Von Georg Picht
Das Böse umspielt uns in unzähligen Masken. Zwar ist es uns nur allzu vertraut; unser Gewissen gibt uns durch Warnsignale zu verstehen, dass es in uns selbst sein verborgenes Wesen treibt. Aber wir können es nicht greifen. Es zeigt sich nicht nur in Untat und Verbrechen, sondern versteckt sich am liebsten in unserer Moral, in unseren Idealen, in Erfolgen, Ruhmestaten und Errungenschaften.
Wo das Böse unverhüllt hervortritt, blicken wir in einen Abgrund. Das Böse erscheint uns aber auch im Gewand der Schönheit; sie fasziniert dann durch eine verborgene Kälte und durch Reflexe von Narzissmus. Weil das Böse in jede Maske zu schlüpfen versteht, sind wir geneigt, uns einzureden, es werde besiegt, wenn wir die kritischen Skalpelle der Meister der Demaskierung benutzen. So wurden Marx, Nietzsche und Freud als Exorzisten unserer Zivilisation zu Hilfe gerufen. Aber Demaskieren ist selbst eine böse Handlung; es legt bloß, aber es baut nicht auf. Deswegen stehen wir heute mit leeren Händen da. Wir haben die alte Weisheit vergessen, dass sich das Böse nur durch das Gute besiegen lässt.
Die christliche Tradition, in der wir aufgewachsen sind (sie hat sich vom Evangelium weit entfernt), spürte dem Bösen in der Seele des Einzelnen nach; sie nannte es «Sünde». Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat aber jeden, der es nicht zuvor schon wusste, darüber belehrt, dass das Böse nicht im individuellen, sondern im kollektiven Bewusstsein haust. Wir sind böse, wenn wir das kollektive Bewusstsein widerstandslos in unser eigenes Bewusstsein eindringen lassen. Jener Raum, den wir als unsere Seele bezeichnen, erweist sich dann als ein Vakuum, das solches aufsaugt, für das wir selbst nicht einstehen können. Wo immer in Kulturen und Gesellschaften, in Gruppen und Individuen ein derartiges Vakuum entsteht, findet das Böse seine Höhle. Es wäre harmlos, wenn es uns nur in Verbrechern und Übeltätern begegnete. Der Humus, in dem das Böse gedeiht, sind die flachen Köpfe und gleichgültigen Herzen, die Mittelmäßigen, die Spießer, die Funktionäre, die manipulierbare Masse in allen Schichten der Gesellschaft. Terrormaschinen werden nicht von Ungeheuern, sondern von dürftigen, grauen Alltagsmenschen bedient. Techniker des Genozids sind keine Bestien, sondern Durchschnittsmenschen.
Ist das Entsetzliche geschehen, so hat nachher niemand etwas davon gewusst, und niemand will beteiligt gewesen sein. Das stimmt sogar, denn es war ja nicht die Person, sondern das Vakuum der Person, das sich vom kollektiven Bösen erfüllen ließ. Die Person war schon so ausgehöhlt, dass sie nicht wahrnehmen konnte, was ihr geschah; sie tanzte wie ein Korken im Wellengang des kollektiven Bewusstseins. Die gegenwärtigen Zustände erklären sich aus einer Ahnungslosigkeit gegenüber dem so genannten Bösen, deren Symptome sich an der globalen Krise der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ablesen lassen. Wir müssen das Böse begreifen, um es bekämpfen zu können.
Das Böse hat Macht über unsere Gedanken. Am mächtigsten ist es dort, wo man es nicht wahrhaben will. Man hat sich dann der Fähigkeit beraubt, die Wirklichkeit so aufzufassen, wie sie ist. Dies gilt zum Beispiel von einer Wissenschaft, die ihren Stolz darauf setzt, «wertfrei» zu sein. Es gilt von der Übersetzung ihrer Abstraktionen in technische, industrielle und gesellschaftliche Mechanismen. Es gilt letztlich von jedem System, dessen Funktionssicherheit darauf beruht, dass die Individuen, die es bedienen, austauschbar sind.
