Von Yosef Hayim Yerushalmi
Präludium
Im Frühjahr 1987 erfuhr ich von einer Tagung, die während meines Frankreichaufenthaltes stattfinden sollte; weil ich dann aber nichts weiter hörte, vergaß ich die ganze Angelegenheit. Doch als das Frühjahrssemester an der Columbia University zu Ende ging und ich mein erstes Seminar an der École des Hautes Études vorbereitete, kam tatsächlich eine Einladung. Das Thema lautete: »Usages de l’oubli« – »Vom Nutzen des Vergessens.« Nein, ich hatte mich nicht verlesen.
Man fragte an, ob ich über »Hypertrophie des Gedächtnisses – Vergessen der Geschichte« sprechen wolle. Das kam gar nicht in Frage, allenfalls vielleicht »Atrophie des Gedächtnisses – Hypertrophie der Geschichte«. Lieber gar kein Titel oder ein ganz vager, und am liebsten wäre es mir eigentlich gewesen, nur dazusitzen und dem großartigen Jacques Le Goff zuzuhören. Doch es kam anders. Ich hatte mir angemaßt, über Erinnerung zu schreiben,[1] nun hieß es anscheinend Buße tun und über Vergessen zu reden. Beklommen fügte ich mich in mein Schicksal. Was konnte ich noch sagen, was ich nicht schon – wenigstens andeutungsweise geschrieben hätte?
Gemildert wurde mein erster Schrecken durch einen Zufall, den ich, abergläubisch genug, als gutes Omen deutete.
Ein paar Tage bevor die Einladung zu dieser Tagung eintraf, hatte ich mir zwei Bücher des russischen Psychologen Alexander Romanowitsch Lurija gekauft und sie sofort verschlungen: The Man With a Shattered World: The History of a Brain Wound [Der Mann mit einer zerbrochenen Welt: Die Geschichte einer Hirnverletzung] sowie The Mind of A Mnemonist: A Little Book about a Vast Memory [Die Innenwelt eines Gedächtniskünstlers: Ein kleines Buch über ein riesenhaftes Gedächtnis].[2] Bei diesen beiden Klassikern der psychiatrischen Literatur handelt es sich um Fallgeschichten; jede ist das Spiegelbild der anderen. Jedenfalls hatte ich jetzt Stoff zum Nachdenken für den Flug nach Paris.
I.
Der Mann, dessen Welt zerbrochen war, war im Zweiten Weltkrieg in der Schlacht von Smolensk von einer Kugel in den Kopf getroffen worden. Er überlebte zwar, hatte aber sein Gedächtnis und die Fähigkeit, sich zu erinnern, fast vollständig verloren. Mühsam und mit äußerster Willensanstrengung begann er zu schreiben, jeden lag ein paar Sätze, fünfundzwanzig Jahre lang. Langsam, qualvoll gelang es ihm, Bruchstücke seiner Vergangenheit auszugraben und sie sogar in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. So schuf er sich zwar ansatzweise eine Verbindung zum Leben, aber ein normales Leben war ihm unmöglich. Einmal schreit er auf: »Ich erinnere mich an nichts, an rein gar nichts! Isolierte Einzelheiten, … das ist alles! Über nichts weiß ich wirklich Bescheid. Meine Vergangenheit ist einfach völlig ausgelöscht!«
Der Gedächtniskünstler hingegen brachte mit seinem gewaltigen Gedächtnis von klein auf die Psychologen, die ihn untersuchten, ebenso zum Staunen wie das Publikum, das ihn auf der Bühne sah.
