Von Gerhard Müller
Es dürfte nicht leicht fallen, einen Theologen ausfindig zu machen, der wie Wilhelm Löhe unter ähnlich ungünstigen Voraussetzungen einen so weitreichenden und tiefgreifenden Einfluß ausgeübt hat: Er war nichts anderes als ein Dorfpfarrer. Viermal bewarb er sich um Stadtpfarreien, stets erfolglos. Deswegen mußte er vom »platten Lande« aus das in Bewegung bringen, was ihn rasch und weit bekannt gemacht hat: die Gründung eines Diakonissenmutterhauses und einer Ausbildungsstätte für Missionare. Seine theologischen Arbeiten kommen hinzu. Aber auch kirchenpolitische Aufgaben hat er bewältigt. Darüberhinaus sind liturgiegeschichtliche Forschungen zu nennen und eine kirchengeschichtliche Darstellung, die Leopold von Ranke zu dem Urteil veranlaßte, Löhe sei zum Historiker geeignet. Es verwundert nicht, daß die Urteile über einen solchen Denker, Schriftsteller, Organisator und Politiker auseinandergehen. Aufmerksamkeit verdient dieser Mann aber auf jeden Fall, der rastlos um Verbesserung des Vorhandenen bemüht war.
I.
Johann Konrad Wilhelm Löhe wurde am 21. Februar 1808 in Fürth geboren. In einer Autobiographie, in der er über seine Kindheit und seine Schulzeit berichtet, erzählt er von dem »Marktflecken« Fürth, seiner »Vaterstadt«, um die sich »drei Herrschaften stritten«: Brandenburg-Ansbach, Nürnberg und Bamberg. Im wesentlichen sei dieser Ort vom Mittelstand geprägt gewesen. Aber auch die »zahlreiche Judenschaft« wird von ihm erwähnt (Deinzer 1,1f.). Löhe hat seine Vaterstadt in seiner Jugend sehr geliebt: dort »war alles am schönsten. Nürnberg war nichts dagegen« (Deinzer 1,34). Der Schulbesuch in der früheren Reichsstadt änderte an diesem Urteil nichts, bestätigte es vielmehr. Das läßt uns vermuten, daß er eine gute Kindheit verbracht hat, denn er teilt damit das Urteil der Fürther Bürger über die größere, mächtigere und reichere Nachbarstadt, in deren Schatten man immer gelebt und häufig auch gelitten hatte. Er ist also wirklich dort zu Hause gewesen, wo er aufwuchs.
Löhe berichtet, sein Vater sei Sohn eines Fürther Gastwirtes gewesen und habe [72] als Kellner in Heilbronn gearbeitet. Nach seiner Rückkehr habe er in die Familie Walthelm eingeheiratet, die aus Thüringen stammte. Wilhelm Löhes Großvater mütterlicherseits eröffnete in Fürth ein Geschäft, das nach dessen Tod seine Eltern übernahmen. Der Vater starb früh. Als Achtjähriger, so berichtet Wilhelm Löhe, sei er dem Sarge gefolgt. Den Eltern waren dreizehn Kinder geboren worden, von denen sieben früh starben. Von seinen vier älteren Schwestern erzählt Wilhelm und von seinem jüngeren Bruder, der das Geschäft übernahm. Wichtiger als der früh verstorbene Vater, der vom Sohn als »ernst, stark, gemüthlich, wohlwollend, weise, von jedem hochgeachtet, ein Segen und eine Säule der Stadt« geschildert wird, wurde die Mutter, die allen Geschwistern »nahe« gewesen sei. Wilhelm saß gerne zu ihren Füßen und wollte ein Schneider werden, weil er die Mutter nähen sah. An die Gebete der Mutter erinnerte sich der Sohn, aber auch an eine Synode, zu der sich »die Pfarrer der großen Diöcese Cadolzburg, zu welcher Fürth gehörte, versammelten«, wohin ihn der Vater mitnahm. Die Mutter las »Starks Handbuch und Arnds Paradiesgärtlein« (Deinzer 1,4.10.19) und beeinflußte dadurch die Frömmigkeit des Jungen in einem pietistischen Sinn.
Wichtiger ist zunächst aber für seine religiöse Entwicklung der vom Rationalismus beeinflußte Religionsunterricht auf der Schule und der Konfirmandenunterricht gewesen, der genauso ausgerichtet war. Wilhelm Löhe meint, der Religionsunterricht habe »sich pur auf Sittenlehren« bezogen und sei »nichts weniger als evangelisch« gewesen. Von der Vorbereitung zur Konfirmation berichtet er: »Ich habe leider von dem ganzen Unterricht wenig Nutzen gehabt. Lauter Moral und deistischer Unterricht.« Gleichzeitig gesteht er aber auch, daß einer der drei Fürther Pfarrer von ihm geachtet worden sei: »Wenn er am Sonntag nach einer Predigt von Heidelberger Paulusischer Exegese sein ›Der du so gern uns Menschen segnest‹ anfing, so war ich zufrieden. Man konnte mitbeten.« (Deinzer 1,19.24) Der Rationalismus des Heidelberger Theologen Paulus wirkte offenbar bis nach Fürth, und zwar mit Erfolg. Ein Gebet des jungen Schülers zeigt es: »Mein Gott, öffne mir oft Deinen Himmel, laß mich Dich finden in der Natur, auf der Erde und in den Sternenfeldern, im Menschen wie im Wurme, unterm ewigen Himmelsbogen wie im Tempel von Menschenhand gebaut. Und willst Du, mein Gott, noch mehr thun, ach, ich flehe darum, so laß mich frei in den Feldern des Wissens mich bewegen, meinen Glauben auf Verstand und Überzeugung gründen und so befriedigt über Erde und Himmel … sterben. Wer will mich verachten, wenn ich so bin; wer getraut, mich ins Angesicht zu schelten, wenn ich solche Tugend im Busen trage?« (Schmidt, 48). Demnach war es nicht so sehr die mystisch-pietistische Tradition, die Löhe während seiner Jugend prägte, sondern mehr die Aufklärung, die seine Lehrer und Pfarrer vertraten. Später hat er sich davon distanziert, so daß seine negativen Urteile in der Rückschau verständlich sind. Aber zunächst blieb diese Religiosität nicht ohne Wirkung. Wichtig wurde auch seine Gymnasialzeit, die er nach seiner Konfirma-[73]tion im Jahre 1821 in Nürnberg verbrachte. Bis 1826 blieb er dort, geprägt vor allem von Rektor Roth, der damals noch nicht so stark wie später von der Erweckungsbewegung geprägt war, daß dies den Unterricht beeinflußt hätte, dem Löhe aber trotzdem ein hohes Lob zollt.
