Der Nationalismus. Seine frühere Vernachlässigung und gegenwärtige Macht[1]
Von Isaiah Berlin
I
Die Ideengeschichte ist ein reiches, aber zugleich auch relativ unpräzises Forschungsgebiet, dem die Fachleute der exakteren Wissenschaften mit verständlichem Argwohn begegnen, aber dafür bietet sie viel Überraschendes und Lohnendes. Dazu gehört die Entdeckung, daß manche der vertrautesten Werte unserer eigenen Kultur jünger sind, als man zunächst vielleicht annimmt. Integrität und Aufrichtigkeit etwa gehörten nicht zu den Eigenschaften, die man in der antiken und mittelalterlichen Welt bewundert hat, ja sie wurden kaum erwähnt, denn die objektive Wahrheit wurde am höchsten geschätzt und daß alles seine richtige Ordnung hatte, gleichgültig, wie man es dahin brachte. Die Auffassung, daß Vielfalt erstrebenswert, Einförmigkeit hingegen monoton sei, trostlos und fade, eine Fessel des frei schweifenden menschlichen Geistes – »so cimmerisch, so totenhaft«, wie Goethe über Holbachs Système de la nature sagte –, steht in scharfem Kontrast zu der traditionellen Überzeugung, daß es nur eine Wahrheit gibt und der Irrtum viele Gestalten hat, eine Ansicht, die kaum vor dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts – keinesfalls früher – in Frage gestellt wurde. Der Begriff der Toleranz, nicht als nützliches Mittel, um zerstörerischen Streit zu vermeiden, sondern als ein Wert an sich, die Begriffe von Freiheit und Menschenrechten, wie sie heute diskutiert werden, oder das Genie als Verachtung der Regeln durch einen uneingeschränkten Willen, der auf jeder Ebene die Fesseln des Verstandes abstreift, alle diese Begriffe gehören zu einem großen Umbruch im abendländischen Denken und Fühlen im achtzehnten Jahrhundert, dessen Konsequenzen heutzutage in verschiedenen Gegenrevolutionen in allen Lebensbereichen unübersehbar sind. Dies ist ein großes Thema, das ich nicht direkt behandeln, sondern nur von einer bestimmten Seite her beleuchten möchte.
II
Wie wir alle wissen, stand das neunzehnte Jahrhundert im Zeichen eines ungeheuren Aufschwungs historischer Forschung. Es gibt viele Erklärungen für dieses Phänomen: die revolutionäre Umgestaltung des Lebens wie des Denkens im Zuge der rapiden und triumphalen Entwicklung der Naturwissenschaften, besonders der technischen Erfindungen und der großen Industrie in ihrem Gefolge; der Aufstieg neuer Staaten, Klassen und Herrscher, die auf der Suche nach Ahnen waren; der Zerfall der alten Religionen und gesellschaftlichen Institutionen als Folge der Renaissance-Weltlichkeit und der Reformation – all dies lenkte die Aufmerksamkeit auf das Phänomen des Wandels und des Neuen in der Geschichte. Der Ansporn für historische und überhaupt alle genetischen Untersuchungen war erstaunlich. Es gab einen völlig neuartigen Sinn für kontinuierlichen Fortschritt oder zumindest für Bewegung und Wandel im Leben der menschlichen Gesellschaft. Deshalb ist es nicht überraschend, daß die großen Denker dieser Epoche die Gesetze des sozialen Wandels entdecken wollten. Die Erwartung schien begründet, daß die neuen Methoden der Naturwissenschaften, die sich bei der Erklärung der Natur und der Gesetze der äußeren Welt so eindrucksvoll bewährt hatten, denselben Dienst auch für die menschliche Welt leisten könnten. Wenn sich solche Gesetze überhaupt entdecken ließen, dann mußten sie ebenso wie für die Vergangenheit auch für die Zukunft gelten. Die Voraussage der menschlichen Zukunft durfte nicht mehr den mystischen Propheten und den Interpreten der apokalyptischen Bücher der Bibel, den Astrologen und den okkultistischen Scharlatanen überlassen bleiben, sondern sollte ein wohlorganisiertes Feld wissenschaftlicher Erkenntnis werden.
Diese Hoffnung trieb die neuen Geschichtsphilosophien an und ließ ein völlig neues Gebiet sozialwissenschaftlicher Untersuchungen entstehen. Die neuen Propheten wollten für ihre Aussagen über die Vergangenheit ebenso wie über die Zukunft wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen. Obwohl manches von dem, was sie schrieben, einer üppigen, ungezügelten und manchmal krankhaft selbstgefälligen Phantasie entsprang oder zumindest höchst spekulativ war, ist der allgemeine Ertrag sehr viel respektabler, als man gewöhnlich annimmt. Condorcets Prophezeiung einer umfassenden und systematischen Naturwissenschaft vom Menschen und damit zugleich des Endes von Verbrechen, Torheit und Elend, an denen Trägheit, Unwissenheit und Irrationalität allein schuld seien, mag zu optimistisch gewesen sein. In der Finsternis seines Gefängnisses entwarf er 1794 ein leuchtendes Bild einer neuen, tugendhaften und glücklichen Welt, die, von geistig und moralisch frei gewordenen Menschen durch die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Organisation der Gesellschaft geschaffen, zu einer harmonischen Gemeinschaft der Nationen, zu einem ununterbrochenen Fortschritt in den Künsten und Wissenschaften und zum ewigen Frieden führen werde. Dieser Optimismus war offenkundig übertrieben, aber die Fruchtbarkeit der Anwendung der mathematischen und besonders der statistischen Verfahren auf gesellschaftliche Probleme war eine originelle und zugleich wichtige Prophezeiung.
Der geniale Saint-Simon hat, wie jeder weiß, den nicht aufzuhaltenden Siegeszug der technokratischen Ordnung vorhergesagt. Er sprach von der kommenden Vereinigung von Wissenschaft, Finanz- und industrieller Organisation, und in dieser neuen Welt der von Wissenschaftlern unterstützten Produzenten würde die kirchliche Indoktrination durch einen neuen Typus von Propagandisten ersetzt werden, durch Künstler, Dichter und Priester einer neuen, weltlichen Religion, die die Gefühle der Menschen mobilisieren würde, ohne welche die neue industrielle Welt nicht funktionieren könne. Saint-Simons Schüler Auguste Comte forderte und prophezeite eine autoritäre Kirche, die die rationale, nicht aber demokratische oder liberale Gesellschaft und ihre wissenschaftlich geschulten Bürger erziehen und kontrollieren würde. Ich will mich bei der Frage der Richtigkeit dieser Prophezeiung nicht weiter aufhalten, denn die Verbindung von technischem Können und absoluter Autorität einer weltlichen Priesterschaft ist in unseren Tagen unübersehbare Wirklichkeit geworden. Wenn diejenigen, die geglaubt hatten, daß Vorurteil, Unwissenheit, Aberglaube und ihre Verkörperungen in irrationalen und repressiven Gesetzen (im ökonomischen, politischen, rassischen und sexuellen Bereich) von der neuen Aufklärung hinweggeschwemmt würden, ihre Erwartungen nicht erfüllt fanden, so wird dadurch nicht das Verdienst geschmälert, die neuen Entwicklungen in Westeuropa erkannt zu haben. Eben diese von Bentham und Macaulay verkündete Vorstellung einer rationalen, von allem Ballast befreiten und alles erfassenden neuen Ordnung beunruhigte Mill und Tocqueville und wirkte zutiefst abstoßend. Fourier wiederum, der auch viel Unsinniges von sich gegeben hat, wetterte gegen die Übel eines Handels und einer Industrie, die in ungezügeltem ökonomischen Konkurrenzkampf standen und zu einer mutwilligen Zerstörung oder Verfälschung der Früchte menschlicher Arbeit durch diejenigen führten, die nur an ihren Profit dachten. Er erklärte, daß die zunehmend zentralisierte Kontrolle großer Menschengruppen zu Knechtschaft und Entfremdung führen werde, und plädierte dafür, der Repression ein Ende zu machen und die erforderliche rationale Kanalisierung der Leidenschaften einer sorgfältigen beruflichen Lenkung anzuvertrauen, die allen menschlichen Wünschen, Fähigkeiten und Neigungen die Möglichkeit geben werde, sich frei und schöpferisch zu entwickeln. So grotesk Fouriers Phantasien auch sein mochten, diese Gedanken waren nicht widersinnig, und viele seiner Voraussagen sind heute zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Jeder ist sich der verhängnisvollen Genauigkeit bewußt, mit der Tocquevilles sorgenvolle Voraussage der Gleichförmigkeit und Monotonie des demokratischen Egalitarismus eingetroffen ist, was immer man von den Patentrezepten halten mag, mit denen er ihre Auswirkungen mildern wollte. Auch kenne ich niemanden, der bestreiten würde, daß Karl Marx, bei allen seinen Irrtümern, eine einzigartige prognostische Kraft bewiesen hat, indem er viele wesentliche Faktoren, die zu seiner Zeit wirksam waren und seinen Zeitgenossen verborgen blieben, richtig erkannt hat: die Konzentration und Zentralisierung der Produktionsmittel in privaten Händen, den unerbittlichen Vormarsch der Industrialisierung, den Aufschwung und die Entwicklung des damals noch kaum vorhandenen Großkapitals und die damit einhergehende unvermeidliche Verschärfung der gesellschaftlichen und politischen Konflikte. Auch hat er nicht ganz ohne Erfolg die politischen und moralischen, philosophischen und religiösen, liberalen und wissenschaftlichen Maskierungen durchschaut, mit denen einige der brutalsten Erscheinungsformen dieser Konflikte und ihre sozialen und geistigen Folgen kaschiert wurden. Diese Männer waren große Propheten, aber es gab noch andere. Der brillante und unberechenbare Bakunin hat genauer als sein großer Rivale Marx die Situationen vorausgesagt, in denen es zu großen Erhebungen der Besitzlosen kommen werde, und er hat richtig gesehen, daß sie sich wahrscheinlich nicht in den am stärksten industrialisierten Gesellschaften, unter Bedingungen ökonomischen Fortschritts, sondern in den Ländern entwickeln würden, in denen die Bevölkerung nahe am Existenzminimum lebt und bei einer Erhebung am wenigsten zu verlieren hat – unter primitiven Bauern in rückständigen bäuerlichen Gebieten von äußerster Armut, wo der Kapitalismus äußerst schwach entwickelt war, wie in Spanien oder in Rußland. Bakunin hätte keine Schwierigkeiten, die Gründe der großen sozialen Erhebungen in Asien und Afrika heute zu verstehen. Die Reihe ließe sich fortsetzen: Heinrich Heine prophezeite in einer Botschaft an die Franzosen in den frühen Jahren der Herrschaft Louis-Philipp es, daß eines schönen Tages ihre deutschen Nachbarn, aufgestachelt durch eine Verbindung von historischen Erinnerungen und Ressentiments mit metaphysischem und moralischem Fanatismus, über sie herfallen und die großen Denkmäler der abendländischen Kultur zerstören würden – »weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen … gleich den ersten Christen, die man ebenfalls weder durch leibliche Qualen noch durch leibliche Genüsse bezwingen konnte«. Diese ideologisch vergifteten Barbaren würden Europa in eine Wüste verwandeln. Lassalle predigte den Staatssozialismus und sah ihn vielleicht kommen – die Volksdemokratien unserer Tage, die man ebensogut als Staatskommunismus wie als Staatskapitalismus bezeichnen kann, ein Bastard, den Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms scharf verurteilt hat.