Die Tragödie des Mannes von Smolensk überrascht uns nicht, sind wir es doch gewohnt, Amnesie für pathologisch zu halten. Das Phänomen des Gedächtniskünstlers war aber nicht weniger pathologisch. Der eine konnte sich nicht erinnern, der andere nicht vergessen. Wenn dem Gedächtniskünstler das Lesen ebenfalls schwer fiel, so lag es nicht wie bei dem Gehirngeschädigten daran, daß er die Bedeutung der Wörter vergessen hatte, sondern daran, daß ihm beim Lesen ununterbrochen Wörter und Bilder aus der Vergangenheit in den Sinn kamen und die Wörter, die er vor sich hatte, geradezu erstickten. Lurija bringt das Problem im Zusammenhang mit dem Gedächtniskünstler so auf den Punkt:
»Viele von uns suchen Wege, ihr Gedächtnis zu verbessern; keiner von uns braucht zu lernen, wie man vergißt. Im Fall von S. war es genau umgekehrt. Ihn quälte die Frage, wie er das Vergessen lernen könnte.«[3]
Unwillkürlich erinnert uns dies an Nietzsche, der bereits 1874 die Krise des Historismus als historische Krankheit diagnostiziert, »weil ich sogar glaube, dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden.«[4] Und weiter: »es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben.«[5] Nach diesen mit Verve vorgetragenen Thesen stellt er nüchtern fest, die Überwindung dieses Siechtums hänge davon ab,
»dass man ebenso gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss als man sich zur rechten Zeit erinnert, davon daß man mit kräftigem Instincte herausfühlt, wann es nöthig ist, historisch, wann unhistorisch zu empfinden. Dies gerade ist der Satz, zu dessen Betrachtung der Leser eingeladen ist: das Unhistorische und das Historische ist gleichermaassen für die Gesundheit eines einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig.«[6]
Ja, natürlich. Der Leser nickt zustimmend, denn im Grunde ist die Aussage banal. Außerdem geht sie an der eigentlichen Frage vorbei. Selbst verständlich kann man sagen, daß das Gesunde irgendwo zwischen dem Gedächtniskünstler und dem Mann von Smolensk liegt. Aber wo sind die Grenzen zu ziehen, wenn beides, Erinnern und Vergessen, vonnöten ist? Nietzsche hilft uns da nicht weiter. Wieviel Geschichte brauchen wir? Welche Art von Geschichte? Woran sollten wir uns erinnern, was können wir getrost vergessen, was müssen wir vergessen? Diese Fragen sind heute ebenso offen wie zu Nietzsches Zeiten; doch sie sind dringlicher geworden. Ich fürchte, wir können sie – aus Gründen, die gleich zu erörtern sein werden – weder hier noch in der vorhersehbaren Zukunft beantworten.
II.
Doch ich eile voraus. Noch sind die Begriffe nicht geklärt. Man kann nicht sinnvoll über »Vergessen« sprechen, ohne sich gleichzeitig klarzumachen, was man unter »Erinnern« versteht. Ich möchte zunächst zwischen Gedächtnis (mnemne) und Erinnerung (anamnesis) unterscheiden. Unter Gedächtnis verstehe ich hier etwas im wesentlichen Ungebrochenes und Zusammenhängendes, unter Erinnerung die Erinnerung an etwas Vergessenes. Die Begriffe habe ich natürlich, wie es sich für einen Juden gehört, von den Griechen entlehnt, von Platon, bei dem sie sich nicht auf die Geschichte beziehen, sondern auf die Philosophie, genauer: auf die Erkenntnis der ewigen Ideen. Abgesehen von dem seltenen Fall, in dem die Seele eines Einzelnen pränatale Erinnerungsspuren aus der Welt der Ideen bewahrt hat, ist bei Platon alle wahre Erkenntnis Anamnese, alles echte Lernen der Versuch, sich an Vergessenes zu erinnern. Eine merkwürdige Parallele dazu findet sich im Talmud (Traktat Nidda), wo es heißt, daß das Ungeborene im Mutterleib die ganze Thora kennt und von einem Ende der Welt zum anderen sicht. Im Augenblick der Geburt kommt aber ein Engel und schlägt dem Neugeborenen auf den Mund (in der Legende wird aus dem Schlag später ein Kuß), woraufhin das Kind sofort alles vergißt und die Thora (leider) von Anfang an neu lernen muß. Angesichts der Anwesenheit von Kollegen, die die Griechen weitaus besser kennen als ich, beginne ich jetzt, wie ich es meist tue, mit den Juden, um mich dann zu allgemeineren Betrachtungen voranzuarbeiten.
III.