Im November 1826 begann Wilhelm Löhe sein Studium im nahen Erlangen. Dort wurden für ihn zwei Theologieprofessoren wichtig, Gottlieb Philipp Christian Kaiser und – vor allem – der reformierte Theologe Christian Krafft. Letzterer war von der Erweckungsbewegung tief beeinflußt. Löhe schildert seiner Schwester Dorothea am 14. November 1827, wie ihn die Einleitungsvorlesung Kraffts über Dogmatik bewegt hat. Die Erfahrungen, von denen der reformierte Theologe berichtete, und sein Glaubenszeugnis lassen Löhe zu dem Schluß kommen: »Nach einem solchen Kampf und solchen Erfahrungen im geistlichen Leben muß man Dogmatik lesen. Diese anderen glaubenslosen Professoren – ich habe keinen Begriff mehr, wie die noch Dogmatik lesen können. Wer so geführt worden ist, den will ich hören, der redet, was er erfahren hat und so auch am gewissesten weiß.« (Deinzer 1,266) Schon 1826 hatte ihm Kraffts Vorlesung über den Hebräerbrief gefallen. Gleichzeitig habe er – so teilt er mit – auch Fichte gelesen, sei aber von ihm nicht überzeugt worden, sondern habe »mit desto größerem Wohlgefallen Kraffts Collegia« gehört. »Diesen meinen Lehrer, der nicht nöthig hat, daß ich ihn hier weiter lobe, hoffe ich einst noch leuchten zu sehen wie des Himmels Glanz und wie die Sterne immer und ewiglich, Dan. 12,3.« (Deinzer 1,53)
Löhe studierte fleißig. Er berichtet, er habe selbst die viertelstündigen Pausen zwischen den Vorlesungen mit Arbeit ausgefüllt. Zu den Vorlesungen trat persönliche Lektüre hinzu. Das Werk »Von der Nachfolge Christi« des Thomas von Kempen beeindruckte ihn besonders stark. Löhe meinte, durch ihn sei er zum Christen geworden. Dadurch soll wohl gesagt werden, daß ihm erst jetzt die Bedeutung der Nachfolge und des christlichen Lebens recht aufgegangen ist. Mit der ihm eigenen Deutlichkeit weiß Löhe auch zu berichten, wer ihn zum Lutheraner gemacht hat: David Hollaz. Das Studium der Theologie eröffnete ihm also neue und zugleich verschiedene Perspektiven: Neben die Aufklärung trat die Erweckungsbewegung und neben die Mystik das Luthertum. Dabei war es zunächst offenbar nicht Luther selbst oder – wie bei August Vilmar – das Augsburger Bekenntnis, sondern die lutherische Orthodoxie, die ihm neue Wege wies. Denn auch Leonhard Hutter wurde von ihm positiv aufgenommen. Wenig Einfluß besaß auf ihn dagegen das studentische Leben. Nur kurze Zeit schloß er sich einer Burschenschaft an. Er war vielmehr ganz stark auf seine eigene Arbeit konzentriert und weder ein Freund des Tabaks noch des Biers. Auch dem Studium in Berlin vermochte er nicht viel abzugewinnen. Nach dort wandte er sich im Sommersemester 1828. Im Jahr vorher war von Ernst Wilhelm Hengstenberg die »Evangelische Kirchenzeitung« gegründet worden, deren Erscheinen Löhe begrüßte. Aber vor allem Schleiermacher und Hegel konnten [74] die theologische Jugend nach Berlin ziehen. Löhe jedoch fand zu Hegel keinen Zugang, weil er ihn nicht verstehe oder weil er gar nicht verstehbar sei. Auch Schleiermacher wirkte nicht so auf ihn, wie das vermutet werden kann. Ihn schätzte er lediglich als Prediger, während er die Vorlesungen Hengstenbergs, Gerhard Friedrich Abraham Strauß’ und August Neanders regelmäßig besuchte. Bereits nach einem Semester mußte er auf den Wunsch der Mutter hin zurückkehren. Er setzte sein Studium in Erlangen fort und wohnte vom Wintersemester 1829/30 an sogar zu Hause, weil er nur noch wenigen Lehrverpflichtungen an der Universität nachkommen mußte.
Wo steht der Einundzwanzigjährige? Die Antwort darauf gibt eine Arbeit vom 28. Oktober 1829 über das Thema: »Einige begeisternde Blicke eines jungen Theologen auf seine künftige Thätigkeit für die Kirche und dadurch auch für das Vaterland.« Dieses Thema war von der Erlanger Theologischen Fakultät den »Conscriptions-Pflichtigen« gestellt worden, die 21 Jahre alt waren und die noch keine homiletischen Arbeiten vorgelegt hatten. 28 Kommilitonen äußerten sich. Wilhelm Löhe tut dies, indem er zunächst berichtet, wie er den »Beruf des Geistlichen« auffaßt. Er erklärt, der Geistliche sei Gottes »Haushalter« und »Mitarbeiter«, der durch die Verkündigung Gottes Ehre herausstellen müsse und die Erlösung der Menschen ansagen könne. Löhe macht deutlich, daß er dies für eine schwere Aufgabe hält. Er verweist »auf biblische Berichte, in denen geschildert wird, wie Menschen diesen Auftrag fürchteten, aus denen aber auch deutlich wird, daß Gott gerade auch die sucht, die vor der Größe der Verpflichtung verzagen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß es Gottes Geist ist, ›der uns begeistern muß, freudige Hoffnungsblicke auf unseren künftigen Beruf zu thun‹« (Müller 1975, 595).
Wilhelm Löhe versteht »seine zukünftige Thätigkeit« also als eine geistliche. Er hat sich von der natürlichen Theologie seiner Jugend gelöst und den Moralismus des Rationalismus hinter sich gelassen. Er stößt sich nicht an der Formulierung von den »begeisternden« Blicken, über die er berichten soll, macht aber deutlich, daß er sich der Schwere der auf ihn zukommenden Aufgabe bewußt ist. Er verweist darauf, daß es hier um die Vorbereitung auf die Ewigkeit geht. Deswegen soll der Geistliche nicht als Partner, sondern als Amtsträger handeln, der zum »guten Kampf des Glaubens« aufruft. Das Vorbild dafür ist kein anderer als Jesus Christus. Der Geistliche hat sich als dessen »Mund« und »Werkzeug« zu verstehen. Deswegen besitzt er ein zugleich »demüthigendes und doch seeliges Amt« (Müller 1975, 600).
Wie andere Mitglieder der Erweckungsbewegung so erhofft auch Löhe einen »Frühling« in der Kirche. »Seine Sohlen brennen – so stark drängt es ihn, ins Amt zu kommen und dort das zu verwirklichen, was ihm als Aufgabe vorschwebt. Aber er sieht auch, daß die Realität noch ganz anders ist: Noch ist der Frühling nicht angebrochen, noch gleicht die Welt dem Totengebein, von dem Ezechiel gesprochen hat« (Müller 1975, 595f.). Jedoch wird die erneuerte Kirche alles [75] verändern. Sie wird dem Staat nur Gutes bringen, denn wenn alle Menschen Kinder Gottes sind, wird es keinen Krieg mehr geben, sondern als Waffen nur noch den Schild des Glaubens und das Schwert des Geistes. Der politische Teil des Themas, das Wirken des Geistlichen für das Vaterland, tritt auffällig zurück. Entscheidend ist für Löhe die Erweckung aller Menschen durch Gott. Davon ist alles andere abhängig. Die Größe dieser Aufgabe sieht er klar, aber auch ihre Faszination.