Etwa ein Jahrzehnt später sah Jacob Burckhardt die militärisch-industriellen Machtkomplexe kommen, die die dekadenten Länder des Abendlandes unvermeidlich beherrschen würden. Max Weber hatte keinerlei Zweifel, daß die Macht der Bürokratie wachsen werde, und Durkheim warnte vor der Gefahr der Anomie. Es folgten all die Alpträume von Samjatin, Aldous Huxley und Orwell, halb Satire und halb Prophetie unserer Zeit. Einiges blieb bloße Prophezeiung, während sich anderes, zumal die Prophezeiungen der Marxisten oder die von Heine angekündigte Barbarei, die die Vorstellungswelt der Rassisten und neu-heidnischen Irrationalisten beherrschte, vielleicht in gewissem Sinne durch sich selbst erfüllte. Das neunzehnte Jahrhundert hat noch viele andere Utopien und Prognosen hervorgebracht, liberale, sozialistische, technokratische und solche, die von neumittelalterlichem Heimweh getragen waren und sich nach einer weitgehend imaginären »Gemeinschaft« in der Vergangenheit sehnten – Systeme, die größtenteils heute zu Recht vergessen sind.
Dieses große Aufgebot an ausgefeilten und von Statistiken unterstützten Futurologien und Phantasien hat eine ganz bestimmte Lücke. Es gab eine Bewegung, die das europäische neunzehnte Jahrhundert so weitgehend beherrschte und die so bestimmend und vertraut war, daß es schon einer bewußten Anstrengung bedurfte, sich eine Welt vorzustellen, in der sie keine Rolle spielte. Sie hatte Anhänger und Feinde, demokratische, aristokratische und monarchistische Richtungen, sie inspirierte Tatmenschen und Künstler, geistige Eliten und die Massen, aber merkwürdigerweise hat ihr, soweit ich weiß, kein maßgeblicher Denker eine Zukunft vorhergesagt, in der sie eine noch beherrschendere Rolle spielen würde. Trotzdem kann man sie ohne Übertreibung zu den mächtigsten Bewegungen in der heutigen Welt zählen, in manchen Gebieten ist sie sicherlich sogar die mächtigste, und nicht wenige, die diese Entwicklung nicht vorhersahen, haben dafür mit ihrer Freiheit, ja sogar mit ihrem Leben bezahlt. Diese Bewegung ist der Nationalismus. Kein einflußreicher Denker hat, soviel ich weiß, ihre Zukunft geahnt. Jedenfalls hat niemand sie ausdrücklich vorausgesagt. Die einzige mir bekannte Ausnahme ist der unterschätzte Moses Heß, der 1862 in seinem Buch Rom und Jerusalem behauptete, daß die Juden die historische Mission hätten, Kommunismus und Nationalität zu vereinen. Aber das war mehr Zuspruch als Prophezeiung, und das Buch fand so gut wie keine Leser, außer später bei den Zionisten.
Es ist offensichtlich, daß heute die meisten der in den Vereinten Nationen vertretenen souveränen Staaten in ihrem Verhalten sehr weitgehend von starken nationalistischen Leidenschaften bestimmt sind, sogar mehr noch als ihre Vorgänger im Völkerbund. Ich vermute, daß dies die meisten der Propheten des neunzehnten Jahrhunderts überrascht hätte, unabhängig von ihrer Intelligenz und ihrem politischen Weitblick. Denn die meisten gesellschaftlichen und politischen Beobachter der damaligen Zeit, ob selbst Nationalisten oder nicht, haben im allgemeinen mit einem Abflauen dieses Gefühls gerechnet. Man hielt den Nationalismus in Europa im großen und ganzen für eine vorübergehende Erscheinung. Der Wunsch der meisten Menschen, Bürger eines Staates zu sein, dessen Gebiet mit dem der Nation zusammenfiel, die sie als die ihre ansahen, erschien als etwas Selbstverständliches oder zumindest als das Ergebnis einer historisch-politischen Entwicklung, deren Ursache und zugleich Folge das Anwachsen des Nationalbewußtseins war, jedenfalls im Westen. Der Nationalismus als Gefühl und als Ideologie hingegen wurde – meines Erachtens zu Recht – nicht mit dem Nationalbewußtsein selbst gleichgesetzt.
Das Bedürfnis, zu einer leicht identifizierbaren Gruppe zu gehören, galt mindestens seit Aristoteles als ein natürliches Bedürfnis der Menschen: Familien, Sippen, Stämme, Stände, gesellschaftliche Ordnungen, Klassen, religiöse Organisationen, politische Parteien und schließlich Nationen und Staaten waren historische Formen der Erfüllung dieses Grundbedürfnisses. Zwar war keine bestimmte dieser Formen für das menschliche Leben so notwendig wie Nahrung oder Schutz, Sicherheit und Fortpflanzung, aber irgendeine von ihnen war unerläßlich, und verschiedene Theorien waren aufgestellt worden, um den historischen Wandel dieser Formen zu erklären, von Platon und Polybios bis zu Machiavelli, Bossuet, Vico, Turgot, Herder, Saint-Simon, Hegel, Comte, Marx und ihren modernen Nachfolgern. Gemeinsame Abstammung, gemeinsame Sprache, Gebräuche, Traditionen, Erinnerungen und der ununterbrochene Besitz desselben Territoriums über lange Zeit wurden als konstitutiv für die Gesellschaft angesehen. Diese Art von Homogenität unterstrich die Unterschiede zwischen einer Gruppe und ihren Nachbarn, das Vorhandensein eines stammesmäßigen, kulturellen oder nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls und zugleich eines oft von heftiger Abneigung oder Verachtung begleiteten Gefühls für die Unterschiede gegenüber anderen Gruppen mit anderen Gebräuchen und anderen, wirklichen oder mythischen, Ursprüngen. So wurde die Nationalstaatlichkeit zugleich erklärt und gerechtfertigt. Die Briten, Franzosen, Spanier, Portugiesen und die skandinavischen Völker hatten sie schon vor dem neunzehnten Jahrhundert erreicht, nicht hingegen die Deutschen, Italiener, Polen und die Völker des Balkans und des Baltikums. Die Schweizer hatten eine völlig eigene Lösung gefunden. Die Koinzidenz von staatlichem Territorium und Nation galt allgemein als wünschenswert, außer bei den Vertretern der dynamischen Vielvölkerstaaten Rußland, Österreich und der Türkei und bei den Imperialisten, den sozialistischen Internationalisten, Anarchisten und vielleicht einigen ultramontanen Katholiken. Die meisten politischen Denker, ob sie es guthießen oder nicht, sahen darin eine notwendige Phase der sozialen Entwicklung. Während einige hofften oder fürchteten, daß diese Phase von anderen politischen Strukturen abgelöst würde, schienen andere sie für »natürlich« und dauerhaft zu halten. Der Nationalismus hingegen, die Erhebung des Interesses der Einheit und Selbstbestimmung der Nation zum höchsten Wert, dem im Konfliktfalle alle anderen Erwägungen untergeordnet werden mußten – eine Ideologie, für die deutsche und italienische Denker offenbar besonders anfällig waren -, schien den liberalen Beobachtern eine vorübergehende Erscheinung zu sein, eine Folge der Verletzung des Nationalbewußtseins, das von despotischen Herrschern mit Unterstützung der Kirchen niedergehalten und gewaltsam unterdrückt worden war.
Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schienen die Bemühungen um die politische Einheit und Selbstbestimmung der Deutschen und der Italiener auf dem besten Wege, ihr Ziel zu erreichen. Diese vorherrschende Tendenz würde auch zur Befreiung der unterdrückten Nationen in den Vielvölkerstaaten führen, und dann werde sich der Nationalismus als pathologische Überreizung eines verletzten Nationalbewußtseins legen: Er sei durch Unterdrückung entstanden und werde mit ihr verschwinden. Das schien länger zu dauern, als die Optimisten erwarteten, aber etwa 1919 war das Grundrecht auf nationale Selbstbestimmung allgemein anerkannt. Der Vertrag von Versailles, der das Recht auf nationale Unabhängigkeit anerkannte, mochte vielleicht sonst nicht viel erreichen, auf jeden Fall aber erwartete man, daß er die sogenannte nationale Frage lösen werde. Es gab natürlich das Problem des Rechtes verschiedener nationaler Minderheiten in den neuen Nationalstaaten, aber dieses ließ sich durch den neuen Völkerbund garantieren. Denn wenn es irgend etwas gab, was diese Staaten, schon von ihrer eigenen Geschichte her, verstehen mußten, dann war es die Notwendigkeit, dem Wunsch ethnischer oder kultureller Minderheiten nach Autonomie zu entsprechen. Es mochte andere ungelöste Probleme geben, wie koloniale Ausbeutung, soziale und politische Ungleichheit, Unwissenheit, Armut, Ungerechtigkeit, Korruption und Privilegien, aber nach Auffassung der aufgeklärtesten Liberalen und ebenso der Sozialisten würde der Nationalismus zurückgehen, da die tiefsten Wunden der Nationen allmählich zu verheilen begannen.
Die Marxisten und andere radikale Sozialisten gingen noch weiter. Für sie war das Nationalgefühl selbst eine Form von falschem Bewußtsein, eine Ideologie, die, bewußt oder nicht, durch die ökonomische Vorherrschaft einer bestimmten Klasse, der Bourgeoisie im Verein mit den Resten der alten Aristokratie, erzeugt und als Waffe zur Bewahrung und Erweiterung der Klassenherrschaft benutzt wurde, die ihrerseits auf der Ausbeutung der Arbeitskraft des Proletariats beruhte. Wenn die Zeit reif sei, dann würden die Arbeiter, durch den Produktionsprozeß selbst zu einer disziplinierten Kraft geworden, die ständig wuchs und an politischem Bewußtsein und an Macht gewann, ihre kapitalistischen Unterdrücker stürzen, und diese würden von der mörderischen Konkurrenz untereinander so geschwächt sein, daß sie kaum zu organisiertem Widerstand fähig wären. Die Expropriateure würden expropriiert werden, die Totenglocke des Kapitalismus ertönen, und das wäre zugleich das Ende der ganzen Ideologie, von der Nationalgefühl, Religion und parlamentarische Demokratie nur bestimmte Aspekte seien. Nationale Unterschiede mochten bestehen bleiben, aber ebenso wie lokale und ethnische Eigenheiten würden sie nicht mehr ins Gewicht fallen gegenüber der Solidarität der Arbeiter der Welt, der assoziierten Produzenten, die bei der Nutzbarmachung der Kräfte der Natur im Interesse der ganzen Menschheit friedlich zusammenarbeiteten. Gemeinsam war diesen Ansichten die Überzeugung, daß der Nationalismus nur eine vorübergehende Folge der Unterdrückung des menschlichen Strebens nach Selbstbestimmung war, eine Stufe des Fortschritts der Menschheit, der auf das Wirken anonymer Kräfte und die damit einhergehenden Ideologien zurückging. Über das Wesen dieser Kräfte waren sich die Theoretiker nicht einig, aber meist nahmen sie an, daß das Phänomen des Nationalismus zusammen mit seinen Ursachen verschwinden werde, die ihrerseits durch den unwiderstehlichen Siegeszug der Aufklärung beseitigt würden, gleichgültig ob man diesen Prozeß nun moralisch oder technologisch begriff – als Sieg der Vernunft oder des materiellen Fortschritts oder auch beider zusammen – und ihn mit den Veränderungen in den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen oder mit dem Kampf für soziale Gleichheit, ökonomische und politische Demokratie und für die gerechte Verteilung der Früchte der Erde gleichsetzte, mit der Überwindung der nationalen Schranken durch den Welthandel oder durch die Triumphe der Wissenschaft und einer auf rationale Prinzipien gegründeten Moral und also mit der eines Tages, früher oder später, allseits erreichten Verwirklichung der menschlichen Fähigkeiten. Angesichts all dessen würden die Ansprüche und Ideale bloß nationaler Gruppen an Bedeutung verlieren und mit anderen Zeugnissen menschlicher Unreife museal werden. Was die Nationalisten in Völkern betraf, die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung bereits erlangt hatten, so wurden sie als Irrationalisten abgeschrieben und, wie die Anhänger Nietzsches, Sorels und die Neuromantiker, nicht weiter ernst genommen. Es war schwer, den wachsenden Nationalismus in den Ländern zu ignorieren, die ihre nationale Einheit bereits weitgehend erreicht hatten, zum Beispiel den deutschen Chauvinismus nach 1871, den französischen Integralismus, den italienischen sacro egoismo oder das Aufkommen rassistischer Theorien und andere Vorboten des Faschismus. Soweit ich weiß, wurde keines dieser Phänomene, wie immer man sie auch erklären mochte, von den Futurologen des späten neunzehnten und der ersten Jahre unseres Jahrhunderts als Vorbote einer neuen Phase der menschlichen Geschichte betrachtet, und zwar weder von den Konservativen noch von den Liberalen oder von den Kommunisten. Kautsky etwa hat das Zeitalter der »Kriege, Krisen, Katastrophen« prophezeit, aber unter den Ursachen, die er dafür anführt, und den Begriffen, in denen er es beschreibt, taucht der Nationalismus, wenn überhaupt, nur als Nebenerscheinung auf, als Teil des »Überbaus«. Soweit ich weiß, hat niemand auch nur geahnt, daß der Nationalismus das letzte Drittel unseres Jahrhunderts so sehr beherrschen würde, daß eine Bewegung oder eine Revolution nur dann eine Chance auf Erfolg hat, wenn sie sich mit ihm verbündet oder zumindest nicht in Opposition zu ihm steht. Diese merkwürdige Blindheit bei ansonsten sehr scharfsinnigen Gesellschaftstheoretikern scheint mir einer Erklärung zu bedürfen oder muß zumindest eingehender diskutiert werden, als dies bisher geschehen ist. Da ich weder Historiker noch Sozialpsychologe bin, will ich mir keine Erklärung dafür erlauben, sondern nur einige Überlegungen anstellen, die vielleicht ein wenig Licht auf dieses merkwürdige Phänomen werfen.
III
Bevor ich dies aber tue, möchte ich etwas über die Ursprünge des europäischen Nationalismus als einer Geisteshaltung sagen. Ich meine damit nicht das Nationalgefühl als solches – dieses kann vermutlich bis zum Gefühl der Stammeszugehörigkeit in den frühesten Phasen der uns bekannten Geschichte zurückverfolgt werden. Ich meine vielmehr dessen Erhebung zu einer bewußten Doktrin, die zugleich Produkt, Ausdrucksform und Synthese von Bewußtseinszuständen ist und von Beobachtern der Gesellschaft als Kraft und als Waffe erkannt wird. In diesem Sinn scheint es Nationalismus weder in der Antike noch im christlichen Mittelalter gegeben zu haben. Die Römer haben die Griechen vielleicht verachtet, und Cicero äußerte sich geringschätzig über die Juden, oder Juvenal über die Orientalen im allgemeinen, aber das alles war lediglich Xenophobie. Es gibt bei Machiavelli oder Shakespeare einen leidenschaftlichen Patriotismus, der schon vor ihnen eine lange Tradition hat. Mit Nationalismus meine ich nicht den bloßen Stolz auf die Abstammung – wir alle sind Söhne des Kadmos, wir kommen alle aus Troja, wir stammen von Männern ab, die mit Gott einen Bund geschlossen haben, wir entstammen einer Rasse von Eroberern, Franken oder Wikingern und herrschen über die Nachkommenschaft der Galloromanen oder der keltischen Sklaven mit dem Recht von Eroberern.
