Wenn allgemein nach ethischen Tugenden gefragt wird, dürfte an erster Stelle meist die Gerechtigkeit genannt werden. Nach Aristoteles ist die Gerechtigkeit nicht nur ein Teil der menschlichen Tugend, sondern steht für die ganze Tugend (hole arete)[1]:
„Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend (teleia arete), aber nicht schlechthin, sondern im Hinblick auf den anderen Menschen. Darum gilt die Gerechtigkeit vielfach als die vornehmste der Tugenden und ‚weder Abendstern noch Morgenstern sind derart wunderbar‘, und im Sprichwort sagt man: ‚In der Gerechtigkeit ist alle Tugend zusammengefasst.‘ Sie gilt vor allem als die vollkommene Tugend, wie sie die Anwendung der vollkommenen Tugend ist. Vollkommen ist sie, weil der, der sie besitzt, die Tugend auch dem andern gegenüber anwenden kann und nicht nur für sich. Viele nämlich können in ihren eigenen Angelegenheiten die Tugend anwenden, nicht aber in den Beziehungen zu anderen.“[2]
Die Gerechtigkeit betrifft die zwischenmenschlichen Bezüge unter dem Gesichtspunkt konkurrierender Interessen und Ansprüche[3]. Man kann anderen Menschen mit eigenen Entscheidungen und Handlungen gerecht oder eben nicht gerecht werden. Die ethische Aufgabe besteht darin, das Gerechte unter der Maßgabe suum cuique – jedem das Seine zuerkennen bzw. zuteilen – zu bestimmen. Mit den klassischen Worten Ulpanians: „Gerechtigkeit ist der beharrliche und dauernde Wille, jedem sein Recht zu geben.“[4] Aristoteles nennt als formale Kriterien der Gerechtigkeit das Gesetzliche und die Gleichheit. Derjenige gilt als gerecht, der das Recht beachtet und sich an die Gleichheit hält[5].
Die Beachtung von Rechtsnormen im Sinne einer gesetzlichen Gerechtigkeit (iustitia legalis) ist in aller Regel unstrittig; schwieriger dürfte hingegen die Definition von Gleichheit sein. Hierzu ist zunächst zu beachten, dass das Gerechte nicht etwas Überschüssiges (supererogatio), sondern etwas Geschuldetes hinsichtlich des anderen ist. Das Geschuldete basiert nicht auf Zuneigung oder Wohlwollen gegenüber dem anderen, sondern auf dessen Anspruch. Hinsichtlich des Anspruches gilt das Kriterium der Gleichheit.
In der ethischen Tradition ist die Gerechtigkeit im Anschluss an Aristoteles unter zwei unterschiedlichen Gleichheitskriterien beschrieben worden, als austeilende oder distributive Gerechtigkeit (dianemetikon dikaion)[6] und als ausgleichende oder kommutative Gerechtigkeit (diorthotikon dikaion)[7]. Die ausgleichende Gerechtigkeit betrifft im Wesentlichen das Verhältnis der Einzelnen zueinander und ist maßgebend für den rechtsgeschäftlichen Austauschverkehr. Gerecht ist es, wenn Leistung und Gegenleistung mengenmäßig gleich sind bzw. sich in ihrem Wert entsprechen. Aristoteles spricht hierbei von einer zahlenwertigen Entsprechung (analogia arithmetike)[8]. Unter dem Gesichtspunkt eines Ausgleiches wird auch das Rechtsinstitut des Schadensersatzes gesehen, demzufolge ein rechtswidrig zugefügter Schaden in seinem vollen Wert ersetzt werden muss.
Die austeilende Gerechtigkeit berücksichtigt bezüglich des Gleichheitsanspruchs vor allem das Verhältnis der Einzelnen zum Ganzen, dessen Glieder sie sind. Hinsichtlich definierter Kriterien bzw. Kategorien wird von einer Ungleichheit der Einzelnen untereinander ausgegangen. Demzufolge gilt eine den unterschiedlichen Verhältnissen angepasste Gleichheit: jedem soll das zuteilwerden, was seiner Würdigkeit, seinen Verdiensten oder seinen Fähigkeiten entspricht. Aristoteles spricht hierbei von einer geometrischen Entsprechung (analogia geometrike)[9].