II.
Im Oktober 1830 legte Löhe sein Examen mit der Note »Sehr gut, dem Vorzüglichen nahe« ab. Kritik hatte allerdings seine Examenspredigt hervorgerufen, die als »herrnhutisch und mystisch bezeichnet wurde« (Deinzer 1,84). Da als »Mystiker« die Anhänger der Erweckung bezeichnet wurden, ist auch Löhe hier eingeordnet worden – mit Recht, wie wir sahen. Er legte trotzdem ein sehr gutes Examen ab und erhielt die Erlaubnis zu predigen, konnte sie aber nicht wahrnehmen, da er zunächst keine Stelle fand. Es wurden ihm nicht einmal Vertretungen angeboten, vielmehr sogar seine Angebote von den Pfarrern der Umgebung abgelehnt. Aber er blieb nicht untätig, sondern hielt z. B. zweimal wöchentlich in zwei Kreisen in Fürth Missions- bzw. Erbauungsstunden. Anfang 1831 versah er die vakant gewordene Pfarrei Unterleinleiter in Oberfranken für einige Wochen, wobei er auch den größten Teil des Schulunterrichtes geben mußte, da der Lehrer verstorben war. Obwohl Löhe sich bereiterklärt hatte, auf einen Teil seines Gehaltes zu verzichten, um der Gemeinde die Last eines Pfarrhausneubaues zu erleichtern, und die Gemeinde gebeten hatte, den jungen Kandidaten für die Pfarrei zu benennen, wurde er aus Altersgründen übergangen, so daß er weiter suchen mußte.
Als sich im Sommer 1831 Arbeitsmöglichkeiten in Fürth eröffneten, wurde er ordiniert, und zwar am 25. Juli. Dieser Tag blieb ihm zeitlebens wichtig. Zur Vorbereitung las er mehrfach das Augsburger Bekenntnis und auch andere lutherische Bekenntnisschriften. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Heilige Schrift in den lutherischen Bekenntnisschriften richtig gedeutet werde, so daß er sich »mit gutem Gewissen zu einem Lehrer der evangelisch-lutherischen Kirche ordinieren lassen« könne (Deinzer 1,104). Am Ordinationstag bat er »Gott um ein Wort aus seinem Munde« und schlug die Bibel auf. Jesaja 6,8-10 hielt er für unpassend und kam auf Apostelgeschichte 28,25-27 – »da hatte ich zum zweiten Mal denselben Text«. Die dritte Stelle war Johannes 12,38-41, wo er wieder mit Jesaja konfrontiert wurde, was er nun als eine an ihn gerichtete Aufforderung verstand. Er folgerte: »Hier bin ich, Herr, sende mich.« (Deinzer 1,109)
Die Beanspruchungen in Fürth waren gering. Auch kam es rasch zu Spannungen mit dem Pfarrer, dem er helfen sollte. Löhe gab deswegen bereits im Septembe [76] seine Arbeit auf und reiste zusammen mit einem Freund ins Donaumoos, wo es zu einer Übertrittsbewegung zum Protestantismus gekommen war. Aber auch hier fand er keine Wirkungsstätte, so daß er im Oktober 1831 gerne einem Ruf nach Kirchenlamitz in Oberfranken folgte. Dort wurde ein Vikar gesucht, dem auch wirklich Arbeit anvertraut wurde. Er verrichtete seine Tätigkeit mit großer Freude und wurde rasch beliebt und bekannt. In seine Gottesdienste kamen fast so viele Fremde wie Gemeindeglieder, die einen Weg bis zu vier Stunden nicht scheuten. Auch durch seine Veröffentlichungen machte er sich einen Namen. Bereits 1830 hatte er »den Kranken zu Nutz … ein schönes Tractätlein aus Bugenhagen und Luther in den Druck gegeben, sehr kurz, aber wie ich aus Erfahrung weiß, sehr brauchbar, um Kranke zur letzten Kommunion vorzubereiten« (Deinzer 1,91). 1833 publizierte er den Traktat »Dina. Wider die Jugendlust«, in dem er auf die ewigen Strafen am Jüngsten Tag verwies und auf die zeitlichen, durch die Sünden gestraft würden. Er warnte die jungen Menschen vor Hochmut und forderte zur Umkehr auf (Löhe 3,1,13-19).
Aber diese scharfen Worte stießen wie auch andere Tätigkeiten auf Widerspruch. Es gab manche, die sich über Löhes Kritik ärgerten. Sie wandten sich an das Konsistorium, das ein Konventikel-Verbot aussprach. Der Vikar stellte daraufhin seine Missionsstunden ein. Das Konsistorium erklärte, daß »Löhe als ein von sich eingenommener Mann erscheint, dem es an Welt- und Menschenkenntnis noch gar sehr fehlt« (Deinzer 1,154). Sein pietistisches Treiben wurde getadelt. Zwar erklärte das Konsistorium am 1. März 1834, daß er gründliche Kenntnisse, frommen Willen und rastlosen Eifer besitze; auch zeichne »er sich durch einen musterhaften Wandel und Wohlthätigkeitssinn aus«. Aber er versuche »bei seiner einseitigen theologischen Richtung rücksichtslos andere für seine Ansichten zu gewinnen« und mißachte dabei »die Grenzen der geistlichen Gewalt«. Er sollte deswegen seine Tätigkeit in Kirchenlamitz beenden, was ihm »nicht als Strafe angerechnet« werde. Vielmehr könne er sich um ein anderes Vikariat bewerben, wobei erwartet werden könne, »daß derselbe die bisher gemachten Erfahrungen und selbst diese Abberufung dazu benützen werde, seinem frommen Eifer eine mehr geregelte Richtung zu geben und die weise berechneten Schranken der geistlichen Amtswirksamkeit nicht mehr zu überschreiten« (Deinzer 1,180-182).
Wilhelm Löhe hat sich an seine Tätigkeit in Kirchenlamitz zeit seines Lebens gern erinnert. Mit dem dortigen Pfarrer verband ihn eine ungetrübte Freundschaft. Aber es gab Teile in der Gemeinde, die die aggressive Art des jungen Mannes nicht ertragen wollten. Sie fanden Verständnis im Konsistorium, das der Aufklärung näher stand als der erwecklichen Art Löhes. Daß der Widerstand in der Gemeinde von längerer Dauer war, wird daraus deutlich, daß seine Gegner es 1837 durchsetzten, daß er in Kirchenlamitz nicht predigen durfte. Sie meinten, dadurch werde nur wieder Unfriede gestiftet. Dementsprechend verfügte dann das zuständige bayrische Landgericht. Der Pfarrer der Gemeinde protestierte [77] zwar dagegen und meinte, hier werde »in die pfarramtlich-kirchlichen Rechte« eingegriffen (Deinzer 1,185), aber er vermochte sich damit nicht durchzusetzen.