Unter Nationalismus verstehe ich etwas Bestimmteres, etwas ideologisch Bedeutsames und Gefährliches: erstens, die Überzeugung, daß man zu einer besonderen Gruppe von Menschen gehört und daß die Lebensform dieser Gruppe sich von der anderer Gruppen unterscheidet; daß der Charakter der Individuen, aus denen diese Gruppe besteht, von der Gruppe geprägt ist und nicht unabhängig von deren Charakter verstanden werden kann, der seinerseits durch ein gemeinsames Territorium, gemeinsame Sitten, Gesetze, Erinnerungen, Überzeugungen, durch eine gemeinsame Sprache, gemeinsame künstlerische und religiöse Ausdrucksformen, gesellschaftliche Institutionen und Lebensweisen bestimmt ist, wobei manche noch Vererbung, Blutsverwandtschaft und rassische Merkmale hinzufügen. Dies sollen die Faktoren sein, von denen die Menschen, ihre Zwecke und ihre Werte geprägt sind.
Zweitens gehört zum Nationalismus die Überzeugung, daß die Lebensform einer Gesellschaft mit der eines biologischen Organismus vergleichbar ist; daß das, was dieser Organismus für seine eigentümliche Entwicklung braucht und was von den für seine Natur Empfänglichsten in Worten, Bildern oder anderen menschlichen Ausdrucksformen artikuliert wird, den Charakter allgemein verbindlicher Ziele hat; daß diese Ziele der höchsten Werte sind und im Falle des Konfliktes mit anderen – geistigen, religiösen, moralischen, persönlichen oder umfassend allgemeinen – Werten, die sich nicht aus den spezifischen Zwecken dieses bestimmten »Organismus« herleiten, den Vorrang haben sollen, da nur so der Niedergang und Zerfall der Nation abgewendet werden könne. Wenn diese Lebensformen als organische bezeichnet werden, dann soll damit gesagt sein, daß sie nicht von Einzelnen oder von Gruppen in noch so beherrschender Stellung geschaffen werden können, wenn diese nicht ihrerseits von den historisch sich entwickelnden Formen des Handelns, Denkens und Fühlens durchdrungen sind. Denn es sind diese geistigen, emotionalen und physischen Formen des Lebens und der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, vor allem die verschiedenen Formen, wie die Menschen miteinander umgehen, die alles übrige bestimmen und den nationalen Organismus ausmachen – die Nation, gleichgültig, ob sie als Staat existiert oder nicht. Daraus folgt, daß die wesentliche menschliche Einheit, in der die Natur des Menschen sich ganz verwirklicht, nicht das Individuum ist oder ein freiwilliger Verband von Individuen, der willentlich aufgelöst, verändert oder verlassen werden kann, sondern die Nation. Die untergeordneten Einheiten – die Familie, der Stamm, die Sippe, die Provinz – verdanken ihre Existenz also der Schaffung und Erhaltung der Nation, denn ihre Natur und ihr Zweck, ihr Sinn, wie man auch sagt, ist aus der Natur und den Zwecken der Nation abgeleitet, und sie werden nicht durch eine rationale Analyse erkannt, sondern durch ein besonderes, nicht notwendig völlig bewußtes Empfinden für die einzigartigen Beziehungen, die das menschliche Individuum in das unauflösliche und unanalysierbare organische Ganze einbinden, das Burke mit der Gesellschaft, Rousseau mit dem Volk oder Hegel mit dem Staat gleichgesetzt hat, das aber für die Nationalisten nur die Nation, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Struktur oder Regierungsform, ist und sein kann.
Damit hängt, drittens, die Vorstellung zusammen, daß einer der zwingenden Gründe, wenn nicht der zwingendste Grund dafür, eine bestimmte Überzeugung zu haben, eine bestimmte Politik zu verfolgen, einem bestimmten Zweck zu dienen oder in einer bestimmten Weise zu leben, der ist, daß diese Ziele, Überzeugungen, Handlungs- und Lebensweisen unsere sind. Das heißt nichts anderes, als daß diese Regeln, Doktrinen oder Prinzipien nicht deshalb befolgt werden sollen, weil sie zur Tugend führen, zum Glück, zur Gerechtigkeit oder zur Freiheit, weil sie von Gott gewollt sind oder von einer Kirche, einem Fürsten, Parlament oder irgendeiner anderen allgemein anerkannten Autorität, oder weil sie an sich gut oder richtig und deshalb aus eigenem Recht allgemein und für alle Menschen in einer gegebenen Situation gelten. Sie müssen vielmehr befolgt werden, weil diese Werte die Werte meiner Gruppe sind, für den Nationalisten die Werte seiner Nation. Diese Gedanken, Gefühle und Handlungsweisen sind gut und richtig, und ich werde Erfüllung oder Glück finden, wenn ich mich mit ihnen identifiziere, weil sie von der bestimmten Lebensform einer Gesellschaft verlangt werden, in die ich hineingeboren und mit der ich im Sinne Burkes durch unzählige, in die Vergangenheit und Zukunft meiner Nation reichende Bande verbunden bin. Ohne sie wäre ich, um ein anderes Bild zu gebrauchen, nur ein von dem allein lebensspendenden Baum abgebrochener Zweig. Wenn ich also durch irgendwelche Umstände oder durch meine eigene Willensentscheidung davon getrennt werde, dann habe ich kein Ziel mehr und kann nur noch dahinwelken, bestenfalls mit sehnsüchtigen Erinnerungen daran, was es hieß, wirklich lebendig und tätig zu sein und meine Aufgabe im Zusammenhang des nationalen Lebens zu erfüllen, das allein allem, was ich war und tat, Sinn und Wert gab.
In überladener und gefühlsbetonter Prosa von dieser Art haben Herder, Burke, Fichte und Michelet geschrieben, und in ihrer Nachfolge manche Erwecker der nationalen Seele ihrer schlafenden Völker in den slawischen Provinzen der österreichischen Monarchie und des türkischen Reichs oder bei den vom Zaren unterdrückten Nationalitäten und schließlich auf der ganzen Welt. Es ist zwar etwas anderes, ob man mit Burke sagt, daß das Individuum töricht sein könne, die Gattung aber weise sei, oder wie Fichte etwa ein Jahrzehnt später, daß das Individuum verschwinden und von der Gattung aufgesogen und geläutert werden müsse, doch die allgemeine Richtung ist dieselbe. Eine derart wertbeladene Sprache mag sich vielleicht gelegentlich als eine bloß beschreibende ausgeben, die lediglich den Begriff der Nation oder ihrer historischen Entwicklung klären möchte. Aber ihr Einfluß auf das Verhalten war nicht geringer als der der Sprache des Naturrechts, der Menschenrechte, des Klassenkampfes oder jeder anderen Idee, die unsere Welt geprägt hat, und so war es von denen, die diese Sprache sprachen, auch beabsichtigt.
Durch eine Entwicklung, die niemanden zu überraschen braucht, behauptet der voll entwickelte Nationalismus schließlich: Wenn sich die Befriedigung der Bedürfnisse des Organismus, zu dem ich gehöre, als unvereinbar mit der Erfüllung der Ziele anderer Gruppen erweist, dann habe ich oder hat die Gesellschaft, zu der ich unauflöslich gehöre, keine andere Wahl, als diese zu zwingen, das Feld zu räumen, wenn nötig, mit Gewalt. Wenn meine Gruppe, nennen wir sie Nation, ihre wahre Natur frei verwirklichen soll, so schließt dies die Notwendigkeit ein, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen, zu beseitigen. Nichts, was mein höchstes Ziel – das heißt das meiner Nation – in Frage stellt, darf mit ihm gleichrangig sein. Es gibt keinen übergeordneten Maßstab, der es erlauben würde, die verschiedenen Lebenswerte, Eigenschaften und Bestrebungen verschiedener nationaler Gruppen in ein abgestuftes Verhältnis zueinander zu bringen, denn ein solcher Maßstab wäre übernational, wäre nicht einem bestimmten gesellschaftlichen Organismus immanent, nicht ein Teil und Element von ihm, sondern hätte seine Gültigkeit aus einer Quelle außerhalb des Lebens einer bestimmten Gesellschaft, so wie das Naturrecht oder die natürliche Gerechtigkeit von denen begriffen wurde, die daran glaubten. Da aber für diese Auffassung alle Werte und Maßstäbe notwendig einer bestimmten Gesellschaft, einem nationalen Organismus und seiner einzigartigen Geschichte angehören, und der Einzelne oder die Verbände oder Gruppen, zu denen er gehört, alle Werte und Zwecke, wenn sie sich überhaupt verstehen wollen, von daher begreifen, beruhen solche Appelle an universale Werte für den Nationalisten auf einem falschen Verständnis der Natur des Menschen und der Geschichte. Dies ist die Ideologie des Organizismus, der nationalen Treue, des »Volkes« als des wahren Trägers der nationalen Werte, die Ideologie von Integralismus, historischer Verwurzelung, »la terre et les morts« und nationalem Willen. Sie richtet sich gegen die Kräfte von Spaltung und Zerfall, die mit dem abwertenden Vokabular charakterisiert werden, womit man die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf menschliches Geschehen beschreibt – kritischer, »analytischer« Verstand, »kalter« Intellekt, destruktiver, »atomisierender« Individualismus, seelenloser Mechanismus, Fremdeinflüsse, platter Empirismus, wurzelloser Kosmopolitismus, abstrakte Begriffe der Natur, des Menschen, der Rechte, ohne Sinn für die Unterschiede von Kulturen und Traditionen. Diese ganze Typologie und Liste von Feindbegriffen beginnt bei Hamann und Burke, erreicht einen ersten Höhepunkt bei Fichte und seinen romantischen Anhängern, wird von de Maistre und Bonald systematisiert und erreicht einen neuen Höhepunkt in unserem Jahrhundert in den Propagandaschriften des Ersten und Zweiten Weltkrieges und den Verwünschungen, die die irrationalistischen und faschistischen Schriftsteller gegen die Aufklärung und alle ihre Werke richten.
