wahre Israel und die Welt, Priester und Laien, Heilige und Sünder, und der Glaube allein macht Sünder zu Erwählten, zu Priestern und Heiligen. Zugleich entlarvt das Evangelium von Kreuz und Auferstehung den Heiligen als Sünder, Israel als „nicht mein Volk“, den Priester als Laien, den Kultus als Menschenwerk. Wo an Christus, wo Vergebung der Sünden, Auferstehung und ewiges Leben geglaubt wird, da wird von verlorenen und verdammten Menschen geglaubt, die für alles Zusammenkommen und für alle Gottesdienste bloß die Legitimation der Einladung haben: Kommet her zu mir alle!, aber nicht auch noch die Rückversicherung der Erfüllung kultischer Bedingungen. Wenn heute mit etwas verdächtigem Eifer im Neuen Testament nach den Anfängen christlichen Kultes geforscht wird, so wird man feststellen: es hat noch nie eine Kirche ohne Kultus gegeben. Da gibt es in den ersten Gemeinden feste Überlieferung, Lehre, Taufe, Herrenmahl, freie und formulierte Gebete, Opfer, Bekenntnishymnen, Doxologien, Menschen mit spezifischen gottesdienstlichen Aufträgen, Zeremonien, aber es gibt keine kultischen Gesetze, und das inmitten einer völlig verkulteten Welt des Judentums und Heidentums. Heilig ist Gott, Christus, sein Geist, sein Wort, sein Gebot, und heilig sind die Gemeinden, die Menschen[1], nicht aber Orte, Zeiten, Gegenstände Gesten, Ämter, Formeln, Handlungen als solche. Alles ist zurückgenommen in die reine Profanität. Wohl wird unbefangen von der heiligen Schrift, der heiligen Stadt, dem heiligen Berg, dem heiligen Kuß, auch vom heiligen Opfer geredet, aber nirgends ist Heiligkeit eine herstellbare oder feststellbare oder auch nur erschließbare objektive Eigenschaft. Nur die Relationen zu Gott, zur Gemeinschaft und zum Nächsten, die in Glaube und Liebe in jeder Situation, aber nur frei vollziehbar sind, sind heilig. Der Neigung, jüdische Kultgenossenschaft zu werden, hat die erste Christenheit ebenso widerstanden wie der lockenden Möglichkeit, vom Staat als neue Kultgenossenschaft anerkannt zu werden.
Es ist hier nicht der Ort, von der Reformation und von Luther her den Satz zu beweisen: evangelischer Glaube entkultet den Gottesdienst, indem er einen freien, variablen, vernünftigen, zweckmäßigen, ordentlichen profanen Kult gemeindlichen Gottesdienstes ermöglicht und je und je verwirklicht. Es sei nur an die bekannten Sätze aus dem Sermon von der Freiheit eines Christenmenschen erinnert: „Alßo hilffet es die seele nichts, ob der leyp heylige kleyder anlegt, wie die priester vnn geystlichen thun, auch nit ob er ynn kirchen vnd heyligen stetten sey. Auch nit ob er mit heyligen dingen umbgah. Auch nit ob er leyplich bette, faste, walle vnd alle gute werck thue, die durch vnd ynn dem leybe geschehen mochten ewiglich.“ „Widderumb schadet es der seelen nichts, ob d’ leyp vnheylige kleyder tregt, an unheyligen orten ist, ißt, trinkt, wallet, bettet nit, vnd lesset alle die wercke onstehen, die die obgenannten gleyßner thun“ (W. A. 7, 21/22). Oder man lese den „Sermon von dreierlei gutem Leben“ von 1521 (W. A. 7, 795-802), wo Luther so erfrischend von den Mückenseihern, den „Atrienses Sancti“, d. h. den „kirchhöfischen Heiligen“ redet, die „ihre Heiligkeit in die Speise, in Kleider, in Stätte und Zeit gesetzt haben.“ Das ganz profane alltägliche Leben und Handeln ist der Gottesdienst des Christen, und aller Gottesdienst der Gemeinde ist in Predigt und kultischem Handeln nur Anreiz zum Glauben; „vmb der willen mus man solche ordnunge haben, die noch Christen sollen werden odder stercker werden. Gleich wie eyn Christen der tauffe, des worts vnd sacraments nicht darff als eyn Christen, denn er hats schon alles, sondern als eyn sunder. Aller meyst aber geschichts vmb der eynfeltigen vnnd des iungen volcks willen, wilchs sol vnd mus teglich ynn der schrifft vnd Gottis wort geübt vnd erzogen werden, das sie der schrifft gewonet, geschickt, leufftig vnd kündig drynnen werden, yhren glauben zuuertretten vnd andre mit der zeyt zu leren vnd das reych Christi helffen mehren, vmb solcher willen mus man lesen, singen, predigen, schreyben vnd dichten vnd wo es hulfflich vnd fodderlich dazu were, wollt ich lassen mit allen glocken dazu leutten vnd mit allen orgeln pfeyffen vnd alles klingen lassen, was klingen künde“ (W. A. 19, 73). Kann man im Ernst glauben, damit sage Luther das gleiche wie etwa ein Geistlicher, der bei den heute so häufigen Glockenweihen feierlich erklärt, die Glocken übten einen Gottesdienst aus, weil sie zur Versammlung und zum Gebet rufen? Sind dazu heute die Glocken wirklich hilfreich und förderlich? Wen rufen sie tatsächlich zur Kirche? Besteht die Absicht zum Kirchgang nicht fast immer schon vorher, und sagt nicht jede Uhr, wann es Zeit