1834 kehrte Löhe jedenfalls in seine Heimat zurück, berichtete schriftlich dem Oberkonsistorium in München und wurde nach dort persönlich eingeladen. Das Gespräch nahm wohl einen guten Verlauf, denn er erhielt rasch einen Vertretungsauftrag in Nürnberg. Im Juni 1834 wurde ihm die Versehung der zweiten Pfarrstelle an St. Egidien in Nürnberg übertragen. Damit begann ein weiterer Abschnitt, der neben seiner Tätigkeit in Kirchenlamitz von besonderer Bedeutung für ihn werden sollte. Zwar hatte er nicht viele Aufgaben zu bewältigen – »doch schuf er sich Arbeit, wo er sie nicht fand« (Deinzer 1,187). Seine Wirksamkeit fand auch hier rasch Beachtung. Seine literarische Tätigkeit setzte er mit der Veröffentlichung von Predigten und Traktaten fort. Aber vor allem wurden seine Predigten beachtet, in denen er das städtische Leben geißelte. Verständlicherweise gab es rasch Widerstand – schon nach wenigen Monaten beantragte der Magistrat seine Abberufung. Andere stellten sich hinter ihn und lobten seine Tätigkeit. Der Antrag des Magistrates wurde abgelehnt, Löhe konnte bleiben. Er arbeitete weiter und stieß auf Johann Georg Hamann, der ihm zu der Einsicht verhalf, er sei »zu nichts tauglich, als den eigenen Brei auszukochen« (Deinzer 1,208). In Nürnberg lernte er auch Helene Andreae kennen, die 1837 seine Frau werden sollte.
Aber noch war die Zeit seiner Wanderschaft nicht beendet. Am 31. März 1835 endete sein amtlicher Auftrag in Nürnberg. Es folgte eine weitere Vertretung, bevor er sein Zweites Theologisches Examen ablegen konnte. Auch hier erreichte er die Note »Sehr gut; dem Vorzüglich nahe«. Er wurde nach Altdorf geschickt, wo er sich neben seiner pfarramtlichen Tätigkeit vor allem um die Absolventen des dortigen Lehrerseminars mühte. Es gelang ihm auch, einen Teil von ihnen – etwa 10 Prozent – um sich zu scharen. Zu Spannungen wie in Kirchenlamitz und Nürnberg ist es hier offenbar nicht gekommen, obwohl Löhe meinte: »Hoffentlich werde ich auch hier noch das Zeichen treuer Diener, den Haß der Welt erfahren.« (Deinzer 1,216) Aber sein Aufenthalt war auch in der früheren Universitätsstadt Altdorf nicht von langer Dauer. Bereits nach einem knappen Jahr wurde ihm eine neue Aufgabe zugewiesen, die aber auch nur sechs Monate währte. Er mußte eine neue Zwischentätigkeit übernehmen, bevor er im Jahre 1837 um die Übernahme der Pfarrei Neuendettelsau gebeten wurde. Zwar wäre er lieber in eine Stadt gegangen, aber da alle Versuche dieser Art scheiterten, entschloß er sich, in das kleine mittelfränkische Dorf zu ziehen. Aufgrund dieser Aussicht verlobte er sich, und nach drei Monaten wurde geheiratet – Helene Andreae war achtzehn Jahre alt und seine Konfirmandin gewesen. Die Trauung fand in Frankfurt am Main statt, und zwar an Wilhelm Löhes Ordinationstag, dem 25. Juli. Aus ihrer Ehe gingen vier Kinder hervor, von denen ein Sohn früh verstarb. Bereits am 24. November 1843 starb Helene, so daß Wilhelm sich nun [78] allein um Erziehung und Unterricht seiner Kinder mühen mußte. Dem Sechsunddreißigjährigen wurde nahegelegt, sich nochmals zu verheiraten. Als sich aber die einzige Lösung, die er sich denken konnte, zerschlug, erklärte er, nun ein Witwer bleiben zu wollen. Diesen Entschluß hat er nicht revidiert.
III.
Der junge Ehegatte und Familienvater, der seine Tätigkeit am 6. August 1837 in Neuendettelsau aufnahm, konnte dort an die Tätigkeit eines Pfarrverwesers anknüpfen, der wie Löhe zur Erweckungsbewegung gehörte. Da sich diese in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts häufig mit der Wiederentdeckung des lutherischen Konfessionalismus verband, ist es kein Wunder, daß auch Wilhelm Löhe den Wert dieser Tradition mehr und mehr betonte. Bereits 1836 hatte er ein Beichtbüchlein veröffentlicht, in dem er in starker Anlehnung an Luther Beichte und Absolution erklärt hatte. Auf Predigt, Unterricht und Seelsorge legte er in Neuendettelsau großen Wert. Er versuchte, auch die Geschichte der Kirche für das Gemeindeleben fruchtbar zu machen, indem er etwa den Gemeindegliedern von Zinzendorf erzählte – der Vorwurf, er sei herrnhutisch, schreckte ihn offenbar nicht. An den Sonntagabenden legte er gelegentlich Choräle in Ansprachen aus. Während der Woche sammelte er Männer, Frauen, Jungen und Mädchen in getrennten Kreisen im Pfarrhaus. Auch das Augsburger Bekenntnis hat er Gemeindegliedern erklärt, so daß sich in dem kleinen Dorf ein reiches kirchliches Leben entfaltete.
Nach wie vor verwendete er viel Energie auf die Vorbereitung seiner Predigten. Er hielt sich dabei an die vorgesehenen Perikopen, während er in Wochengottesdiensten fortlaufend biblische Bücher auslegte. Die Predigten arbeitete er wörtlich aus. Erst später mußte er sich teilweise mit Skizzen begnügen oder gar extemporieren. 1848 erschien seine Evangelienpostille; sie beruht weitgehend auf Predigten, die er während der beiden vorhergehenden Jahre gehalten hatte. Neben den Predigten war es der gesamte Gottesdienst, den er langsam aber stetig umgestaltete. Die Feier des Abendmahls wurde ihm immer wichtiger, so daß er bereits 1844 eine »Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses« vorlegte. Man hat gemeint, sie ruhe »wohl auf gründlicheren Studien als irgend eine des [19.] Jahrhunderts« (Stählin, 584). Jedenfalls hat Löhe sich nicht damit begnügt, nur ältere lutherische Agenden zu repristinie- ren, sondern er hat sich bemüht, auch aus den altlutherischen Liturgien Stücke zu übernehmen, die er für angebracht hielt. Er wußte, daß ihm dies den Vorwurf des Katholisierens einbringen werde, aber er meinte, das Gute auch von dort übernehmen zu können. Bald regte sich Widerstand, auch in seiner Gemeinde. Aber er beschritt seinen Weg konsequent weiter, als weitere Auflagen der Agende möglich und nötig wurden. Auch in Neuendettelsau selbst [79] versuchte er eine Bereicherung und Umgestaltung des gottesdienstlichen Lebens durchzusetzen.