Diese Sprache und das ihr zugrundeliegende Denken, emotional aufgeladen, wie sie es fast immer sind, besitzen selten Klarheit oder Konsistenz. Die Propheten des Nationalismus reden manchmal so, als wenn das höhere, ja sogar höchste Recht der Nation gegenüber dem Einzelnen auf der Tatsache gründe, daß allein das Leben, die Ziele und die Geschichte der Nation allem Sinn und Bedeutung verleihen können, was das Individuum ist und tut. Das scheint aber zu implizieren, daß andere Menschen in derselben Beziehung zu ihrer eigenen Nation stehen, deren Ansprüche an sie gleichermaßen gültig und nicht weniger absolut sind, so daß sie mit der Verwirklichung der Ziele und der »Mission« einer anderen Nation in Konflikt kommen können. Das wiederum scheint theoretisch zu einem kulturellen Relativismus zu führen, der sich schlecht mit dem Absolutismus der Prämisse verträgt, selbst wenn er ihr nicht förmlich widerspricht. Außerdem wird damit dem Krieg aller gegen alle Tor und Tür geöffnet. Es gibt Nationalisten, die dieser Folgerung durch den Beweis entgehen möchten, daß eine bestimmte Nation oder Rasse – etwa die deutsche – anderen Völkern überlegen sei und ihre Ziele die der anderen nach objektivem und übernationalem Maßstab übertreffen; daß gerade diese Kultur Menschen hervorbringe, bei denen die wahren Zwecke der Menschheit einer Verwirklichung näher kommen als bei Menschen außerhalb dieser Kultur. So argumentierte Fichte in seinen späteren Schriften (und dieselbe These findet sich bei Ernst Moritz Arndt und anderen deutschen Nationalisten jener Zeit). Dies ist auch der Sinn des Hegelschen Gedankens von einer höheren Mission der geschichtlichen Völker, die sich zu ihrer Zeit und an ihrem Ort erfüllt. Bei diesen nationalistischen Schriftstellern kann man nie sicher sein, ob sie ihre eigene Nation schätzen, weil sie ist, was sie ist, oder weil allein ihre Werte einem bestimmten objektiven Maßstab oder Ideal nahekommen, das voraussetzungsgemäß nur für diejenigen verständlich ist, die das Glück haben, danach zu leben, während alle anderen Gesellschaften diesem Ideal gegenüber blind sind und es vermutlich immer bleiben werden – darin zeigt sich ihre objektive Unterlegenheit. Die Grenze zwischen diesen beiden Auffassungen ist oft unscharf, aber beide führen zu einer kollektiven Selbstverherrlichung, die im europäischen, vielleicht auch amerikanischen Nationalismus ihren erfolgreichen Ausdruck gefunden hat.
Die Nation ist natürlich nicht der einzige Gegenstand solcher Verehrung. Eine ähnliche Sprache und Rhetorik wurden in der Geschichte verwendet, um die wahren Interessen des Einzelnen mit denen seiner Kirche, seiner Kultur, seiner Kaste, Klasse oder auch Partei zu identifizieren. Manchmal haben diese Interessen sich teilweise gedeckt oder wurden zu einem einheitlichen Ideal verschmolzen, während sie zu anderen Zeiten in Konflikt miteinander gerieten. Doch der machtvollste Aufruf zu Hingabe und Selbstidentifikation ist historisch vom Nationalstaat ausgegangen. Diese Wahrheit ist in besonders verheerender und tragischer Weise offenbar geworden, als sich 1914 die Macht des Nationalstaates über seine Bürger als unvergleichlich stärker erwies als die Klassensolidarität der internationalen Arbeiterbewegung.
Seit seiner Entstehung im achtzehnten Jahrhundert hat der Nationalismus viele Formen angenommen, besonders seit seiner Verschmelzung mit dem Etatismus, der Lehre von der Suprematie des Staates, vor allem des Nationalstaates, in allen Bereichen, und nach seiner Allianz mit den Kräften der Industrialisierung und Modernisierung, die einmal seine geschworenen Feinde gewesen waren. Aber in allen seinen Verkleidungen scheinen die vier Bestimmungen gegeben, die ich oben zu umreißen versuchte: der Glaube an die vorrangige Notwendigkeit, zu einer Nation zu gehören, der Glaube an organische Beziehungen zwischen allen Elementen, die eine Nation ausmachen, an den Wert der eigenen Nation einfach deshalb, weil sie die eigene ist, und schließlich an den absoluten Vorrang ihrer Forderungen gegenüber rivalisierenden Ansprüchen von Autorität und Loyalität. Diese Elemente kann man, in unterschiedlichem Ausmaß und Verhältnis, in all den rapide zunehmenden nationalistischen Ideologien finden, die gegenwärtig die Erde überwuchern.
IV
Es ist vielleicht wahr, daß der Nationalismus im Unterschied zum bloßen Nationalbewußtsein – dem Gefühl, zu einer Nation zu gehören – in erster Linie eine Antwort auf eine herablassende oder herabsetzende Haltung gegenüber den traditionellen Werten einer Gesellschaft ist, Folge von verletztem Stolz und einem Gefühl der Erniedrigung bei ihren sozial bewußtesten Mitgliedern, was schließlich zu Zorn und trotziger Selbstbehauptung führt. Jedenfalls läßt sich dies gut beobachten an der paradigmatischen Entwicklung des modernen Nationalismus, der deutschen Reaktion, von der bewußten Verteidigung der deutschen Kultur in dem relativ gemäßigten literarischen Patriotismus bei Thomasius und Lessing und ihren Vorläufern im siebzehnten Jahrhundert, über Herders Betonung kultureller Autonomie bis zum Ausbruch eines höchst aggressiven Chauvinismus bei Arndt, Jahn, Körner, Görres während und nach der Napoleonischen Besetzung. Aber die Dinge liegen offenbar nicht ganz so einfach. Schließlich hat es Kontinuität der Sprache, der Sitten und des Territoriums seit unvordenklichen Zeiten gegeben, und ebensooft in allen Teilen der Welt Aggression von außen, nicht bloß gegen Stämme oder Völker, sondern gegen große Gesellschaften, die durch eine Religion oder den Gehorsam gegenüber einer eingesetzten Autorität geeint waren. Trotzdem hat dies weder in Europa noch in Asien, weder im Altertum noch im Mittelalter zu der spezifisch nationalistischen Reaktion geführt: Die Perser haben auf ihre Niederlage durch die Griechen nicht so reagiert, ebensowenig die Griechen auf die Herrschaft der Römer, die Buddhisten auf die der Moslems oder die griechisch-römische Kultur, nachdem sie von den Hunnen oder den Türken überrannt worden war, ganz zu schweigen von den unzähligen kleineren Kriegen und der Zerstörung angestammter Institutionen durch Eroberer auf allen Kontinenten.
Selbst mir, der ich nicht behaupten kann, Historiker oder Soziologe zu sein, ist deutlich, daß die dem kollektiven Empfinden einer Gesellschaft oder zumindest ihrer geistigen Führungsschicht zugefügte Wunde zwar vielleicht eine notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bedingung des Nationalismus ist. Die Gesellschaft muß, zumindest potentiell, in sich eine Gruppe oder Klasse von Personen enthalten, die auf der Suche nach einem Brennpunkt der Loyalität, der Selbstidentifikation oder vielleicht nach einer Machtbasis ist, ohne durch die früheren Kräfte des Zusammenhalts noch gestützt zu werden, durch stammesmäßige, religiöse, feudale, dynastische oder militärische Bindungen, wie sie etwa die zentralistische Politik der Monarchien Frankreichs oder Spaniens bot, nicht aber die Fürsten der deutschen Länder. In einigen Fällen werden solche Bedingungen durch das Auftreten neuer gesellschaftlicher Klassen geschaffen, die gegen die bisherigen weltlichen oder klerikalen Herrscher Macht über die Gesellschaft gewinnen wollen. Wenn nun noch die Wunde der Eroberung oder sogar kultureller Erniedrigung von außen hinzukommt, dann kann dadurch, jedenfalls in einer Gesellschaft, die Anfänge einer nationalen Kultur besitzt, der Boden für die Entstehung des Nationalismus bereitet sein.