Nach dem »Nutzen des Vergessens« sucht man in der hebräischen Bibel vergeblich. Sie kennt nur den Schrecken des Vergessens. Vergessen, das Gegenteil des Gedächtnisses, ist dort immer negativ, die Kardinalsünde, die alle anderen nach sich zieht. Der locus classieus findet sich wohl im achten Kapitel des fünften Buches Mose:
»Wahre Dich! sonst könntest du deinen Gott vergessen, ungewahrt zu lassen seine Gebote, so seine Rechtsgeheiße so seine Satzungen … vergessen möchtest du Ihn deinen Gott, – der dich führte aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Dienstbarkeit. … Es wird geschehn, wirst du vergessen Ihn deinen Gott … ich zeuge heuttags gegen euch, daß ihr dann schwinden, hinschwinden müßt!«[7]
Die verblüffende Annahme, ein ganzes Volk könne nicht nur zur Erinnerung aufgefordert, sondern tatsächlich für das Vergessen verantwortlich gemacht werden, wird so vorgetragen, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit. Dabei ist die Vorstellung eines kollektiven Vergessens gewiß mindestens ebenso problematisch wie die eines kollektiven Gedächtnisses. Psychologisch gesehen ist sie praktisch bedeutungslos. Völker und Gruppen können genaugenommen nur die Gegenwart vergessen, nicht aber die Vergangenheit, d. h. die der Gruppe zugehörigen Einzelnen können zwar Ereignisse vergessen, die sich zu ihren Lebzeiten abspielten, doch die Vergangenheit, die sie nicht selbst miterlebt haben, können sie nicht in dem Sinne vergessen wie ein Einzelner Teile seiner Lebensgeschichte vergessen kann. Wenn wir sagen, daß ein Volk »sich erinnert«, sagen wir eigentlich, daß ein Teil der Vergangenheit der gegenwärtigen Generation bewußt vermittelt und von dieser als bedeutungsvoll akzeptiert wurde. Umgekehrt »vergißt« ein Volk, wenn eine Generation, die im Besitz der Vergangenheit ist, diese nicht an die nächste weitergibt oder wenn – was auf das gleiche hinausläuft – die jüngere Generation das Überlieferte nicht annimmt und daher auch nicht weitergibt. Abbrechen kann eine Überlieferung entweder abrupt oder durch einen Erosionsprozeß. Prinzipiell aber gilt, daß ein Volk nichts »vergessen« kann, was ihm nicht vorher überliefert wurde.
Der Mann von Smolensk und der Gedächtniskünstler haben uns als einleitende Metaphern gute Dienste geleistet; doch jetzt müssen wir uns von ihnen trennen, damit sie nicht etwa zu Analogien werden. Wie das »Leben eines Volkes« eine biologische Metapher ist, so ist das »Gedächtnis eines Volkes« eine psychologische Metapher – es sei denn, man personifiziert das Volk als einen Organismus mit einer kollektiven Seele, die ebenso funktioniert wie die Psyche des Einzelnen. Das aber hieße, die Geschichte so zu lesen wie Freud und sich zu einem mittlerweile diskreditierten Psycho-Lamarckismus zu bekennen.[8]
IV.
Kollektives »Vergessen« tritt also ein, wenn eine Gruppe – sei es aus rebellischer Absicht, sei es passiv aus Gleichgültigkeit oder Trägheit, sei es als Folge einer historischen Katastrophe – ihr Wissen über die Vergangenheit den Nachgeborenen nicht überliefert. Alle an die Juden gerichteten Ermahnungen, sich zu »erinnern« und nicht zu »vergessen«, wären nutzlos gewesen, wären die Riten und historischen Erzählungen nicht in Form der »Thora« (der »Lehre« im weitesten Sinne) kanonisiert worden, und hätte sich die Thora ihrerseits nicht ständig in Form der »Überlieferung« erneuert.
Erster Text:
»Moses empfing die Thora am Sinai und brachte sie Joshua, und Joshua brachte sie den Weisen, und die Weisen brachten sie den Propheten, und die Propheten brachten sie den Männern der Großen Synagoge.«
So etabliert das Mischna-Traktat Abot gleich am Anfang die pharisäische »Traditionskette« (Shalshelet ha-qabbalah), die sich dann über die talmudische Zeit bis zum Ende des Mittelalters fortsetzt. Der lakonische Passus erfaßt meines Erachtens das Wesen des kollektiven Gedächtnisses als in die Zukunft zielende Doppelbewegung des Empfangens und Weitergebens. Dieser Prozeß formt die mneme der Gruppe, das Kontinuum ihres Gedächtnisses, wie die Glieder einer Kette, nicht wie ein seidener Faden. Die Juden waren nicht etwa Gedächtnisvirtuosen, sondern bereitwillige Empfänger und glänzende Überlieferer.