In den Unterricht investierte er viel Mühe. Er verfaßte Schriften, aus denen nicht nur seine katechetischen Anliegen, sondern auch die Art und Weise der Durchführung hervorgehen. 1838 publizierte er eine Erklärung des 1. Hauptstückes des Glaubensbekenntnisses für die ländliche Jugend, die er in sein »Hausbuch« übernahm. Dieses erschien 1845 zum ersten Mal und war als eine Hilfe für die nach Nordamerika ausgewanderten deutschen Lutheraner gedacht: Die Eltern sollten mit Hilfe dieses Buches ihren Kindern Unterricht über zentrale christliche Glaubensinhalte geben können. Löhe schätzte den Katechismus sehr hoch und legte im Konfirmandenunterricht besonders auf die Vorbereitung zum Abendmahl großen Wert.
Unter den Publikationen, die er in Neuendettelsau zustande brachte, ragt aus der Zeit des ersten Jahrzehnts seiner dortigen Tätigkeit das Werk »Drei Bücher von der Kirche« heraus. Es erschien 1845 und ist meines Erachtens die sprachlich schönste und wohl bedeutendste Arbeit Löhes. Im ersten Buch wird »Von der Kirche« gesprochen, im zweiten »Von den Kirchen« und im dritten »Von der lutherischen Kirche«. In seinem Vorwort erklärt Löhe, zwar sprächen alle von der Kirche und ahnten, daß sie nicht nur ein Name sei. Was sie aber wirklich sei, das wisse man kaum. Um dem abzuhelfen, greife er auf die Lehre der Väter zurück und stelle dar, was Kirche sei (Löhe 5,85). Dies geschieht zunächst im ersten Buch, in dem herausgearbeitet wird, daß es stets nur eine Kirche gegeben hat und geben kann. Aus allen Völkern hat Gott sie gesammelt (Löhe 5,90-97). Sie lebt vom apostolischen Wort: »Nicht ›Ein‹, nicht ›allgemein‹, nicht ›ewig‹ sind die hauptsächlichen Namen der Kirche, sondern ›apostolisch‹.« (Löhe 5,99) Wahre Kirche ist nur dort, wo Gemeinde »auf das Wort der Apostel gegründet« ist (Löhe 5,100). Sie benötigt nicht die Tradition (Löhe 5,106). Damit ist ein. deutlicher Unterschied zur römisch-katholischen Ekklesiologie markiert.
Im zweiten Buch geht es um das Verhältnis dieser wahren Kirche zu den vielen »Partikularkirchen«. Löhe meint, entscheidend sei das Bekenntnis dieser Kirchen, das schriftgemäß sein müsse. Davon hänge es ab, ob sie wahre Kirche sind. Er bringt auch sofort seine Überzeugung zum Ausdruck, daß seine eigene Kirche ein bibelgemäßes Bekenntnis vertritt, so daß sie zur wahren Kirche gehört (Löhe 5,124-135). Alter, Dauer, weite Ausbreitung, Einigkeit und Sukzession sind nach seiner Auffassung nicht »Kennzeichen der Kirche« (Löhe 5,136-146). Der Neuendettelsauer setzt sich vor allem mit dem römisch-katholischen Verständnis der Sukzession der Bischöfe kritisch auseinander. Zwar erklärt er ausdrücklich, daß er »keine Scheu vor dem Worte Hierarchie« habe, aber von der Sukzession von Bischöfen kann er die Kirchlichkeit nicht abhängig sehen. Gegen Bischöfe hat er grundsätzlich nichts einzuwenden, er meint sogar, daß die Episkopalverfassung »der Kirche bei weitem am zuträglichsten« sei. Aber sie ist nicht göttlichen Rechtes, wie überhaupt wahre Kirche nicht durch eine bestimmte [80] Verfassung konstituiert wird (Löhe 5,146-149). An die Stelle der römisch-katholischen Sukzession der Bischöfe tritt bei ihm – der lutherischen Tradition gemäß – die Sukzession der Lehre: »Die Lehre stirbt nicht aus, und wohin sie wandert, da ist die rechte Kirche, da die rechten Bischöfe, die rechten Priester. Wo sie nicht ist, da ist alle andere Sukzession ein leeres Prophetengrab … Wenn uns nur diese Sukzession der Lehre bleibt, dann fehlt es an Kraft und Leben nicht, auch vor der Menschen Augen zu beweisen, daß eine Kirche da ist.« (Löhe 5,150) »Die sichtbare Kirche ist überall, wo es Berufung und Berufene gibt.« (Löhe 5,119) Die Berufung hängt von Gott ab; er läßt auch die rechte Lehre verkündigen.
Diese wird nun – so heißt es – in der lutherischen Kirche vertreten, zu der Löhe sich bekennt. Der Pfarrer von Neuendettelsau beschreibt den »kirchlichen Charakter« der lutherischen Reformation, gesteht aber auch zu, daß diese nur »teils vollendet, teils [aber] unvollendet« ist. Während der Pietismus gemeint hatte, die Vollendung bestehe darin, nun auch das Leben zu reformieren, meint Löhe, daß das Luthertum noch gar nicht die Bedeutung der Lehre begriffen habe: die lutherische Kirche »weiß nicht, daß sie einen Freiheitsbrief von Gott hat, seiner Gnade und ihres Glaubens frank und frei zu leben und mit ihrem Reichtum alle Welt glücklich zu machen. Sie erkennt nicht, daß sie, nachdem sie die reine Kirche geworden, vor andern eine Erbin aller göttlichen Verheißungen ist« (Löhe 5,158-162). Der Neuendettelsauer vertritt die These, die lutherische Kirche sei »die einigende Mitte der Konfessionen«. Sie halte »die gerechte Mitte« ein: »In keiner einzigen Lehre verteidigt sie ein Extrem, sondern überall bietet ihre Lehre die allein mögliche Vereinigung und Union der in den verschiedenen Partikularkirchen sich ausprägenden extremen Gegensätze«. Löhe fordert die Lutheraner auf, sich zunächst »über Land und Meer weg die Bruderhand« zu reichen. Die Einigkeit der Lutheraner würde dann helfen, »um mit vollsten Händen Segen über die Welt auszustreuen« (Löhe 5,162-179).