Trotzdem scheint mir eine weitere Bedingung notwendig: Damit sich in einer Gesellschaft Nationalismus entwickeln kann, müssen wenigstens einige ihrer feinfühligsten Mitglieder ein, vielleicht noch ganz unentwickeltes Bild von ihr selbst als Nation haben, vermöge irgendeines oder mehrerer verbindender Faktoren, wie Sprache, ethnischem Ursprung, einer gemeinsamen, wirklichen oder bloß vorgestellten, Geschichte – Ideen und Gefühle, die in den Köpfen der Gebildeteren und stärker sozial und historisch Orientierten relativ deutlich, in dem Bewußtsein der Mehrheit der Bevölkerung hingegen weniger klar sind oder sogar völlig fehlen können. Wenn dieses nationale Bild ignoriert oder verletzt wird, werden die, die es haben, anfällig für Ressentiments, und einige von ihnen werden zu einer bewußten Intellektuellenschicht, besonders wenn sie mit einem gemeinsamen Feind im Staat selbst oder außerhalb – einer Kirche oder einer Regierung oder fremden Verleumdern – konfrontiert sind. Das sind dann die Dichter und Romanciers, Historiker und Kritiker, Theologen, Philosophen und so fort, die sich in Wort und Schrift an das Volk wenden und ihm bewußt machen wollen, welche Unbill es als Volk erleidet. So begann der später alle Lebensbereiche erfassende Widerstand gegen die französische Vorherrschaft auf den scheinbar entlegenen Gebieten der Ästhetik und der Literaturkritik. (Auf die spezifischen Ursachen der Reaktion gegen den französischen Neoklassizismus in England und der Schweiz möchte ich hier nicht eingehen.) In den deutschen Ländern wurde dieser Widerstand zu einer gesellschaftlichen und politischen Kraft, zum Nährboden des Nationalismus. Er äußerte sich als die bewußte Bemühung der Schriftsteller, sich selbst und die anderen von dem zu befreien, was sie als erstickenden Zwang empfanden – zunächst von den despotischen Dogmen der maßgebenden französischen Ästhetiker, die eine freie Entfaltung des Geistes hemmten.
Aber außer den arroganten Franzosen gab es noch einheimische Tyrannen, die über die Gesellschaft und nicht nur über die Ästhetik herrschten. Die große individuelle Empörung gegen die Regeln und Vorschriften einer drückenden und philisterhaften Gesellschaft, die als »Sturm und Drang« bekannt ist, wollte alle Mauern und Schranken des gesellschaftlichen Lebens unmittelbar niederreißen: Unterwürfigkeit und Servilität unten, Brutalität, Willkür, Arroganz und Unterdrückung oben, Verlogenheit und »das Geplapper und Gewinsel der Scheinheiligkeit«, wie Burke es genannt hat, auf jeder Ebene. Man begann, die Gültigkeit aller Gesetze in Frage zu stellen, alle angeblich von Gott oder der Natur oder auch vom Fürsten auferlegten Regeln, die Autorität verliehen und unbedingten Gehorsam verlangten. Gefordert wurden Freiheit des Ausdrucks der eigenen Persönlichkeit, der freie Ausdruck des schöpferischen Willens, wie er am reinsten und mächtigsten bei den Künstlern sich zeige, aber durchaus allen Menschen gegeben sei.
Für Herder war diese Lebenskraft verkörpert in den Schöpfungen des kollektiven Geistes der Völker, in den Sagen, den Heldengedichten, der Poesie, den Mythen, Gesetzen, Gebräuchen, Liedern, Tänzen, der religiösen und weltlichen Symbolik, den Tempeln, Kathedralen, rituellen Handlungen – alles Formen des Ausdrucks und der Verständigung, die kein einzelner Autor und keine identifizierbare Gruppe geschaffen hatten, sondern die Einbildungskraft und der Wille der ganzen Gemeinschaft, die kollektiv und unpersönlich waren und sich auf verschiedenen Bewußtseinsebenen äußerten. So, glaubte er, würden die vertrauten und ungreifbaren Bande geschaffen, durch die eine Gesellschaft sich als ein zusammenhängendes, organisches Ganzes entwickle.
Die Vorstellung eines schöpferischen Vermögens, das in Individuen und ganzen Gesellschaften gleichermaßen wirkte, trat an die Stelle des Begriffs zeitloser, objektiver Wahrheiten, ewiger Muster, durch deren Befolgung allein die Menschen Glück, Tugend, Gerechtigkeit oder jede andere eigentliche Erfüllung ihrer Natur erlangen könnten. Hieraus entstand die neue Sicht des Menschen und der Gesellschaft, die Lebenskraft, Bewegung und Wandel betonte, worin sich Einzelne oder Gruppen eher unterschieden als glichen, den Reiz und den Wert von Mannigfaltigkeit, Einzigartigkeit und Individualität, eine Anschauung, für die die Welt ein Garten ist, in dem jeder Baum und jede Blume in der ihnen eigenen Weise wachsen und das verkörpern, was die Umstände und ihre eigene, individuelle Natur hervortreiben, so daß keine nach den Formen und Zielen anderer Organismen beurteilt werden darf. Damit wurde die herrschende philosophia perennis in Frage gestellt, der Glaube an Allgemeingültigkeit, Gleichförmigkeit, Universalität und an die zeitlose Gültigkeit objektiver und ewiger Gesetze und Regeln, die überall, zu jeder Zeit und für alle Menschen und Dinge verbindlich waren, ein Glaube, dessen säkulare und naturalistische Version von den Häuptern der französischen Aufklärung unter dem Eindruck des Siegeszuges der Naturwissenschaften und der Mathematik vertreten wurde und aus dessen Perspektive sich die deutsche Kultur – religiös, literarisch, introspektiv; zum Mystizismus neigend, erdrückend provinziell oder bestenfalls ein schwacher Abklatsch der Kultur des Westens – so ärmlich ausnahm.
Ich möchte damit nicht behaupten, daß dieser entscheidende Gegensatz, zumindest am Anfang, mehr gewesen wäre als eine Vision in den Köpfen einer kleinen Gruppe deutscher Dichter und Kritiker. Aber es waren diese Schriftsteller, die sich am stärksten von der gesellschaftlichen Veränderung betroffen fühlten, die Deutschland, besonders Preußen, unter den verwestlichenden Reformen Friedrichs des Großen durchmachte. Von aller wirklichen Macht abgeschnitten, unfähig, sich in die bürokratische Ordnung, die den traditionellen Lebensformen übergestülpt wurde, zu fügen, mit einem sehr ausgeprägten Bewußtsein der Unvereinbarkeit ihrer im wesentlichen protestantisch-christlichen, moralistischen Gesinnung mit der wissenschaftlichen Einstellung der französischen Aufklärung und verfolgt vom kleinlichen Despotismus unzähliger Duodezfürsten, reagierten die Begabtesten und Unabhängigsten unter ihnen auf die Untergrabung ihrer Welt seit den Erniedrigungen ihrer Großväter durch die Armeen Ludwigs XIV mit wachsender Empörung. Dem seichten Materialismus und Nützlichkeitsdenken und dem substanzlosen, entmenschlichten Schattenspiel der Welt der französischen Philosophen stellten sie die Tiefe und Poesie der deutschen Tradition gegenüber, mit ihrem Vermögen einer schwankenden, aber authentischen Einsicht in die unausschöpfliche und unausdrückbare Vielfalt des Lebens des Geistes. Das ist die Wurzel der romantischen Bewegung, die, zumindest in Deutschland, den kollektiven Willen, der sich durch die mit rationalen Methoden zu entdeckenden Regeln nicht einschränken ließ, pries und das geistige Leben des Volkes verherrlichte, an dessen Tätigkeit oder überindividuellem Willen schöpferische Individuen teilhatten, den sie aber nicht beobachten oder beschreiben konnten. Der Begriff des politischen Lebens als Ausdruck dieses kollektiven Willens ist die Quintessenz der politischen Romantik, das heißt des Nationalismus.
Ich möchte noch einmal wiederholen, daß der Nationalismus mir zwar eine Antwort auf eine der Gesellschaft zugefügte Wunde zu sein scheint, daß diese Verletzung jedoch eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung des nationalistischen Geltungsdrangs ist. Die Wunden, die Gesellschaften einander seit unvordenklichen Zeiten zufügen, haben keineswegs immer eine nationalistische Antwort provoziert. Dazu bedarf es mehr, nämlich einer neuen Vorstellung vom Leben, mit der sich die verletzte Gesellschaft oder die Klassen und Gruppen, die durch den politischen oder sozialen Wandel entwurzelt wurden, identifizieren und um welche sie sich sammeln können, um ihr kollektives Leben wiederherzustellen. So kann man die slawophilen und die populistischen Bewegungen in Rußland wie auch den deutschen Nationalismus nur verstehen, wenn man sich die traumatische Wirkung der gewaltsamen und raschen Modernisierung klarmacht, die Peter der Große Rußland oder, in kleinerem Maßstab, Friedrich der Große Preußen aufgezwungen hatte – die Wirkung technologischer Revolutionen, der Entwicklung neuer und des Verfalls alter Märkte, die daraus folgende Zerrüttung des Lebens ganzer Klassen, die fehlende Möglichkeit für die gebildeten Schichten, ihre Fähigkeiten anzuwenden, da sie es aus psychologischen Gründen nicht vermochten, in die neue Bürokratie einzutreten. Im Falle Deutschlands kam noch die Besatzung oder Kolonisierung durch einen mächtigen äußeren Feind hinzu, der die traditionellen Lebensformen zerstörte und die Menschen, vor allem die Empfindlichsten und Selbstbewußtesten unter ihnen, Künstler und Denker welcher Richtung auch immer, eines festen Standpunktes beraubte und sie unsicher und verwirrt machte. Dann entsteht das Bedürfnis nach einer neuen Synthese, nach einer neuen Ideologie, um den Widerstand gegen die Kräfte, die sich ihren Überzeugungen und Lebensformen entgegenstellen, zu erklären und zu rechtfertigen, eine neue Richtung zu weisen und den Menschen einen neuen Orientierungspunkt für ihr Selbstverständnis zu geben.
