Von Martin Buber
Als Rabbi Schneur Salman, der Raw von Reussen, weil seine Einsicht und sein Weg von einem Anführer der Mithnagdim bei der Regierung verleumdet worden waren, in Petersburg gefangen saß und dem Verhör entgegensah, kam der Oberste der Gendarmerie in seine Zelle. Das mächtige und stille Antlitz des Raw, der ihn zuerst, in sich versunken, nicht bemerkte, ließ den nachdenklichen Mann ahnen, welcher Art sein Gefangener war. Er kam mit ihm ins Gespräch und brachte bald manche Frage vor, die ihm beim Lesen der Schrift aufgetaucht war. Zuletzt fragte er: »Wie ist es zu verstehen, daß Gott der Allwissende zu Adam spricht: ›Wo bist du?‹« »Glaubt Ihr daran«, entgegnete der Raw, »daß die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder Mensch in ihr beschlossen sind?« »Ich glaube daran«, sagte er. »Nun wohl«, sprach der Zaddik, »in jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: ›Wo bist du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?‹ So etwa spricht Gott: ›Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?‹«
Als der Oberste die Zahl seiner Lebensjahre nennen hörte, raffte er sich zusammen, legte dem Raw die Hand auf die Schulter und rief: »Bravo!« Aber sein Herz flatterte.
Was geschieht in dieser Geschichte?
Auf den ersten Blick erinnert sie uns an talmudische Erzählungen, in denen ein Römer oder sonst ein Heide einen der jüdischen Weisen über eine biblische Stelle befragt, um einen angeblichen Widerspruch in der Lehre Israels aufzudecken, und eine Antwort empfängt, die entweder darlegt, daß kein Widerspruch besteht, oder auf andere Weise die Kritik widerlegt, woran sich zuweilen eine persönliche Zurechtweisung knüpft. Bald aber merken wir einen bedeutsamen Unterschied zwischen den talmudischen Erzählungen und der chassidischen, einen Unterschied, der freilich zunächst größer erscheint, als er ist. Die Antwort wird nämlich auf einer anderen Ebene gegeben als die, auf der die Frage gefragt worden ist.
Der Oberste geht darauf aus, einen angeblichen Widerspruch in der jüdischen Glaubenswelt aufzudecken. Die Juden bekennen sich zu Gott als dem allwissenden Wesen, aber die Bibel legt ihm Fragen in den Mund, wie sie jemand fragt, der etwas nicht weiß und es erfahren will. Gott sucht Adam, der sich versteckt hat, er ruft in den Garten hinein und fragt, wo er sich befinde; also weiß er es nicht, man kann sich vor ihm verbergen, also ist er der Allwissende nicht.
Statt nun aber die Bibelstelle zu erklären und den scheinbaren Widerspruch aufzuheben, geht der Rabbi von ihr nur aus und benützt ihr Motiv, um dem Obersten eine Vorhaltung über sein eigenes bisheriges Leben, über den Unernst, die Gedankenlosigkeit und den Mangel an Verantwortungsgefühl in seiner eigenen Seele zu machen. Auf die sachliche Frage, die, mag sie hier auch ehrlich gemeint sein, doch im Grunde keine echte Frage, sondern nur eine Form der Kontroverse ist, wird eine persönliche Antwort erteilt, oder vielmehr, statt einer Antwort erfolgt eine persönliche Zurechtweisung. Von jenen talmudischen Entgegnungen ist scheinbar nur die zuweilen daran geknüpfte Zurechtweisung übriggeblieben.
Betrachten wir jedoch die Erzählung genauer. Der Oberste fragt nach einer Stelle aus dem biblischen Bericht von der Sünde Adams. Was der Rabbi antwortet, geht darauf hinaus, daß er zu ihm sagt: »Du selber bist Adam, zu dir selber spricht Gott: ›Wo bist du?‹« Scheinbar hat er ihm über die Bedeutung der biblischen Stelle als solcher keine Auskunft gegeben. In Wahrheit aber beleuchtet die Antwort zugleich die Situation des von Gott befragten Adam und die Situation jedes Menschen allzeit und allerorten. Der Oberste muß ja, sowie er die biblische Frage als an ihn selber gerichtet vernimmt und versteht, merken, was es bedeutet, wenn Gott fragt: »Wo bist du?«, sei die Frage nun an Adam oder an sonst einen Menschen gerichtet. Wenn Gott so fragt, will er vom Menschen nicht etwas erfahren, was er noch nicht weiß; er will im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche Frage bewirkt wird, vorausgesetzt, daß sie den Menschen ins Herz trifft, daß der Mensch sich von ihr ins Herz treffen läßt.