Diese profilierten Äußerungen provozierten Widerspruch und Zustimmung. Ihrem Verfasser war daran gelegen, zunächst die Lutheraner aufmerksam zu machen auf das, was bei ihnen schlummert. Aber zugleich sollte sich die lutherische Kirche als beauftragt verstehen, zwischen den übrigen christlichen Kirchen eine Verbindung herzustellen. Die Zuversicht, die lutherische Lehre biete für alle Christen das verbindende Fundament, mag naiv erscheinen. Aber sie ist ein Ausdruck der Zustimmung, die Löhe 1845 zur eigenen Kirche auszusprechen vermag. Dabei sollte es nicht immer bleiben. Dies mag mit der Krise Zusammenhängen, in die der Neuendettelsauer innerhalb seiner Kirche geriet. [81/82]
IV.
Die Revolution 1848 eröffnete neue Möglichkeiten. Wie andere litt Löhe unter dem landesherrlichen Episkopat, der in Bayern vom katholischen König wahrgenommen wurde. Er war der Meinung, daß die Trennung von Staat und Kirche kommen werde und damit auch die Beendigung dieses Rechtszustandes. Die Einwirkungsmöglichkeiten, die dadurch eröffnet werden, beurteilte er als positiv. Löhe meinte aber, die Initiative, die Landstände um Beendigung des landesherrlichen Kirchenregimentes zu bitten, sollte nicht von einem Dorfpfarrer, sondern vom Zentrum des fränkischen Protestantismus Erlangen-Nürnberg-Fürth ausgehen. Dazu ist es nicht gekommen; auch wurde Löhe nicht Abgeordneter im Frankfurter Parlament der Paulskirche. Er hatte dafür kandidiert, wurde aber nicht gewählt, was er mit Erleichterung konstatierte. Daß er sich zu diesem Schritt bereitgefunden hatte, mag damit Zusammenhängen, daß er sich als einen Menschen bezeichnete, der »je und je liberal« gewesen sei (Deinzer 2,266). Aber in den politischen Veränderungen sollte die Kirche selbst neutral bleiben, »soweit es nur die theure Pflicht des Bekenntnisses erlaubt. Es wird ohnehin bald gebieterische Pflicht werden, daß die Kirche in den Kampf geht; denn diese Freiheit ist nur den Gottlosen vermeint und den Knechten Gottes erwächst eine tausendköpfige Tyrannei.« (Deinzer 2,265)
Aber es waren nicht die politischen Verhältnisse, die ihn in eine Krise stürzten, sondern die kirchliche Entwicklung. Löhe meinte, es sei die Zeit gekommen, daß die Gemeinden sich neu nach dem Vorbild der apostolischen Kirche organisierten. Lehre, Verfassung und Leben sollten neu gestaltet werden. Er verfaßte einen »Vorschlag zu einem Lutherischen Verein für apostolisches Leben samt Entwurf eines Katechismus des apostolischen Lebens« (Löhe 5,213-252). Luther wurde kritisiert, weil er die Bedeutung der Kirchenzucht nicht genug betont habe. Löhe stellte als Maxime auf: »Was nicht intensiv ist, ist nicht extensiv.« (Deinzer 2,281) Aber der Verein kam nicht zustande. Die hohen Anforderungen, die der Pfarrer von Neuendettelsau im Hinblick auf Zucht, Gemeinschaft und Opfer gestellt hatte, wirkten wohl gesetzlich und nicht befreiend. Lediglich die »Gesellschaft für innere Mission im Sinne der lutherischen Kirche« konnte 1849 gegründet werden (Löhe 4,185). Aber hier ging es nicht mehr um eine Gesamterneuerung der lutherischen Kirche, sondern um lutherische innere Mission, also einen Teilaspekt. 1857 mußte Löhe dann auch gestehen: »Es war viel leichter, sich einmütig den in der bayrischen Landeskirche aufgekommenen Mißbräuchen zu widersetzen, als sich zu einer heiligen Lebensgemeinschaft zusammenzuschließen.« (Deinzer 2,286)
Die Frage der Kirchenzugehörigkeit stellte sich Löhe im Jahr 1849. Die bayerische Generalsynode vom Frühjahr 1849 und deren Bekenntnis wurden von ihm scharf kritisiert (Löhe 5,333-368). Der Neuendettelsauer gehörte nicht selbst zur Synode, aber etliche seiner Freunde, die sich mit ihren Anträgen aber fast nie [82]hatten durchsetzen können. Zwar wurde eine Bekenntnisverpflichtung der Geistlichen und ihre Entfernung aus dem Amt bei beharrlichem Widerstand beschlossen, aber Löhe und seine Anhänger waren damit nicht zufrieden. Auch ihrem Wunsch nach strengerer Kirchenzucht entsprach die Synode nicht. Löhe überlegte deswegen, ob er seine Kirche nicht verlassen müsse, ja er kündigte offen seinen Austritt an. Daraufhin schrieben die Erlanger Theologen Johann Christian Konrad von Hofmann, den Löhe seit seiner Jugend kannte, und Gottfried Thomasius sowie der damals noch in Rostock lehrende Franz Delitzsch und andere an ihn und baten ihn, diesen Schritt nicht zu vollziehen. Löhe, von Hofmann und Thomasius trafen sich, und Löhe war überrascht, wie weit ihm von Hofmann entgegenkam, der ihm theologisch doch recht fern stand. Zwar erbrachte dieses Treffen nicht so viel, wie Löhe erwarten konnte, weil sich seine Gesprächspartner an der Fakultät nicht ganz durchzusetzen vermochten, aber zunächst einmal war dadurch der Austritt nicht vollzogen, sondern jenen geholfen worden, die diesen Verlust für die Landeskirche vermeiden wollten. Löhe mußte bei einem Besuch von separierten Lutheranern dann feststellen, daß auch dort nicht alles so war, wie er es sich in einer »heiligen Lebensgemeinschaft« vorstellte. Aber die Frage seines Austritts aus seiner Kirche blieb dennoch über Jahre hin offen.
Auch seine theologischen Publikationen trugen zu kritischen Auseinandersetzungen bei. In seinen »Aphorismen über die neutestamentlichen Ämter«, die 1849 erschienen, wertet er »die apostolischen Schriften als Verfassungsurkunden« aus (Müller 1971,49) und rückt damit von seiner lutherischen Position von 1845 ab. War damals die Lehre als alleiniges Kennzeichen der Kirche behauptet worden, so erhält jetzt das Amt, das sich im Neuen Testament in verschiedenen Stufen ausgeprägt finde, die entscheidende Bedeutung. Von ihm hängt die Gemeinde ab. Auch wird eine Sukzession behauptet, wenn es heißt: »Das Amt ist ein Segensstrom, welcher sich von den Aposteln auf ihre Schüler und von diesen Schülern weiter und so herunter in die Zeiten ergießt.« (Löhe 5,284-294) Folgerichtig erhält die Ordination eine große Bedeutung. Wilhelm Löhe fragt, ob sie nicht »höher gestellt werden müsse, als es von vielen alten Lehrern der lutherischen Kirche geschieht« (Löhe 5,296). Er fordert, sie grundsätzlich von einer »Einweisungszeremonie in besondere Amtskreise« zu unterscheiden, denn lediglich die nicht wiederholbare Ordination vermittle Amtsbefugnisse. Auch sei die Gemeinde gehalten, »den Geheiligten heilig zu halten« (Löhe 5,315).