Dieses Phänomen ist in unserer Zeit, in der es ja keinen Mangel an sozialen und ökonomischen Umwälzungen gibt, bekannt genug. Wo ethnische Bande und die normale historische Erfahrung nicht stark genug sind, um ein Nationalgefühl zu schaffen, kann neuer Orientierungspunkt eine neue Klasse sein, eine Kirche oder, sehr häufig, das Zentrum von Macht und Autorität, der Staat selbst, ob multinational oder nicht. Sie richten das Banner auf, unter dem sich alle sammeln und reorganisieren können, deren traditionelle Lebensformen zerrüttet worden sind – landlose Bauern, ruinierte Grundbesitzer oder kleine Geschäftsleute, arbeitslose Intellektuelle oder Gescheiterte aus den verschiedensten Berufen. Keine dieser Kräfte oder Institutionen hat jedoch, als Symbol oder als Realität, empirisch eine derart einigende und dynamische Kraft entfalten können wie die Nation. Und wenn die Nation mit anderen Objekten der Verehrung – Rasse, Religion oder Klasse – zusammenfällt, ist ihre Anziehungskraft geradezu unvergleichlich.
Die ersten wirklichen Nationalisten, die Deutschen, sind ein gutes Beispiel für die Verbindung von verletztem kulturellen Stolz mit einer philosophisch-historischen Vision, die die Wunde schließen und einen inneren Widerstandsherd ausbilden sollte. Zuerst war es eine kleine Gruppe gebildeter, unzufriedener Franzosenhasser und dann unter dem Eindruck des durch die französischen Armeen und durch Napoleons »Gleichschaltung« erlittenen Debakels eine breite Volksbewegung. Dann wurde daraus die erste große Aufwallung nationalistischer Leidenschaft, mit wildem Chauvinismus der Studenten, Bücherverbrennungen und geheimen Tribunalen gegen die Verräter, ein Vorgang, der der Kontrolle entglitt und das Mißfallen von ruhigen Köpfen wie Goethe und Hegel erregt hat.
Andere Nationen folgen, teils unter dem Einfluß der deutschen Rhetorik, teils weil ihre Verhältnisse den deutschen hinreichend ähnlich waren, um ein ähnliches Elend und dieselben gefährlichen Gegenmittel hervorzurufen. Nach Deutschland ergriff der Nationalismus Italien, Polen und Rußland, schließlich auch die Nationen des Balkans und des Baltikums, Irland und, nach der Katastrophe, auch die dritte französische Republik, und so bis in die heutige Zeit mit ihren Republiken und Diktaturen in Asien und Afrika, dem wilden Nationalismus regionaler Gruppen in Frankreich und England, Belgien und Korsika, Kanada, Spanien, Zypern und sonstwo.
Keiner der Propheten des neunzehnten Jahrhunderts hat, soweit ich sehe, irgend etwas von dieser Art vorausgesehen, und hätte jemand es getan, dann wäre es sicher für zu unwahrscheinlich gehalten worden, um einer Erwägung wert zu sein. Aus welchem Grunde hat man die Wahrscheinlichkeit dieser entscheidenden Bewegung unserer Tage übersehen?
V
Zu den Grundannahmen der rationalen Denker liberaler Einstellung im neunzehnten und in einigen Jahrzehnten unseres Jahrhunderts gehörte, daß die liberale Demokratie die befriedigendste – oder zumindest die am wenigsten unbefriedigende – Gesellschaftsform sei, daß der Nationalstaat die normale Einheit einer unabhängigen, sich selbst regierenden menschlichen Gesellschaft schon immer gewesen oder jedenfalls historisch geworden sei, und schließlich, daß mit der Auflösung der Vielvölkerstaaten (die Herder als ordnungslose politische Monstrositäten angeprangert hatte) in ihre nationalen Bestandteile der Wunsch nach der Vereinigung von Menschen mit gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Sitten, Erinnerungen und Einstellungen endlich erfüllt wäre und eine Gemeinschaft befreiter, sich selbst bestimmender Nationalstaaten – das Junge Italien Mazzinis, das Junge Deutschland, Junge Polen und Junge Rußland – entstehen werde, die unbehindert von den irrationalen Relikten einer knechtischen Vergangenheit in Friede und Harmonie im Geiste des Patriotismus leben werde, nicht mehr vergiftet von einem aggressiven Nationalismus, der selber ein Symptom eines pathologischen, durch Unterdrückung hervorgerufenen Zustandes war. Daß zu dem Treffen der Ersten Internationalen Arbeiterassoziation eine Delegation der Bewegung Mazzinis eingeladen wurde und dort auftrat, so ungern Marx das auch gesehen haben mag, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Diese Überzeugung wurde von den liberalen und demokratischen Begründern der Nachfolgestaaten nach dem Ersten Weltkrieg geteilt, und sie ging in die Verfassung des Völkerbundes ein. Sogar die Marxisten forderten nicht die völlige Aufhebung der nationalen Grenzen, obwohl sie den Nationalismus für historisch reaktionär hielten. Vorausgesetzt, daß die Klassenausbeutung durch die sozialistische Revolution beseitigt sei, könnten freie nationale Gesellschaften nebeneinander leben bis zum Absterben des Staates, den sie als ein Instrument der Klassenherrschaft verstanden.
Keine dieser Ideologien sah ein wachsendes Nationalgefühl und, mehr noch, einen aggressiven Nationalismus voraus. Vielleicht erkannte nur Durkheim, was man, wie mir scheint, sonst durchgängig übersehen hat, daß nämlich die Zerstörung traditioneller Hierarchien und Ordnungen des sozialen Lebens, in denen die Menschen mit ihrer Loyalität sehr tief verankert waren, durch die Zentralisierung und die bürokratische »Rationalisierung«, wie sie der industrielle Fortschritt erforderte und nach sich zog, eine große Anzahl von Menschen ihrer sozialen und gefühlsmäßigen Sicherheit beraubte. Das führte zu den vielerörterten Erscheinungen von Entfremdung, geistiger Entwurzelung und wachsender Anomie und machte es notwendig, durch eine bewußte Gesellschaftspolitik einen psychologischen Ausgleich für die verlorenen kulturellen, politischen und religiösen Werte der vergangenen Ordnung zu schaffen. Die Sozialisten glaubten, daß die Klassensolidarität, die Brüderlichkeit der Ausgebeuteten und die Aussicht auf eine durch die Revolution ermöglicht e gerechte und vernünftige Gesellschaft diesen unerläßlichen Sozialkitt liefern würden, was ihnen bis zu einem gewissen Grade ja auch gelang. Außerdem emigrierten einige der Armen, Entwurzelten und Enteigneten in die Neue Welt. Aber für die große Mehrheit wurde dieses Vakuum weder durch Berufsverbände oder politische Parteien noch durch Sorels revolutionären Mythos ausgefüllt, sondern durch die alten, traditionellen Bande, durch Sprache, Heimatboden, wirkliche oder imaginäre historische Erinnerungen, durch Institutionen oder Führergestalten, die eine Verkörperung der Vorstellungen der Menschen von sich selbst als einer »Gemeinschaft« darstellten – Symbole und Kräfte, die, wie sich herausstellen sollte, sehr viel mächtiger waren, als die Sozialisten oder auch die aufgeklärten Liberalen glauben wollten. Die – manchmal mit geradezu mystischer oder messianischer Inbrunst besetzte – Vorstellung von der Nation als höchster Autorität, die die Kirche, den Fürsten, das Recht oder andere Quellen höchster Werte ersetzte, linderte die Schmerzen des verletzten Gruppenbewußtseins, von wem auch immer sie verursacht waren, von einem äußeren Feind, einheimischen Kapitalisten, imperialistischen Ausbeutern oder einer künstlich auferlegten, seelenlosen Bürokratie.
Ohne Zweifel wurde dieses Gefühl von Parteien und Politikern bewußt ausgebeutet, aber dazu mußte es erst einmal da sein, denn die, die es für ihre eigenen Zwecke benutzten, hatten es nicht erfunden. Es war da und es besaß eine unabhängige, eigenständige Kraft, die mit anderen Kräften verbunden werden konnte, am wirksamsten mit der Macht eines zur Modernisierung entschlossenen Staates, als Verteidigung gegen andere, als fremd oder feindselig empfundene Mächte oder mit besonderen Gruppen, Klassen oder Bewegungen im Staate selbst, mit religiösen, politischen oder ökonomischen Gruppen, mit denen sich die Mehrheit der Gesellschaft instinktiv nicht identifiziert hätte. Dieses Gefühl entwickelte sich und konnte in die verschiedensten Richtungen gelenkt werden, als Waffe der Säkularisierung, Industrialisierung, Modernisierung und der rationalen Nutzung der Ressourcen oder für einen Appell an eine wirkliche oder imaginäre Vergangenheit, irgendein verlorenes, heidnisches oder neumittelalterliches Paradies, die Vision eines mutigeren, einfacheren und reineren Lebens, schließlich auch als die Stimme des Blutes oder eines alten Glaubens, gegen Ausländer, Kosmopoliten oder »Sophisten, Ökonomen und Rechner«, die die wahre Seele des Volkes oder dessen eigentliche Wurzeln nicht verstanden und ihm sein Erbe raubten.