Zweiter Text (Babylonischer Talmud, Traktat Sabbath 138b):
»Als unsere Lehrer in der Akademie zu Jabne zusammen traten, sprachen sie: Dereinst wird die Tora in Israel in Vergessenheit geraten, denn es heißt (Amos 8,11): Wohlan, Tage kommen, Erlauten ists von meinem Herrn, Ihm, da sende ich einen Hunger ins Land, nicht einen Hunger nach Brot, und nicht einen Durst nach Wasser, sondern, Meine Reden zu hören.«
Dieser düstere Passus kommt unerwartet, fast als ein Schock, und läßt sich nicht einfach als die unumgängliche Exegese des darin zitierten Bibelspruchs erklären. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Zeit und dem Ort, welche die Tradition selbst diesen Worten zuweist. Die Akademie zu Jabne errichtete Rabbi Jochanan ben Sakkai, nachdem die Römer den Zweiten Tempel, diese bedeutendste aller jüdischen Gedächtnisstätten, zerstört hatten. Jabne war die Festung gegen das Vergessen. Hier wurde die Überlieferung gerettet, studiert und in Formen gegossen, die ihre Kontinuität bis in kommende Zeitalter gewährleisteten. Die von Jabne ausgehende dauernde Kraft zeigt sich für mich besonders sinnfällig in der Tatsache, daß Freud die »Traditionskette« als Psychologe zwar zugunsten einer Kette unbewußter Wiederholungen verwarf, als Jude jedoch die Bedeutung dieses fernen Ereignisses immer noch verstand und empfand. Nach dem Anschluß Österreichs aus seinem Wiener Jerusalem geflohen, griff er im August 1938 instinktiv auf Jabne als tröstliches Gleichnis zurück, das er durch Anna Freud der in Paris zum Fünfzehnten Internationalen Psychoanalytischen Kongreß versammelten Diaspora übermitteln ließ:
»Das politische Unglück der [jüdischen] Nation lehrte sie, den einzigen Besitz, der ihnen geblieben war, ihr Schrifttum, seinem Werte nach einzuschätzen. Unmittelbar nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus erbat sich Rabbi Jochanan ben Sakkai die Erlaubnis, die erste Thoraschule in Jabne zu eröffnen. Fortan war es die heilige Schrift und die geistige Bemühung um sie, die das versprengte Volk zusammenhielt.«[9]
Völlig richtig. Um so merkwürdiger wirkt es, daß ausgerechnet diejenigen Männer, die das Fundament für die zukünftige Überlieferung der Thora legten, die schreckliche Voraussage trafen, sie werde vergessen werden. Natürlich konnten sie selbst nicht wissen, daß ihrem Werk solche Dauer beschieden sein würde. Es handelte sich wohl weniger um eine Voraussage als um die Projektion ihrer Angst, die Thora könnte in Vergessenheit geraten. Was also war Thora für die Weisen von Jabne? Zur Lehre gehörte ja auch sehr viel Historisches. Es wird sich sogleich zeigen, daß ihre Sorge nicht etwa dem Vergessen der »Geschichte« gilt; sie fürchten vielmehr, die halacha, das Gesetz, könnte in Vergessenheit geraten. Die Prioritäten sind eindeutig, die halacha steht an erster Stelle. Erinnert wurde die Geschichte tatsächlich auch nur, soweit sie für das Wertesystem der halacha relevant war. Der Rest wurde ignoriert, wurde »vergessen«.
Dritter Text (Babylonischer Talmud, Traktat Sukka 20a):
»Als die Tora zuerst bei Jisrael in Vergessenheit geriet, kam Ézra aus Babylonien und begründete sie; später geriet sie abermals in Vergessenheit, und Hillel, der Babylonier, begründete sie; und als sie wiederum in Vergessenheit geriet, kamen R. Hija und seine Söhne und begründeten sie wieder.«
Die Überlieferung kennt also drei Fälle, in denen die Lehre ganz oder teilweise in Vergessenheit geriet und dann wieder begründet wurde. Der Sinn der Talmudstelle liegt auf der Hand. Was das Volk »vergessen« hat, kann unter bestimmten Umständen zurückgeholt werden. Von den drei Beispielen ist das erste das bekannteste und wichtigste. Im achten Kapitel des Buches Nehemia mit Esra das Volk am Wassertor in Jerusalem zusammen und unternimmt einen dramatischen Versuch nationalen Erinnerns. Doch das Zurückgeholte wird – wie bei jeder kollektiven Anamnese – dabei auch verwandelt. Während der sieben läge des Laubhüttenfestes lesen Esra und seine Begleiter zum erstenmal den ganzen Text der Thora (gemeint sind hier die fünf Bücher Mose) öffentlich vor dem ganzen Volk als zusammenhängendes »Buch« (sefer)laut vor, während die Leviten den Sinn auslegen. Das bedeutet, daß ein heiliger Text zum erstenmal in der Geschichte gemeinsamer Besitz eines Volkes und nicht nur seiner Priester wird. Es ist die Geburtsstunde der Heiligen Schrill und der Exegese. Die Religion des alten Israel wird zum Judentum, und Jabne wird möglich.