In seinen »Neuen Aphorismen« über »Kirche und Amt« von 1851, die er aufgrund der entstandenen Diskussion verfaßte, hat Löhe diese Position aufrecht erhalten. Zwar hat er in bezug auf die Alternative, »ob denn das Amt von der Gemeinde oder die Gemeinde vom Amte komme«, erklärt, »daß die Gemeinde aus dem Wort geboren wird, und daß das Wort Kraft habe bei denen, die es im Amte, und bei denen, die es ohne das Amt reden« (Löhe 5,547). Aber er möchte doch, daß in jeder Gemeinde ein Ordinierter mitarbeitet, weil er mit mehr [83] Vollmacht zu reden vermöge als der nicht Ordinierte (Löhe 5,549). Der Pfarrer von Neuendettelsau ist sich darüber im klaren, daß er sich damit von Luther unterscheidet. Aber wenn der Reformator zu unvorsichtig war oder wenn seine Auffassung nicht der Bibel entspricht, dann muß er korrigiert werden (Löhe 5,549-551). Die lutherischen Bekenntnisschriften hätten »keine letzte Antwort gegeben«. Aber in einem Privatbrief gesteht er offen, daß er »es als göttliche Leitung« ansieht, daß diese »nicht deutlicher gegen ihn redeten« (Hebart, 2 78f.). Theologische Diskussionen, kirchenpolitische Streitigkeiten und sein kirchliches Sonderdasein machten Wilhelm Löhe in der Zeit um 1850 das Leben schwer. Allerdings vermochte er auch Erfolge zu konstatieren. Sein Freund Adolf von Harleß, in Leipzig lehrend, ab 1850 Oberhofprediger in Dresden, wurde als Vermittler für die bayrische Kirche gewonnen. Ihm gelang es, Löhe von einem Austritt aus der Kirche abzuhalten. Als Harleß 1852 Präsident des Oberkonsistoriums in München wurde, wurde die endgültige Abkehr vom Rationalismus und die Hinwendung zum Neokonfessionalismus im bayrischen Protestantismus deutlich. Im Jahre 1853 hat dann auch die bayrische Synode die Landeskirche als evangelisch-lutherisch bezeichnet und damit eine Entwicklung zum Abschluß gebracht, für die von dem Landpfarrer Löhe entscheidende Anstöße ausgegangen waren.
V.
Zwar waren damit nicht alle Probleme gelöst – bei einem so veränderungsfähigen und engagierten Menschen wie Wilhelm Löhe ist das auch nicht zu erwarten. Aber er konnte doch nun konzentrierter seinen diakonischen und missionarischen Anliegen nachgehen. Die Betreuung der deutschen Auswanderer nach Nordamerika war ihm seit 1841 ein Anliegen. Er bildete Handwerker aus, die willens waren, Landsleute in Nordamerika geistlich zu betreuen. Bereits 1842 machten sich zwei so ausgebildete Missionare auf den Weg. Löhe erhielt Berichte von drüben und stellte fest, daß sich sein Ansatz als richtig erwies. In »kirchlichen Mitteilungen aus und über Nordamerika« wurden Menschen in Deutschland über die dortige Arbeit informiert. Es wurde das Missions- und Diasporaseminar gegründet, durch das viele Menschen ausgebildet wurden, die dazu beitrugen, daß unter den deutschen Lutheranern in Nordamerika die kirchliche Tradition bewahrt und erneuert wurde (Deinzer 3,4-37). Zwar kam es in Nordamerika zu Differenzen, die Löhes Anhänger veranlaßten, die von ihnen und sächsischen Lutheranern gegründete Missouri-Synode zu verlassen und die Iowa-Synode ins Leben zu rufen, aber zur Stärkung des lutherischen Elementes in Nordamerika haben die Neuendettelsauer Aktivitäten gleichwohl beigetragen. Auch um Indianermission und Kolonisation bemühten sich Löhes Sendlinge (Deinzer 3, 38-75).
Seit 1853 trat die Diakonissenanstalt daneben. Der Neuendettelsauer sah, [84] daß viele junge Frauen in schwierigen sozialen Verhältnissen unausgebildet lebten. 1854 wurde ein »Lutherischer Verein für weibliche Diakonie« gegründet. Nicht nur Diakonissen, sondern auch andere weibliche Jugendliche sollten in dieser Diakonissenanstalt ausgebildet werden. Die Ausgebildeten wurden in die Lage versetzt, Notleidenden im Land zu helfen. Aus der reinen Ausbildungsanstalt wurde bald ein Mutterhaus, an das sich die Schwestern banden, weil sie einen Halt benötigten. Dabei legte Löhe dann auch Gewicht auf gottesdienstliches und geistliches Leben. Die Neuendettelsauer Diakonie erhielt ihr eigenes Gesicht. Sie grenzte sich von unionistischen Tendenzen ab, die Löhe für verderblich hielt, weil sie keine Klarheit erlaubten. Sie griff statt dessen zurück auf ältere kirchliche Traditionen, die Löhe etwa auch in seiner Sammlung von Gebeten herangezogen hatte. Auch in Neuendettelsau selbst und nicht nur im Land, wo Diakonissen arbeiteten, wurden verschiedene diakonische Aktivitäten entfaltet.
Liturgie, Mission und Diakonie gingen so eine enge Bindung ein. Sie wurden getragen von Löhes Theologie, die auch in dieser Phase des Ausbaus in Bewegung blieb. So entdeckte er jetzt den Chiliasmus, zu dem er sich – wie viele andere seiner Zeitgenossen – bekannte. In einer Predigt des Jahres 1857 erklärte er, an dieser Stelle dazugelernt zu haben. Zwar weiß er, daß der Chiliasmus in den lutherischen Bekenntnisschriften abgelehnt wird, aber das kann ihn nicht hindern, mit dem Prinzip ernst zu machen, die Bibel sei die alleinige Norm. Da sie aber laut Löhes Auffassung die Lehre vom tausendjährigen Reich verkündigt, gibt es für ihn keine andere Konsequenz, als sich dem zu fügen.