Ein klassisches Beispiel für die Gerechtigkeitsfrage ist das unternehmensinterne Gehalts- und Entlohnungssystem[10]. Für ein gerechtes Entlohnungssystem kommen sowohl die ausgleichende wie auch die austeilende Gerechtigkeit zur Geltung. In einem schuldrechtlichen Arbeitsvertrag sollen die beiden einander geschuldeten Leistungen, nämlich zeitbemessene Arbeit und Vergütung, zu einem wertmäßigen Ausgleich gebracht werden. In der Regel gibt es in Unternehmen keine Einheitslöhne. Vielmehr werden bei der Entlohnung status- und qualitätsbestimmte Unterschiede bezüglich der Arbeitsleistung im Hinblick auf eine austeilende Gerechtigkeit geltend gemacht, die mitunter tarifvertraglich festgelegt sind.
Für das Strafrecht bzw. für Strafprozesse stellt sich ebenfalls die Gerechtigkeitsfrage: Wie zeigt sich gegenüber einem Vergehen oder einem Verbrechen die korrektive Gerechtigkeit (iustitia correctiva)? Unter dem unversöhnlichen Leitspruch „justice must be done“ gilt das Augenmerk einer vergeltenden Strafe im Sinne einer Strafgerechtigkeit (iustitia retributiva). Wird hingegen ein Täter-Opfer-Ausgleich angestrebt, tritt an die Stelle einer Vergeltung eine Verantwortungsübernahme des Täters für den Schaden mit einer heilenden Wiedergutmachungsleistung im Sinne einer restorative justice.[11]
Eine wiederherstellende Gerechtigkeit könnte auch in der Gerechtigkeit Gottes erkannt werden, wie sie von Paulus in seinem Brief an die Römer als Evangelium zur Sprache gebracht wird (vgl. Röm 1,16f). So heißt bei Paulus: „Was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde“ (Röm 8,3f; vgl. 2Kor 5,21 bzw. Gal 3,13). Der Gott wird dem Sünder nicht länger in der gesetzlich geforderten Zuschreibung einer verdienten Strafe gerecht (im Sinne einer retributiven Gerechtigkeit), sondern in seiner Gemeinschaftstreue (hebräisch zedaka[12]), die in Jesus Christus sich des Sünders in dessen untreuen Verlorenheit annimmt und diesen mit sich selbst versöhnt. Allerdings kann der vergangenheitsbezogene Begriff einer Wiederherstellung nicht die eschatologische Dynamik der Gerechtigkeit Gottes ansprechen. Wenn es im Brief an die Epheser heißt: „Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um die Fülle der Zeiten heraufzuführen, auf dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist, durch ihn“ (1,9f), lässt sich von einer zusammenfassenden Gerechtigkeit sprechen, die über die horizontale Dimension einer vergänglichen Wiederherstellung hinausgeht. In der christusbestimmten Auferstehung von den Toten und der Neuschöpfung von Himmel und Erde wird das verlorengegangene Leben in ein erfüllendes und unfehlbares Treueverhältnis zum dreieinigen Gott gestellt, so dass die solchermaßen Erlösten der göttlichen Gerechtigkeit nichts schuldig bleiben.
[1] Nikomachische Ethik (= EN) V,3 (1130a 9f).
[2] EN V,3 (1129b 26-34).
[3] Vgl. Otfried Höffe, Art.: Gerechtigkeit, StL7 2 (1986), 895.
[4] Dig. 1,1,10: „iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“. Ähnlich Thomas von Aquin, STh II-II q. 58 a. 1: „Die Gerechtigkeit ist die beständige, vom Willen mitgetragene und zugleich vernunftbe-stimmte Haltung, jedem das Seine, im besonderen sein Recht zu geben (iustitia est habitus secundum quem aliquis constanti et perpetua voluntate ius suum unicuique tribuit).“
[5] EN V,2 (1129a 33-1129b 1).
[6] EN V,6-7 (1131a 10-1131b 24).
[7] EN V,7 (1131b 25-1132b 20).
[8] EN V,7 (1132a 1).
[9] EN V,7 (1131b13-16).
[10] Vgl. Wolfram Menrad, Entgeltfindung und Gerechtigkeit – Überlegungen zur Gestaltung moderner Entgeltsysteme unter dem Aspekt der Lohngerechtigkeit, Forum Wirtschaftsethik 7/2, 1999, 13-16.
[11] Siehe dazu Howard Zehr, Fairsöhnt. Restaurative Gerechtigkeit – Wie Opfer und Täter heil werden können, Schwarzenfeld: Neufeld Verlag, 2010.
[12] Vgl. dazu Klaus Koch, Art. ṣdq, THAT 2 (1976), Sp. 507-530.