V.
Wir sind in Royaumont versammelt, nicht am Wassertor, und ich werde Sie nicht weiter mit alten Texten plagen. Diese habe ich Ihnen vorgelegt als – sicher unvollständige – Paradigmen für die Funktionsweise des kollektiven Gedächtnisses, für eine Krise des Vergessens und für die kollektive Erinnerung. Alle drei stammen aus einer spezifischen Tradition, in der das Problem der Erinnerung und des Vergessens immer einen hohen Stellenwert halte. Unsere Texte haben ihre Grenzen und können unmöglich das ganze Gebiet des Vergessens abdecken. Selbstverständlich gab es auch eine Art des Vergessens, die in den Quellen naturgemäß nie erwähnt wird, denn es gab manches, auch höchst Bedeutsames, das wirklich vollständig vergessen wurde. Ein Beispiel mag genügen: Als sich im alten Israel der Monotheismus durchsetzte, wurde die ganze üppige und eindrucksvolle Welt der heidnischen Mythologie des Nahen Ostens unterdrückt und vergessen – spurlos bis auf die Karikatur als reiner Götzendienst, die die Propheten von ihr zeichneten: Verehrung lebloser hölzerner und steinerner Figuren.
Paradigmatisch sind unsere Texte meines Erachtens deshalb, weil die darin aufgeworfenen Fragen über den jüdischen Kontext hinausgehen. Die Phänomenologie kollektiver Erinnerung und kollektiven Vergessens ist trotz großer Unterschiede im Detail im wesentlichen bei allen Gesellschaften die gleiche. Bei allen Völkern werden bestimmte fundamentale Elemente der Vergangenheit – historische oder mythische, oft auch gemischt – zu einer mündlichen oder schriftlichen »Thora«, einer gemeinsamen, konsensfordernden kanonischen Lehre. Und diese »Thora« überlebt nur, wenn sie zur »Überlieferung« wird. Jede Gruppe und jedes Volk besitzt eine eigene halacha, denn halacha ist nicht etwa Gesetz, nomos, im alexandrinischen, geschweige denn im paulinischen Sinne. Im Hebräischen ist das Substantiv aus dem Verb halach, »gehen, beschreiten«, abgeleitet; halacha – der Pfad, den man beschreitet, der Weg, das »Tao« – ist der sinnstiftende Komplex aus Ritualen und Glaubenssätzen, der einem Volk Identität und Richtung gibt. Aus der Vergangenheit werden nur diejenigen Augenblicke überliefert, die für die gegenwärtig gelebte halacha eines Volkes als prägend oder exemplarisch empfunden werden. Die übrige »Geschichte« bleibt am Rande des Weges liegen.
An bestimmten Punkten seiner Geschichte ist auch ein ganzes Volk zur Erinnerung fähig, ein Vorgang, der nicht von der Gruppe selbst in Gang gebracht wird, sondern von herausragenden Einzelnen oder von Eliten – Esras und Leviten, wenn man so will. Jede »Renaissance« und jede »Reformation« greift auf vergessene oder vernachlässigte Elemente einer oft fernen Vergangenheit zurück, die plötzlich wahlverwandt und fast vertraut wirken. Dieser Erinnerungsprozeß verwandelt die wiederentdeckte Vergangenheit notwendigerweise in etwas Neues und schmälert ebenso unweigerlich die Bedeutung der jüngeren Vergangenheit, die nun getrost vergessen werden kann. Wenn das neu Erinnerte von Dauer sein soll, muß es selbst zur Überlieferung werden, mit allem, was dazugehört.
