Friedrich Mildenberger über Friedrich Mildenberger: „Ich bin dankbar dafür, dass ich mit den drei Bänden der »Biblischen Dogmatik«, die 1991-1993 erschienen sind, noch einmal zusammenfassen konnte, was mich als Systematischen Theologen zeitlebens beschäftigt hat. Dabei waren eine ganze Reihe von grundlegenden Überlegungen miteinander zu verknüpfen, die sich nicht in den gängigen Bahnen der theologischen Diskussion bewegen.“

In dem von Christian Henning und Karsten Lehmkühler herausgegebenen Band Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen von 1998 schrieb Friedrich Mildenberger über seinen Werdegang und sein theologisches Anliegen Folgendes:

Friedrich Mildenberger über Friedrich Mildenberger

Zur Selbstdarstellung ist der Systematische Theologe aufgefordert. Aber es ist ja nicht die biographische Zufälligkeit, die dabei in erster Linie interessiert. Vielmehr soll sich aus den Selbstdarstellungen der Systematischen Theologen ein Bild der gegenwärtigen Systemati­schen Theologie zusammenfügen. Das setzt voraus, daß die Gemeinsamkeit der Aufgabe und jener Sache, durch die die Aufgabe der Systematischen Theologie bestimmt ist, bei aller Ge­brochenheit durch die individuellen Perspektiven ein solches Bild ermöglicht. Um dieser Voraussetzung zu genügen, kann erst in einem zweiten Gang der Darstellung auch die »story« des Theologen selbst wenigstens in einigen mir wichtig erscheinenden Konstellationen ange­zeigt werden. Zuerst aber habe ich meine Sicht der Aufgabe unserer Disziplin anzudeuten und die Vorgaben zu benennen, die diese Sicht bestimmen und damit den Beitrag beschreiben, den ich zur Bearbeitung der gemeinsamen Aufgabe der Systematischen Theologie zu geben versu­che. Erst danach hat es Sinn, auch zu erzählen, wie ich zu dieser Sicht gekommen bin.

Zunächst bemerke ich ganz allgemein: Christliche Theologie steht von ihren Anfängen an unter einem starken Anpassungsdruck. Nur wenn sie neuen Situationen und den in diesen Situationen liegenden Herausforderungen entgegenkommt, kann sie zugleich die Identität des Glaubens festhalten, seine Beziehung auf das ursprüngliche Heilsgeschehen: das öffentliche Auftreten Jesu, das wieder in den Zusammenhang der jüdischen Erwählungsgeschichte ge­hört, seine Passion und seine Auferweckung. Die Bestreitung eines solchen »zeitgemäßen« theologischen Denkens wird ins Abseits führen. Selbstverständlich genügt der Hinweis auf jenes unumgängliche Entgegenkommen, das die Nötigung der jeweiligen Situation aufnimmt, noch nicht, um die Aufgabe der Systematischen Theologie zureichend zu beschreiben. Sie hat ja [26] in dieser Situation die Sache, das Evangelium von Gottes Entgegenkommen in Jesus Christus, zu vertreten. Diese Sache soll weitergehen. Dabei hielte ich es für einen Kurzschluß, diese Sache dann als die Sache Jesu – des »historischen« Jesus, wie der Deutlichkeit halber dazuzusetzen ist – zu bestimmen. Wenn schon eine Näherbestimmung nötig ist, ließe sich sagen, daß die Sache der Bibel weitergehen soll. Um der Tat Gottes im Wort der Bibel willen ist also jene »zeitgemäße« Interpretation der Schrift unumgänglich, um die in der Theologie gestritten werden muß. Denn allein in der Bibel und durch die Bibel ist jenes ursprüngliche Heilsgeschehen für uns gegenwärtig, durch das Gott jeder neuen Situation – der jeweiligen »Zeit« – entgegenkommt. Darum ist die Forderung nach einer »zeitgemäßen« Theologie zu interpretieren durch die Forderung nach einer »schriftgemäßen« Theologie, wie umgekehrt solche schriftgemäße Theologie ihrem Anspruch nur gerecht werden kann, wenn sie bewußt das Kriterium der Zeitgemäßheit aufnimmt.

Diese allgemeine Kriteriologie ist selbst schon inhaltlich bestimmt, sofern sie voraussetzt, daß derselbe Gott, der in Jesus Christus jeder Zeit heilsam entgegenkommt, zugleich der Schöpfer und so der Herr dieser Zeit ist; darum kommt dieses Wort Jesus Christus ja nicht in die Frem­de, sondern in sein Eigentum (Joh 1,11), wenn es den unterschiedlichen Zeiten entgegen­kommt. Sie ist nun aber durch drei inhaltliche Hinweise zu ergänzen. Nur so kann ich meine Sicht dessen, was am Ausgang des 20. Jahrhunderts die angemessene Fragestellung und Ge­stalt einer Systematischen Theologie ist, zureichend verdeutlichen.