Wären die Menschen dem ihnen eingezeichneten genetischen Programm und den ihnen vorgegebenen Lebenssituationen willenlos und hilflos ausgeliefert, so gäbe es keine «Biografie». Menschen haben die Möglichkeit, ihre Biografie und Entwicklungskurve zu gestalten. Es ist ihnen ein Spielraum eröffnet, bewusst oder unbewusst auszuwählen, was sie in ihre Biografie integrieren und was nicht. Dieser Spielraum hat für jedes Individuum und in jeder Situation eine andere Gestalt. Der Aufbau der eigenen Biografie ist also das Resultat eines ununterbrochenen Integrationsprozesses; dabei geht es stets um das Böse oder das Gute.
Die Bereitschaft, Opfer zu bringen, ist das Kriterium, an dem sich ablesen lässt, was ein Mensch oder eine Gesellschaft wirklich ernst nimmt. Integration findet nur statt, wo Menschen sich im Dienst einer Aufgabe vergessen, also nicht ihre Selbsterhaltung im Auge haben. Kreisen sie hingegen um ihr Selbst, so versagen sie vor der Aufgabe der Integration.
Allerdings braucht Integration als solche noch nicht gut zu sein. Man kann sich böse Ziele setzen. Goebbels hatte eine Biografie von einzigartiger Konsequenz und Geschlossenheit. Die integrierten Bösen sind nicht selbstlos, sondern selbstbezogen. Sie weisen über ihr Selbst nicht hinaus; dieses verliert mit dem Tod seinen Sinn. Derartig pervertierte Ziele gibt es auch für Kollektive: «Deutschland über alles!», «America first!» usw.
In Wirklichkeit geht es dabei immer um Macht; sie strahlt eine solche Faszination aus, dass die Frage, zu welchem Zweck sie gebraucht werden soll, hinter ihrer Ausstrahlung verschwindet. Für sich betrachtet ist Macht weder gut noch böse; sie ist zur Erhaltung des Lebens unentbehrlich. Aber die Faszination durch Macht ist immer böse, weil sie verblendet, und weil die Selbstlosigkeit untergeht.
Menschen jeglichen Intelligenzniveaus orientieren sich in der Welt automatisch nach dem Freund-Feind-Schema. Freund ist gleich gut; Feind ist gleich böse. Die gegenwärtige Weltsituation lässt sich dadurch beschreiben, dass die im Freund-Feind-Schema vorgezeichneten Regeln alles übrige Wissen von dem, was gut, und dem, was böse ist, fortzuschwemmen drohen. Als Feind gilt in einer sich polarisierenden Welt alles, was anders ist: die anderen Rassen, die anderen Nationen, die anderen Religionen, die anderen Wirtschaftssysteme, die anderen Parteien. Wo immer dieser Mechanismus spielt, wird er die Fähigkeit, die Wirklichkeit aufzufassen, wie sie ist, und sachgemäß zu handeln, ausschalten. Jede Spur von Humanität verschwindet. Das Freund-Feind-Schema ist als solches böse, gleichgültig, wo es angewendet wird.
Wo das Freund-Feind-Schema herrscht, werden Atombomben gebaut, weil man das Selbstgefühl stärken will, und man gebraucht deren Macht, um seine Feinde zu vernichten, wenn sie sich nicht einschüchtern oder erpressen lassen. Man glaubt, das nationale Selbstbewusstsein und die nationale Gesellschaft zu sanieren, wenn man sich durch die Überproduktion von Massenvernichtungswaffen wirtschaftlich ruiniert. Hier werden alle Dämonen des Bösen entfesselt.
Bei Dante steht über dem Höllentor: «Lasst jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet» (Originaltext: «Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate»). Im mythischen Bild des Infernos stellt sich dar, wie der Bereich des Bösen inmitten unserer Welt beschaffen ist. Wo das Böse die Macht übernimmt, verstummt die Hoffnung. Sie erstickt in den Emotionen des kollektiven Bewusstseins. Sie erwacht und stärkt sich, wenn wir den Ernst der Wirklichkeit nüchtern ins Auge fassen. Die Hoffnung öffnet Herz und Geist für das Gute. Das Böse ist die Macht, die sich der Hoffnung widersetzt.
Quelle: Magazin natürlich, Nr. 7, 2003, S. 38-39, ungekürzt in: Georg Picht, Das richtige Maß finden. Der Weg des Menschen ins 21. Jahrhundert, hrsg. v. von Carl Friedrich von Weizsäcker und Constanze Eisenbart, Freiburg: Herder Spektrum Bd. 5122, 2001, S. 137-160.