Bei der modernen Geschichtsschreibung handelt es sich weder um mneme noch um anamnesis, auch wenn es vielleicht so aussieht, als wären kollektives Gedächtnis und kollektive Erinnerung im Spiel. Sie ist vielmehr ein radikal anderes Unterfangen, und in der Vergangenheit, die sie ständig neu schafft, sind die Spuren des kollektiven Gedächtnisses oft kaum noch auszumachen. Die Geschichtsschreibung entdeckt zwar wirklich verlorene Vergangenheit wieder, aber nicht die, die wir verloren zu haben glauben. Auf dieses Thema will ich hier nicht weiter eingehen, da ich mich in Zachor zur Genüge damit befaßt habe.
Der moderne Historiker hat sich nicht mit einem Schlag von der Gruppe und ihrem Gedächtnis gelöst. Noch verwurzelt im organischen Leben seines Volkes und einer gemeinsamen paneuropäischen Kultur, macht er sich im neunzehnten Jahrhundert daran, Gedächtnis zu bilden, zu verfeinern und wiederherzustellen. Nicht ganz zu Unrecht versteht er sich nicht nur als Geschichtsgelehrter und Geschichtsschreiber, sondern auch als in der Geschichte Handelnder. Bei seiner Arbeit stellt er dann aber fest, daß seine Methoden ihn zu einer für die Gruppe ganz unvorstellbaren anamnesis befähigen. Seine Untersuchungsmethoden eröffnen den Zugang zur ganzen Vergangenheit, und die Suche nach dieser Totalität erweist sich als unwiderstehlich. Gleichzeitig fordert sein zunehmendes Bedürfnis nach wissenschaftlicher Objektivität anscheinend mehr und mehr Distanz von den gegenwärtigen Sorgen der Gruppe, ja sogar von dem gewählten Stoff. Im Rückblick kommen einem beide Tendenzen nahezu unvermeidlich vor. So entwickelt die Geschichtsschreibung ein akzelerierendes Eigenleben, bis dann Nietzsche ein »verzehrendes Fieber« diagnostiziert. Was als Heilung begann ist zur Krankheit geworden. Nietzsche war der erste, aber keineswegs der einzige, der es so sah.
Unsere ursprüngliche Frage – wieviel man erinnern und wieviel man vergessen soll läßt sich keinesfalls aus dem Blickwinkel der Geschichtsschreibung beantworten, denn ihr geht es nicht um das Gedächtnis. Das soll nicht etwa heißen, die moderne Geschichtsschreibung wäre nicht selektiv, sondern nur, daß sie rein immanente Selektionsprinzipien hat – Forschungsstand, Darstellungsstruktur, Schlüssigkeit der Argumentation. Andererseits gibt es aus eben dieser fachinternen Perspektive keinen Aspekt der Vergangenheit, und sei es der entlegenste, der der Erforschung und Darlegung prinzipiell unwürdig wäre. Und das ist auch ganz in Ordnung. Denn wer wollte, solange es uns um das Wissen über die Vergangenheit geht, a priori entscheiden, welches Faktum auch potentiell keinen Wert darstellt? Hat nicht schon jeder ernsthafte Historiker in irgendeiner verstaubten und unbeachteten Monographie das winzige, aber entscheidende Bindeglied gefunden, das es ihm erst ermöglichte, einem Thema weiter nachzugehen? Für den Historiker steckt Gott wirklich im Detail, auch wenn das Gedächtnis darüber lamentiert, daß die Details zu Göttern geworden sind. Aus diesem Dilemma führt kein Weg heraus; aber darum geht es auch gar nicht.
Unser wahres Problem ist, daß wir ohne halacha leben. Wie Kafkas Mann vom Lande sehnen wir uns nach dem Gesetz, das uns aber nicht mehr zugänglich ist. Die vielberufene Krise des Historismus spiegelt lediglich die Krise unserer Kultur und unseres spirituellen Lebens. Dieser Krebsschaden, wenn es ihn denn gibt, hat seinen Herd nicht in der Suche nach Geschichte, sondern im Verlust einer halacha, die uns sagt, was wir uns aneignen und was wir vergessen sollen, im Verlust gemeinsamer Werte, die es uns ermöglichen würden, Geschichte in Gedächtnis zu verwandeln. Der Historiker allein kann diesen Verlust nicht wettmachen. Er kann zwar eine bis dato ungeschriebene Geschichte des Vergessens schreiben – ein kleines Kapitel daraus hätte ich Ihnen heute auch vortragen können –, aber er kann uns nicht sagen, was vergessen werden sollte, denn das steht nur der halacha zu.
