Von Sophie Scholl
Manchmal meine ich, den Weg zu Gott durch meine Sehnsucht allein, durch eine ganze Hingabe meiner Seele in einem Augenblick erzwingen zu können. Wenn ich ihn sehr bitte, wenn ich ihn so über alles liebe, wenn mir das Herz so weh tut, weil ich weg bin von ihm, müsste er mich zu sich nehmen. Aber es gehören viele Schritte, viel allerwinzigste Schritte dazu, und es ist ein sehr langer Weg. Man darf nicht verzagen. Als ich einmal so verzagt war, weil ich immer wieder zurückfiel, da wagte ich es nicht mehr zu beten, ich nahm mir vor, von Gott nicht mehr zu wollen, bis ich wieder eher bestehen konnte vor seinen Augen. O, es war doch im Grunde ein Wollen zu Gott. Ich kann ihn aber immer bitten, das weiß ich jetzt. (10. November 1941)
Wenn ich beten will und überlege mir, zu wem ich bete, da könnte ich ganz verrückt werden, da werde ich dann so winzig klein, ich fürchte mich direkt, so dass kein anderes Gefühl als das der Furcht aufkommen kann. Überhaupt fühle ich mich so ohnmächtig, und ich bin es wohl auch. Ich kann um nichts anderes beten, als um das Betenkönnen. Weißt du, wenn ich Gott denke, da stehe ich da wie ganz mit Blindheit geschlagen, ich kann gar nichts tun. Ich habe keine, keine Ahnung von Gott, kein Verhältnis zu ihm. Nur eben, dass ich das weiß. Und da hilft wohl nichts anderes als Beten. Beten. (Tagebucheintag, Dezember 1941)
Ich habe mir vorgenommen, jeden Tag in der Kirche zu beten, damit Gott mich nicht verlasse. Ich kenne Gott ja noch gar nicht und begehe sicher die größten Fehler in meiner Vorstellung von ihm, aber er wird mir das verzeihen, wenn ich ihn bitte. Wenn ich ihn von ganzer Seele lieben kann, dann werde ich meinen schiefen Blick verlieren. Wenn ich die Menschen um mich herum sehe, und auch mich selbst, dann bekomme ich Ehrfurcht vor dem Menschen, weil Gott seinetwegen herabgestiegen ist. Auf der anderen Seite wird mir dies dann immer am unbegreiflichsten. Ja, was ich am wenigsten an Gott begreife, ist seine Liebe. Und doch, wüsste ich nicht von ihr! O, Herr, ich habe es sehr nötig, zu beten, zu bitten. Ja, das sollte man immer bedenken, wenn man es mit anderen Menschen zu tun hat, dass Gott ihretwegen Mensch geworden ist. Und man fühlt sich selbst zu gut, zu manchen von ihnen herabzusteigen! (Tagebucheintrag am 12. Februar 1942)
Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln zu Dir. Nichts anderes kann ich, als Dir mein Herz hinhalten, das tausend Wünsche von Dir wegziehen. Da ich so schwach bin, dass ich freiwillig nicht Dir zugekehrt bleiben kann, so zerstöre mir, was mich von Dir wendet, und reiß mich mit Gewalt zu Dir. Denn ich weiß es, dass ich nur bei Dir glücklich bin, ach, wieweit bin ich weg von Dir, und das beste an mir ist noch der Schmerz, den ich darüber empfinde. Doch ich bin so tot und stumpf oft. Hilf mir einfältig werden, bleibe bei mir, o, wenn ich einmal Vater sagen könnte zu Dir. Doch kann ich Dich kaum mit „Du“ anreden. Ich tue es, in ein großes Unbekanntes hinein, ich weiß ja, dass Du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an Dich klammere. Lehre mich beten. Lieber unerträglichen Schmerz als ein empfindungsloses Dahinleben. Lieber brennenden Durst, lieber will ich um Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen beten, als eine Leere zu fühlen, eine Leere, und sie zu fühlen ohne eigentliches Gefühl. Ich möchte mich aufbäumen dagegen. (Tagebucheintrag, 29. Juni 1942)
Wie ein dürrer Sand ist meine Seele, wenn ich zu Dir beten möchte, nichts anderes fühlend als ihre eigene Unfruchtbarkeit. Mein Gott, verwandle Du diesen Boden in eine gute Erde, damit dein Samen nicht umsonst in sie falle, wenigstens lasse auf ihr die Sehnsucht wachsen nach Dir, ihrem Schöpfer, den sie so oft nicht mehr sehen will. Ich bitte Dich von ganzem Herzen, zu Dir rufe ich, „Du“ rufe ich, wenn ich auch nichts von Dir weiß, als dass in Dir allein mein Heil ist, wende Dich nicht von mir, wenn ich Dein Pochen nicht höre, öffne doch mein taubes Herz, mein taubes Herz, gib mir die Unruhe, damit ich hinfinden kann zu einer Ruhe, die lebendig ist in Dir. O, ich bin ohnmächtig, nimm Dich meiner an und tue mir nach Deinem guten Willen, ich bitte Dich, ich bitte Dich. Dir in die Hand will ich meine Gedanken legen an meinen Freund, diesen kleinen Strahl der Sorge und der Wärme, diese winzige Kraft, verfüge Du mit mir nach Deinem besten, denn Du willst es, dass wir bitten und hast uns auch im Gebet für unseren Bruder verantwortlich gemacht. So denke ich an alle anderen. Amen. (Tagebucheintrag, 15. Juli 1942)
Gegen die Dürre des Herzens hilft nur das Gebet, und sei es noch so arm und klein. […] Wir müssen beten, und für einander beten, und wärest Du hier, ich wollte die Hände mit Dir falten, denn wir sind arme Kinder, schwache Sünder. O Fritz, wenn ich Dir jetzt nichts anderes schreiben kann, so doch bloß deshalb, weil es erschreckend lächerlich ist, wenn ein Versinkender, anstatt um Hilfe zu rufen, beginnt über irgendein wissenschaftliches, philosophisches oder theologisches Thema sich auszulassen, dieweil die unheimlichen Schlingarme der Wesen auf dem Meeresgrunde ihm Beine und Arme umklammern, und die Wogen über ihm zusammenschlagen; bloß deshalb, weil ich Angst in mir habe und nichts als Angst und mich nur nach dem sehne, der mir diese Angst abnimmt. Manchmal, wenn ich den Namen Gottes ausspreche, will ich in ein Nichts versinken. Das ist nicht etwa schrecklich oder schwindelerregend, es ist gar nichts – und das ist noch viel entsetzlicher. Doch hilft dagegen nur das Gebet, und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat, auch wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle. (Brief an den Verlobten Fritz Hartnagel vom 18. November 1942)