Am 2. August erscheint bei Droemer Knaur das Buch von Alexei Nawalny, Schweig nicht. Reden vor Gericht. In seiner Rede vom 20. Februar 2021 vor dem Moskauer Stadtgericht verbindet er die Gerechtigkeitsfrage mit seinem Glauben an Gott:
Über Gott und die Gerechtigkeit
Von Alexej Nawalny
Tja, ich soll also mein Schlusswort sprechen – spreche ich also mein Schlusswort. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch sagen soll, Euer Ehren. Soll ich mit Ihnen vielleicht über Gott und Erlösung reden? Den Pathos-Hebel auf Maximum stellen? Die Sache ist nämlich die: Ich bin ein gläubiger Mensch. Bei der Anti-Korruptions-Stiftung und in meinem Umfeld werde ich eher damit aufgezogen, die Leute sind da meist Atheisten, und ich war auch mal einer, sogar ein ziemlich militanter. Aber jetzt bin ich ein gläubiger Mensch, und das hilft mir sehr bei dem, was ich tue. Es macht alles viel, viel einfacher. Ich grüble weniger, ich habe weniger Dilemmas in meinem Leben — denn es gibt da so ein Buch, das mehr oder weniger genau beschreibt, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich daran zu halten, aber ich versuche es im Großen und Ganzen. Und deshalb fällt es mir wohl leichter als vielen anderen, in Russland Politik zu machen.
Kürzlich hat mir jemand geschrieben: »Du, Nawalny, warum sagen dir eigentlich ständig alle: Halt durch, gib nicht auf, du musst es überstehen, beiß die Zähne zusammen … Aber was hast du denn eigentlich zu überstehen? Du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Dann geht es dir doch bestens!« Und ich dachte mir: Da versteht mich ja jemand richtig gut! Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedauere auch keinesfalls meine Rückkehr und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit getan habe, was in der Anweisung steht. Ich habe das Gebot nicht verraten.
Eine wichtige Sache noch. Für den modernen Menschen klingt dieses Gebot natürlich viel zu pathetisch: »selig«, »hungert und dürstet nach Gerechtigkeit« … Ja, es klingt ziemlich abgedreht. Ganz ehrlich: Menschen, die so was sagen, wirken schlichtweg verrückt. Es sitzt also irgendein Verrückter mit zerzausten Haaren in seiner Zelle und versucht, sich aufzumuntern. Solche Menschen sind natürlich einsam, sie sind allein, weil niemand sie braucht.
Und das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat, was unser ganzes System solchen Menschen sagen will: »Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger.« Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist. Denn was für ein normaler, vernünftiger Mensch hält sich an irgend so ein Gebot? Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig. Es ist ein sehr wichtiges Ziel dieses Regimes. Übrigens hat die großartige Philosophin Luna Lovegood es ausgezeichnet auf den Punkt gebracht. Wissen Sie noch, die aus Harry Potter? Als sie sich in einer schwierigen Zeit mit Harry Potter unterhält, sagt sie: »Es ist wichtig, sich nicht einsam zu fühlen. Denn an Voldemorts Stelle würde ich sehr wollen, dass du dich einsam fühlst.« Unser Voldemort in seinem Palast will das natürlich auch.
Übersetzt von Alexandra Berlina.
Das ist eine starke Aussage. Ich bete fast täglich für ihn und für alle Menschen guten Willens, aber ich wusste nicht, dass er gläubig ist. Herzlichen Dank für diesen Text, er macht mir Mut.