Dissonanter Epilog
Fast schon am Ende halte ich plötzlich noch einmal inne und frage mich, warum es mir so schwergefallen ist, diesen Vortrag zu schreiben. Der Zeitdruck, der Ortswechsel von New York nach Paris können den ständigen Kampf nicht hinreichend erklären. Wie schon so oft, überdenke ich noch einmal unser Tagungsthema und glaube plötzlich den Grund zu wissen. Ich gehe das Wagnis ein, ihn Ihnen in aller Öffentlichkeit zu nennen.
»Vom Nutzen des Vergessens«. Die Formulierung ist geistreich, reizvoll durch den Hauch des Paradoxen, ein bißchen gesucht vielleicht, jedenfalls originell. Zu spät merke ich, daß etwas tief in mir ständig dagegen rebelliert. Eine innere Stimme flüstert mir zu: Kannst du dir eine solche Tagung in Prag vorstellen oder in Santiago de Chile? … Bestürzt beginne ich mich zu fragen, ob ich nicht unbeabsichtigt und indirekt selbst zum Auftauchen eines Themas beigetragen habe, gegen das ich mich jetzt so sträube.
Gegen Ende von Zachor zog ich Jorge Luis Borges’ Funes el memorioso, den fiktiven Bruder von Lurijas Gedächtniskünstler, als Gleichnis für die Exzesse der modernen Geschichtsschreibung heran. Inzwischen ist mir klargeworden, daß – vielleicht wegen dieses Gleichnisses – manche Leser meinten, ich lehne mit dem ganzen Buch die Geschichtsschreibung per se ab oder verleihe einer nostalgischen Sehnsucht nach vormodernen historischen Erkenntnisweisen Ausdruck. Nichts davon lag in meiner Absicht, wie ich auch ausdrücklich feststellte. Mir ging es in Zachor um die klare Unterscheidung zwischen kollektivem Gedächtnis und Geschichtsschreibung, deren Hypertrophie ich außerdem deutlich machen wollte. Davon nehme ich auch nichts zurück. Doch bei einer Tagung mit dem Thema »Usages de l’oubli« muß ich um der Klarheit willen folgendes Postskriptum nachreichen:
Ich bleibe dabei: Die Geschichtsschreibung kann kein Ersatz für das kollektive Gedächtnis sein, und es gibt auch keine Indizien dafür, daß sie eine alternative Tradition schafft, die zum Gemeingut werden könnte. Diese Feststellung tut der Würde des Berufes keinen Abbruch, und die Besinnung auf den moralischen Imperativ des Standes ist heute dringlicher denn je. In der Welt, in der wir leben, geht es nicht mehr nur um den Verfall des kollektiven Gedächtnisses und um schwindendes Vergangenheitsbewußtsein, sondern um aggressive Vergewaltigung des noch vorhandenen Gedächtnisses, um vorsätzliche Geschichtsklitterung und das Erfinden mythologischer Vergangenheiten im Dienste der Mächte der Finsternis. Wer soll Wache stehen gegen die Agenten des Vergessens mit ihren Reißwölfen, gegen die Gedächtnisattentäter und die Revisoren der Enzyklopädien, gegen die zum Schweigen Verschworenen, gegen die Leute, die – um Kunderas herrliches Bild zu zitieren – einen Menschen aus einer Fotografie herausretuschieren, so daß nur noch sein Hut erhalten bleibt? Auf diesen Posten gehört der Historiker, weil er kraft seiner Berufung von strenger Leidenschaft für Fakten, Indizien und Beweise geleitet wird.
Im Bewußtsein dessen, daß es heute keine allgemeinverbindliche halacha gibt, die uns die Grenze zwischen zu viel und zu wenig historischer Forschung zu ziehen erlaubt, daß ich mich aber dennoch entscheiden muß, trete ich ein für »zu viel«. Es ist entsetzlich, sich an zu viel erinnern zu müssen; noch entsetzlicher aber ist das Vergessen. Mag die Flut der gesammelten Fakten über die Vergangenheit weiter anschwellen, mögen sich die Bücher und Monographien noch höher auftürmen, auch wenn nur Spezialisten sie lesen. Mögen viele Exemplare ungelesen in vielen Bibliotheken liegen, damit es sie noch gibt, wenn sie anderswo vernichtet werden. Damit die Berufenen später feststellen können: Dieser Mensch lebte wirklich, diese Ereignisse fanden wirklich statt, diese Interpretation ist nicht die einzige. Damit diejenigen, die vielleicht eines Tages eine neue halacha erstellen, heraussuchen und verwenden können, was sie benötigen.