ist? Und wen rufen die Glocken noch zum Gebet? Liegt wirklich viel daran, das alte Brauchtum, beim Glockenläuten bestimmte Gebete zu sprechen, wieder einzuführen? Judentum und Islam werden wir darin sicher nicht mehr einholen. Warum ist der Spendeneifer für Glocken in den Gemeinden meist größer als das freudige Geben zur Linderung der Not fremder Menschen? Schön ist Glockengeläute, und der ästhetische Genuß fördert den Stolz auf einen oft fragwürdigen Beweis unverbindlicher Kirchlichkeit oder weckt romantische Heimatgefühle. Goethe hat wohl durch die Osterglocken seinen Faust vor dem Selbstmord bewahrt werden lassen, aber er ist darum kein Kirchgänger geworden. Und wenn dann ein Krieg das Metall benötigt, zeigen sich die Glocken plötzlich entbehrlich, obwohl ihr Geläute doch Gott dienen soll, was von den Granaten weniger leicht behauptet werden kann. Ist da die liturgische Freiheit mit und ohne Glocken mehr dem Nächsten förderlich oder mehr einer volkskirchlichen Fiktion? Oder man lese zu der oben angeführten Verfügung über den Wortlaut des Vaterunsers in der gleichen Vorrede zur deutschen Messe (W. A. 19, 72 ff.) Luthers Äußerung, es sei nicht seine Meinung, das ganze deutsche Land müsse so eben die Wittenbergische Ordnung annehmen. Dienten Kirchenordnungen einem sakralen Kultus, dann wäre Luthers stete Mahnung zur Freiheit ein Freibrief für liturgisches oder antiliturgisches Schwärmertum oder aber dürfte nur eine selbst sakral gesicherte Instanz Ordnungen einführen oder ändern. Wo kleine Kreise Lust und Freude an liturgischen Exerzitien haben, mag man’s ihnen wohl gönnen. Vielleicht gehören sie zu den wenigen, die die christliche Freiheit nicht „zu eygner lust odder nutz“, sondern zu Gottes Ehre und des Nächsten Besserung gebrauchen, zu den wenigen, die so stark in Geist und Glauben sind, daß sie tagelang haufenweise Bibelworte, Gesänge, Gebete und christliche Symbole und Gesten ohne die Mühe der Auslegung verkraften können. Aber den sich mehrenden kultischen und liturgischen Anforderungen an die Gemeinden und den gottesdienstlichen Gleichschaltungsverfügungen sollte man doch mit Ernst entgegentreten, damit wir nicht aus dem Willen zu einer deutschen oder lutherischen oder ökumenischen Einheitsfront des Protestantismus in ein säkular-klerikales Theater geraten, in dem Gottes Wort dann auch in klug gefeilten Kundgebungen einen guten Teil seiner Autorität von der Zahl der Konfessionszugehörigen und von der Zustimmung gut geschulter Gemeindesprechchöre entlehnen muß.
Freiheit von der Welt zur Welt, Freiheit vom Gesetz zum Gesetz, Freiheit vom Kultus zum Kultus ist die Freiheit des Evangeliums. In einer Zeit, in der das Christenvolk sich so ungescheut weigert, sich der Vergangenheit zu schämen und rechtschaffene Frucht der Buße zu tun, kann man nicht laut genug davor warnen, den Weg der Verkultung des Gottesdienstes weiterzugehen. Es ist darum ein guter Griff, daß Götz Harbsmeier seine soeben im Chr. Kaiser Verlag erschienene Aufsatzsammlung zur Theologie und Gestalt des Gottesdienstes (1958, 181 S., DM 10,80) betitelt hat „Daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten“, ein Werk, dessen sachliche Auseinandersetzung mit den kultischen Renovationsbestrebungen unserer Zeit und deren Nähe zur römischen Kult- und Mysterienreligion ebenbürtig neben Mezgers systematischer Fundierung steht. Mehr als Zustimmung und Anmerkung zu diesen beiden Büchern wollen die absichtlich etwas geschärften Äußerungen dieses Aufsatzes nicht sein.
Kirchliche Ordnung in Gottesdiensten und in allem Kultus der Amtshandlungen ist desto mehr evangelisch, je mehr sie frei, natürlich, schlicht und profan ist und so die Gemeinden, soweit dies menschlicher Ordnung möglich ist, freigibt auch für das Verständnis der Anmut und Würde der fröhlichen Botschaft. Nicht Bundeslade und nicht Tempel, sondern die Verheißung allein läßt uns ruhen und wandern in und aus dieser höchst profanen Welt, „der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht“, denn die Gnade allein ist das Kontinuum der Kirche und nicht die fromme und schöne Welt des Kultus, die vergeht mit ihrer Lust.
Quelle: Evangelische Theologie 18 (1958), S. 135-141.
[1] und zwar ganz, bis auf die Hände, 1. Tim. 2,8. Das Prädikat heilig wird aber im Neuen Testament mit Ausnahme von Jesus nicht bestimmten einzelnen Personen erteilt. Mark. 6,20 ist die Meinung des Herodes vom Täufer, und die Stellen 1. Kor. 7,34, Apok. 20,6 u. 22,11 geben die Einzahl als abstraktes Kollektivum. Auch Eph. 3,8 ist nur eine scheinbare Ausnahme: Paulus, der Geringste aller Heiligen. Wir sollten es uns abgewöhnen, dieses Prädikat mit Personennamen zu verbinden, auch wenn es feste und vor allem kultische Tradition ist.