Adam versteckt sich, um nicht Rechenschaft ablegen zu müssen, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen. So versteckt sich jeder Mensch, denn jeder Mensch ist Adam und in Adams Situation. Um der Verantwortung für das gelebte Leben zu entgehen, wird das Dasein zu einem Verstecksapparat ausgebaut. Und indem der Mensch sich so »vor dem Angesicht Gottes« versteckt und immer neu versteckt, verstrickt er sich immer tiefer und tiefer in die Verkehrtheit. So entsteht eine neue Situation, die von Tag zu Tag, von Versteck zu Versteck immer fragwürdiger wird. Diese Situation kann genau gekennzeichnet werden: dem Auge Gottes kann der Mensch nicht entgehen, aber indem er sich vor ihm zu verstecken sucht, versteckt er sich vor sich selber. Gewiß, es gibt auch in ihm ein Etwas, das ihn sucht, aber er macht es diesem Etwas immer schwerer, ihn zu finden. In diese Situation hinein fällt die Frage Gottes. Sie will den Menschen aufrühren, sie will seinen Verstecksapparat zerschlagen, sie will ihm zeigen, wo er hineingeraten ist, sie will in ihm den großen Willen erwecken, heraus zu gelangen.
Alles kommt nun darauf an, ob der Mensch sich der Frage stellt. Gewiß, jedem wird, wie dem Obersten in unserer Erzählung, »das Herz flattern«, wenn sie an sein Ohr dringt. Aber der Apparat hilft ihm auch dazu, dieser Bewegung des Herzens Herr zu werden. Die Stimme kommt ja nicht in einem Gewitter, das die Existenz des Menschen bedroht; es ist »die Stimme eines verschwebenden Schweigens«, und es ist leicht, sie zu übertäuben. Solang dies geschieht, wird das Leben des Menschen zu keinem Weg. Mag ein Mensch noch so viel Erfolg, noch so viel Genuß erfahren, mag er noch so große Macht erlangen und noch so Gewaltiges zustande bringen: sein Leben bleibt weglos, solang er sich der Stimme nicht stellt. Adam stellt sich der Stimme, er erkennt die Verstrickung, er bekennt: »Ich habe mich versteckt«, und damit beginnt der Weg des Menschen. Die entscheidende Selbstbesinnung ist der Beginn des Wegs im Leben des Menschen, immer wieder der Beginn des menschlichen Wegs. Aber entscheidend ist sie eben nur dann, wenn sie zum Weg führt. Denn es gibt auch eine unfruchtbare Selbstbesinnung, die nirgends hinführt als zu Selbstquälerei, Verzweiflung und noch tieferer Verstrickung. Wenn der Gerer Rabbi im Auslegen der Schrift an die Worte kam, die Jakob an seinen Knecht richtet: »Wenn mein Bruder Esau auf dich stößt, und fragt dich: ›Wessen bist du, worauf gehst du, wessen sind die vor dir?‹«, sprach er zu seinen Schülern: »Merket wohl auf, wie ähnlich die Fragen Esaus dem Spruch unsrer Weisen sind: ›Betrachte drei Dinge. Wisse, woher du kamst und wohin du gehst und vor wem du dich zu verantworten hast.‹ Merket wohl auf, denn großer Prüfung bedarf, wer die drei Dinge betrachtet: daß nicht Esau in ihm frage. Denn auch Esau vermag nach diesen drei zu fragen und Schwermut über den Menschen zu bringen.«
Es gibt eine dämonische Frage, eine Scheinfrage, die die Frage Gottes, die Frage der Wahrheit äfft. Sie ist daran zu erkennen, daß sie nicht bei dem »Wo bist du?« innehält, sondern fortfährt: »Von da heraus, wo du hineingeraten bist, führt kein Weg mehr.« Es gibt eine verkehrte Selbstbesinnung, die den Menschen nicht zur Umkehr bewegt und auf den Weg bringt, sondern ihm die Umkehr als hoffnungslos darstellt und ihn damit dorthin treibt, wo sie anscheinend vollends unmöglich geworden ist und der Mensch nur noch kraft des dämonischen Hochmuts, des Hochmuts der Verkehrtheit, weiterzuleben vermag.
Quelle: Martin Buber, Der Weg des Menschen (nach der chassidischen Lehre), Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus 42 (1948), Heft 7-8, S. 315-317.
wo kann der Weg weiterführen,wenn man meint,festzustecken,dringende Bitte um Hilfe,herzliche Grüße E Mutzenbauer