Wer die explosive Macht verkennt, die aus der Verbindung von unverheilten geistigen Wunden gleich welcher Herkunft und dem Bild der Nation als einer Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der noch Ungeborenen entsteht (so unheilvoll das auch sein kann, zumal wenn es bis zum pathologischen Extrem getrieben wird), scheint mir ein ungenügendes Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit an den Tag zu legen, auch wenn er im übrigen noch so klar sehen mag. Das scheint mir für die letzten beiden Jahrhunderte ebenso zu gelten wie für die Gegenwart. Der moderne Nationalismus ist in der Tat auf deutschem Boden entstanden, aber er hat sich auch überall dort entwickelt, wo die Verhältnisse dem Druck der Modernisierung auf die traditionale deutsche Gesellschaft glichen. Ich will damit nicht sagen, daß diese Ideologie unvermeidlich gewesen wäre. Vielleicht hätte sie gar nicht zu entstehen brauchen. Bis heute hat jedenfalls niemand überzeugend bewiesen, daß die menschliche Vorstellungskraft nachweisbaren Gesetzen folgt, und bis heute kann niemand den Gang der Ideen vorhersagen. Wenn dieses Vorstellungsbündel nicht entstanden wäre, hätte die Geschichte vielleicht eine andere Wendung genommen. Es hätte die den Deutschen zugefügten Wunden gegeben, aber sie hätten vielleicht eine andere Linderung gefunden, etwas anderes als das, was Raymond Aron, mit Blick auf die Marxisten, als Opium für Intellektuelle bezeichnet hat, und dann wäre vielleicht alles anders verlaufen. Aber diese Idee ist nun einmal entstanden – mit allen Folgen, die sie gehabt hat und deren Wesen und Bedeutung zu verkennen mir ein Zeichen einer gewissen ideologischen Erstarrung zu sein scheint.
Warum hat man dies nicht gesehen? Zum Teil vielleicht wegen eines Deutungsmusters, das unter den aufgeklärten liberalen (und sozialistischen) Historikern so weit verbreitet ist. Das Bild ist bekannt: auf der einen Seite die Mächte der Finsternis, Kirche, Kapitalismus, Tradition, Autorität, Hierarchie, Ausbeutung, Privilegien; auf der anderen die »Aufklärung«, der Kampf für Vernunft, Wissen und für die Aufhebung der Grenzen zwischen den Menschen, für Gleichheit und Menschenrechte (besonders der arbeitenden Massen), für individuelle und gesellschaftliche Freiheit, für die Minderung von Elend, Unterdrückung, Brutalität, die Betonung der Gemeinsamkeit der Menschen, nicht ihrer Unterschiede. Um es auf die einfachste Formel zu bringen: Diese Unterschiede waren nicht weniger wirklich als die Identität der Gattung, das »Gattungswesen« von Feuerbach und Marx. Das aus diesen Unterschieden entspringende Nationalgefühl fiel auf beide Seiten dieses Gegensatzes zwischen Licht und Finsternis, Fortschritt und Reaktion, so wie das im kommunistischen Lager noch heute der Fall ist. Unterschiede, die nicht beachtet werden, machen sich selbst geltend und erheben sich schließlich gegen alle Bemühungen, sie zugunsten einer unterstellten oder gewünschten Gleichförmigkeit zu übergehen. Wenn Immanuel Kant, dem man kaum eine Neigung zum Irrationalismus nachsagen kann, erklärte: »… aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«, dann hatte er damit nicht unrecht.
Ich möchte noch etwas zu überlegen geben. Mir scheint, daß das Denken des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erstaunlich eurozentrisch war. Selbst was die phantasievollsten und radikalsten politischen Denker über Afrika und Asien sagten, hatte meist etwas merkwürdig Abgehobenes und Abstraktes. Sie dachten über die Asiaten und Afrikaner fast ausschließlich so, wie sie von den Europäern behandelt wurden. Ob Imperialisten oder wohlwollende Paternalisten, ob Liberale oder über Eroberung und Ausbeutung empörte Sozialisten – die Völker Afrikas und Asiens tauchen nur als Mündel oder Opfer Europas auf, aber nur selten, wenn überhaupt, als sie selbst, als Völker mit einer eigenen Geschichte und Kultur, mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die aus ihrem eigenen, wirklichen Charakter und ihren Lebensumständen verstanden werden müssen. Und wo die Existenz solcher eigenständiger Kulturen anerkannt wird, wie etwa im Falle Indiens oder Persiens, Chinas oder Japans, da wird sie weitgehend ignoriert, sobald die Zukunft dieser Gesellschaft zur Sprache kommt. Infolgedessen hat man mit der Möglichkeit, daß sich auf diesen Kontinenten ein wachsender Nationalismus entwickeln könnte, kaum ernstlich gerechnet. Selbst Lenin sieht die nationalen Bewegungen auf diesen Kontinenten nur als mögliche Waffen gegen den europäischen Imperialismus und erwägt ihre Unterstützung nur unter dem Gesichtspunkt, ob sie den Weg zur Revolution in Europa beschleunigen oder verlangsamen. Das ist völlig verständlich, da er und die anderen russischen Revolutionäre Europa für das Machtzentrum der Welt hielten und glaubten, daß die proletarische Revolution in Europa automatisch die Arbeiter aller anderen Länder befreien und die asiatischen und afrikanischen kolonialen oder halbkolonialen Regime hinwegschwemmen und deren Untertanen in die neue, gesellschaftlich emanzipierte Weltordnung integrieren würde. Deshalb war Lenin an dem Leben verschiedener Gesellschaften als solcher nicht interessiert. In dieser Hinsicht folgte er Marx, dessen Ausführungen etwa über Indien oder China – und in dieser Frage auch über Irland – keine besonderen Lehren für deren Zukunft enthalten.
Dieser so gut wie allgegenwärtige Eurozentrismus vermag zumindest teilweise zu erklären, warum die ungeheure Explosion nicht nur des Antiimperialismus, sondern auch des Nationalismus auf diesen Kontinenten nicht vorhergesehen wurde. Bis zu der tiefen Erschütterung durch den japanischen Sieg über Rußland im Jahre 1904 war kein nicht-europäisches Volk in den Augen westlicher Gesellschafts- und Politiktheoretiker eine Nation im vollen Sinne des Wortes, deren innerer Charakter, eigene Geschichte, Probleme und Zukunftsmöglichkeiten für das Studium der Gesellschaft, der Geschichte und der menschlichen Entwicklung im allgemeinen von Bedeutung wäre. Dies kann, neben anderem, zur Erklärung der merkwürdigen Lücke in den futurologischen Aussagen des neunzehnten Jahrhunderts beitragen. Es ist lehrreich, sich zu vergegenwärtigen, daß die russische Revolution ursprünglich von jeglichem nationalistischen Element frei war, sogar noch nach der Intervention der Alliierten, ja, es ist völlig gerechtfertigt, sie als eine durch und durch antinationalistische Revolution zu bezeichnen. Aber das war nicht von langer Dauer. Die Konzessionen, die Stalin dem Nationalgefühl vor und während Hitlers Einmarsch in Rußland machen mußte, und die spätere Verherrlichung der Helden einer rein russischen Geschichte zeigen, wie notwendig für die Ziele des Sowjetstaates die Mobilisierung dieses Gefühls war. Dies gilt ebenso von der großen Mehrzahl der Staaten, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind.
Die Behauptung ist nicht übertrieben, daß heute keine politische Bewegung, zumindest außerhalb der westlichen Welt, Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie sich nicht mit dem Nationalgefühl verbindet. Da ich, wie ich nochmals betonen möchte, weder Historiker noch Politikwissenschaftler bin, wollte ich keine Erklärung dieses Phänomens anbieten, sondern nur eine Frage stellen und auf die Notwendigkeit hinweisen, diesem besonderen Ableger der romantischen Revolte, der unsere Welt so entscheidend beeinflußt hat, größere Aufmerksamkeit zu schenken.
[1] Einige Thesen dieses Aufsatzes sind, in etwas anderer Form, schon in meinem Beitrag »The Bent Twig: A Note on Nationalism«, Foreign Affairs 51 (1972), S. 11-30, erschienen.
Ursprünglich auf Englisch unter dem Titel Nationalism: Past Neglect and Present Power in Isaiah Berlin, Against the Current. Essays in the History of Ideas (hrsg. von Henry Hardy, London: Pimlico, 1979, S. 333-355) erschienen. Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Fritsche.
Quelle: Isaiah Berlin, Der Nationalismus, Frankfurt am Main: Anton Hain, 1990, S. 35-71.