Kurz vor meiner Abreise aus New York schickte mir mein Freund Pierre Birnbaum eine Seite aus Le Monde mit einem Bericht über eine Meinungsumfrage, ob Klaus Barbie der Prozeß gemacht werden sollte. Die entscheidende Frage war folgendermaßen formuliert: »Des deux mots suivants, oubli ou justice, quel est celui qui charactérise le mieux votre attitude face aux événements de cette période de la guerre et de l’Occupation?« (Welches der beiden folgenden Wörter charakterisiert Ihre Einstellung zu den Ereignissen dieser Phase des Krieges und der deutschen Besetzung am besten: Vergessen oder Gerechtigkeit?)[10]
Sind die Journalisten hier vielleicht ohne cs zu merken aul etwas sehr Wichtiges gestoßen? Ist das Antonym zu »vergessen“ möglicherweise nicht »erinnern«, sondern Gerechtigkeit?
Meine Überlegungen wurden unruhig im stillen Kämmerlein zu Papier gebracht. Vielleicht sind sie von den Vorstellungen der Initiatoren unserer Tagung meilenweit entfernt. Möge der Engel des Vergessens Sie in diesem l alle schnell heimsuchen.
Ans dem Amerikanischen von Wolfgang Heuss.
Ansprache vor dem Colloque de Royaumont, das dem Thema »Usages de l’oubli« gewidmet war, Royaumont, Frankreich, 3. Juni 1987.
Quelle: Yosef Hayim Yerushalmi, Ein Feld in Anatot. Versuche über die jüdische Geschichte, Berlin: Klaus Wagenbach, 1993, S. 11-20
[1] Y. H. Yerushalmi, Zakhor: Jewish History and Jewish Memory (Seattle und London, 1982). Deutsch: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Übersetzt von Wolfgang Heuss (Berlin, 1988).
[2] A. R. Luria, The Man With a Shattered World (New York, 1972, und Cambridge, Mass., 1987). Übersetzt von Lynn Solotaroff, Vorwort von Oliver Sacks. Ders., The Mind of A Mnemonist (New York, 1968, und Cambridge, Mass. 1987). Übersetzt von Lynn Solotaroff, Vorwort von Jerome Bruner. Auf Deutsch liegen diese Werke nicht vor.
[3] Lurija, The Mind of A Mnemonist (1987), S. 67.
[4] F. Nietzsche, »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: »Unzeitgemäße Betrachtungen, Teil 2«, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von G. Colli u. M. Montinari, München 21988, I, S. 246.
[5] Ebd., S. 250.
[6] Ebd., S. 252.
[7] 5. Mose 8,11.14.19. Zitiert nach der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosen¬weig (Heidelberg, Lambert Schneider, 21987), I, S. 500 f. Hervorhebungen von mir.
[8] Sigmund Freud, Totem und Tabu, Das Unbehagen in der Kultur und vor allem Der Mann Moses. Vgl. auch die lange verschollene »metapsychologische« Abhandlung von 1915, herausgegeben von Ilse Grubrich-Simitis in Übersicht der Übertragungssneurosen. Ein bisher unbekanntes Manuskript (Frankfurt, 1985). Zum Lamarckismus im allgemeinen und zu Freuds Psycho-Lamarckismus im besonderen gibt es umfangreiche kritische Literatur. Das Wesentliche findet sich bei Stephen Jay Gould, Ontogeny and Phylogeny (Cambridge, Mass., 1977), S. 155-61 et passim sowie bei Frank J. Sulloway, Freud, Biologist of the Mind (New York, 1979), S. 274 f., 439 ff.
[9] Freud, der für die Reise selbst zu alt und zu krank war, schickte Anna nach Paris, um einen kurzen Abschnitt aus dem noch nicht veröffentlichten 3. Teil von Der Mann Moses und die monotheistische Religion vorzulesen (»Der Fortschritt in der Geistigkeit«), aus dem auch dieser Passus stammt; zitiert nach S. Freud, Gesammelte Werke (London, 1940-1952), XVI, S. 223. Zum Pariser Kongreß vgl. auch Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago 24 (1939), 6-9 und das Kongreßprogramm im Korrespondenzblatt, ebd., 363 f.
[10] Le Monde, 2. Mai 1987, S. 9.