Aber es sollte bald andere Themen geben, die für neue Spannungen sorgten. So hat es sich der Neuendettelsauer Pfarrer aufgrund von Jakobus 5,14 nicht nehmen lassen, eine Krankenölung durchzuführen. Als dies bekannt wurde, entstand eine ziemlich Erregung; hatte Löhe doch etwas vollzogen, was als »katholisch« angesehen wurde und deswegen unter Lutheranern emotional negativ besetzt war. Im Laufe eines Jahres mußte Löhe sechs Erklärungen abgeben, um sich verständlich zu machen (Löhe 5,721-743). Zwar hatte er am 29. September 1857 an Harleß geschrieben: »Ich wünsche anderes, sage unverholen meine Meinung, aber das alles hindert mich nicht, wenn Wahrheit und Zucht, Konfession und rechte Sakramentsverwaltung emporkommen, der gehorsamste Dorfpfarrer zu sein, den Du hast.« (Deinzer 2,465f.) Aber da all’ dies noch nicht so vorhanden war, wie der Pfarrer von Neuendettelsau es für erforderlich hielt, kam es immer wieder zu Spannungen. Dazu zählten auch die »Rosen-Monate heiliger Frauen«, die er 1859 publizierte und in denen er sechzig Lebensbeschreibungen von Frauen »zumeist aus den ersten Abschnitten der christlichen Kirche« vorlegte. Den Titel hatte er gewählt, weil »die Lebensläufe der heiligen Frauen duftig sind wie Rosen und den Geruch eines heiligen und himmlischen Lebens auch jetzt noch verbreiten«. Aber selbst viele seiner Freunde nahmen Anstoß und meinten, er habe damit römische Lehre propagiert und könne nicht mehr Obmann der Gesellschaft für innere Mission sein (Löhe 5,1053). Der Neuendet-[85]telsauer nahm deswegen auf einer Konferenz der Gesellschaft dazu Stellung und versuchte, die Bedenken auszuräumen, wobei er zugestand, daß er »mit größerer Weisheit« hätte vorgehen können (Löhe 5,761-778). Kirchenamtliche Eingriffe erfolgten, als er sich 1860 weigerte, einen Geschiedenen zu trauen, der wieder heiraten wollte. Es kam deswegen zu einer Suspension, weil Löhe an seinen Prinzipien festhielt. Aber er wurde schließlich wieder eingesetzt und arbeitete weiter in seiner Pfarrei.
Wichtiger als diese Querelen sind die organisatorischen, pädagogischen und theologischen Leistungen, die er mit großer Hingabe vollbrachte. Dazu gehören seine pastoral-theologischen Arbeiten, unter denen seine Schrift »Der evangelische Geistliche« von 1852-1858 hervorragt. Hier entwickelte er seine Vorstellungen »vom heiligen Hirtenamt«. Er äußerte sich über die »persönlichen Verhältnisse eines Pfarrers« und in einem zweiten Teil über seine Arbeitsgebiete. Dabei brachte er seine Erfahrungen als Landpfarrer ein. Obwohl er meinte, eine »Dorfkanzel« sei ein »bescheidenes Los«, so erklärte er doch gleichzeitig: »das geistliche Amt erfordert unter allen menschlichen Berufsarbeiten die meiste geistige Produktionskraft.« Er bekennt sich zu Luthers Satz: »Oratio, meditatio, tentatio faciunt theologum.« Aber Löhe meinte konstatieren zu müssen, daß den meisten Theologiestudenten »die Zeit nur zwischen Buch und Krug« zerrinne. Dabei sollten Reinheit des Bekenntnisses und Sittenreinheit »den character indelebilis des evangelischen Geistlichen bilden«. Gegen »pure, wirkungslose Orthodoxie« sprach er sich aus. Sie sei »scheinheilige Bosheit, aus welcher kein Schluß auf wahre Orthodoxie zu machen ist«. Seine Darstellung ist »dem nun folgenden Geschlechte evangelischer Geistlicher dargebracht« (Löhe 3,2,7-317), also eine Art pastoraltheologisches Testament.
Es ist zu verstehen auf dem Hintergrund seines Gesamtprogramms: »Wir wollten eine apostolisch-episkopale Brüderkirche.« Am Luthertum ist ihm vor allem das Verständnis des Abendmahles und die Lehre von der Rechtfertigung wichtig. Eine Festschreibung lehnt er dagegen ab: »Wir sind ganz antik und ganz modern. Eine Fortbildung des Luthertums zu einer apostolisch-episkopalen Brüderkirche – das ists, was wir im letzten Grunde wollten.« (Deinzer 3,327f) So hat der alternde Löhe sich zutreffend interpretiert. Es war ihm nicht möglich, seine Vorstellungen zu realisieren. Aber als er am 2. Januar 1872 starb, ging das Leben eines Mannes zu Ende, dem die Christenheit wichtige Anstöße und Einsichten verdankt. Manches davon wird neu zu bedenken sein. [86]
Werke
Wilhelm Löhe. Gesammelte Werke. Hg. v. Klaus Ganzen. Bisher Bde 3,1-7,2. Neuendettelsau 1951-1966. In den fehlenden Bänden 1 und 2 sollen die Briefe und Tagebücher ediert werden; bis sie erschienen sind, ist die Biographie von Deinzer (s. u.) unverzichtbar, weil in ihr aus diesen unveröffentlichten Quellen zitiert wird.
Darstellungen
Deinzer, J.: Wilhelm Löhes Leben. Aus seinem schriftlichen Nachlaß zusammengestellt. 3 Bde, 4. Aufl. Neuendettelsau 1935.
Zur Erinnerung an Wilhelm Löhe. In: Lutherische Blätter Nr. 105,23 (1971/72), 71-118.
Ganzert, K.: Zucht aus Liebe. Kirchenzucht bei Wilhelm Löhe. Neuendettelsau 1949.
Hebart, S.: Wilhelm Löhes Lehre von der Kirche, ihrem Amt und Regiment. Neuendettelsau 1939.
Kantzenbach, F. W.: Gestalten und Typen des Neuluthertums. Beiträge zur Erforschung des Neokonfessionalismus im 19. Jahrhundert. Gütersloh 1968.
Kantzenbach, F. W. (Hg.): Wilhelm Löhe – Anstöße für die Zeit. Neuendettelsau 1971.
Kantzenbach, F. W.: Die »befreundeten Gegner«. Ekklesiologische Konzepte rund um Wilhelm Löhe. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 44 (1975), 114-142.
Kantzenbach, F. W.: Wilhelm Löhe (1808-1872). In: Klassiker der Theologie. München 1983, 174-189 und 418f.
Keller, R.: Reformatorische Wurzeln der Amtslehre von Wilhelm Löhe. In: Unter einem Christus sein und streiten. Festschrift zum 70. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Hopf, D. D. Erlangen 1980, 106-124.
Kreßel, H.: Wilhelm Löhe als Prediger. Gütersloh 1929.
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Müller, G.: Der Student Wilhelm Löhe und das Amt. Eine Äußerung aus dem Jahr 1829. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1975), 593-601.
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Quelle: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 9,2: Die neueste Zeit II, Stuttgart: Kohlhammer 1985, S. 71-86.