Zuerst geht es um die Freiheit und Autorität des Wortes Gottes, das der Theologie ihre Aufga­be stellt. Dazu muß ich das Stichwort der »Natürlichen Theologie« nennen; um die Möglich­keit und die Notwendigkeit einer solchen natürlichen Theologie hat man gerade in diesem Jahrhundert so erbittert wie ergebnislos gestritten: Gibt es einen allgemeinen, jedem Men­schen aufgrund seines Menschseins mindestens grundsätzlich offenen Zugang zu dem Gott, den die Bibel als den Vater Jesu Christi bezeugt? Und läßt sich Welt im ganzen als durch diesen Gott geschaffen und bestimmt aufweisen? Das bedeutete ja zugleich, daß sich im Weltgeschehen etwas von diesem Gott wahrnehmen ließe, von seinem sittlichen Anspruch, von seiner Führung, von Gericht und Gnade, in denen sein Wille mit den Menschen kenntlich wird.

Solche »Natürliche Theologie« gehörte in wechselnden Ausprägungen und mit einer wech­selnden Gewichtung von Anfang an zur christlichen Theologie. Jedem Menschen sei von Natur aus eine Kenntnis Gottes und seines Willens mitgegeben. Indem der biblisch bezeugte Gott als [27] identisch mit diesem Gott der natürlichen Gotteserkenntnis behauptet wurde, war die partikulare Tradition des auf das ursprüngliche, biblisch bezeugte Heilsgeschehen zurück­gehenden Christentums in ihrer universalen Geltung erwiesen: so gewiß jeder Mensch schon aufgrund seines Menschseins durch die ihm angeborene lex naturalis bestimmt ist, so gewiß geht ihn Gottes Heil in Jesus Christus an. Denn als dem natürlichen Gesetz nicht gerecht gewordener Sünder bedarf er der Annahme durch den ihm in Christus gnädig zugewandten Gott. Er ist darum, wie man hier auch sagen muß, angewiesen auf die Heilsvermittlung durch die Kirche. Dazu sollte auch der ebenso gewichtige Sachverhalt beachtet werden: Die Kirche hat jahrhundertelang und bis heute die authentische Interpretation des natürlichen Sittenge­setzes beansprucht. Sie will dem Menschen im Namen Gottes sagen, wer er ist und wie er sich verhalten soll. Auch hier wird die Sündenlehre zur Begründung des kirchlichen und theologi­schen Anspruchs herangezogen: Das natürliche Wissen um Gut und Böse ist durch die Sünde getrübt; darum braucht die Erkenntnis des Guten die Erleuchtung durch Gottes Gnade, wie sie in der Kirche durch das Heilsgeschehen in Jesus Christus geschieht. Die umstrittene Regulie­rung des sexuellen Verhaltens durch das römische Lehramt, die ja nicht nur für die Katholi­ken, sondern für alle Menschen Geltung beansprucht, mag als Anschauung dienen. Doch mehr oder weniger freundlich wird dieser Anspruch ja nicht nur von Rom aus erhoben.

Die hier zunächst angedeutete Zuordnung von natürlicher Theologie und der biblisch-christli­chen Offenbarung wurde in der Aufklärung aufgekündigt. Wollte man hier Religion und Sitt­lichkeit nicht einfach beiseite schieben, dann sollte doch eine allgemeine, »natürliche« Reli­gion und Sittlichkeit gelten, wie sie jedem vernünftigen Menschen zuzumuten ist. Damit hat man die Autorität der biblisch bezeugten Offenbarung ebenso bestritten wie den in der Ver­bindung von natürlicher Theologie und Gottes Heilsoffenbarung in Christus begründeten Anspruch von Kirche und Theologie auf die sittliche und religiöse Wahrheit, wie sie der Mensch zur Verwirklichung seiner Bestimmung nötig hat. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ist es von entscheidendem theologischem Gewicht, wie Systematische Theologie auf diese Situation antwortet.

Für mein eigenes theologisches Nachdenken ist die Einsicht in diese Zusammenhänge von entscheidendem Gewicht gewesen. Ich bleibe freilich noch bei der allgemeinen Darlegung, wenn ich zu diesem Problemkomplex einer theologisch schlüssigen Antwort auf die durch die [28] Aufklärung neu bestimmte Situation nicht nur auf Karl Barth verweise. Er steht ja selbst in einer längeren, von ihm freilich nicht immer deutlich wahrgenommenen und ausgewiese­nen Tradition moderner Theologie. Mindestens Friedrich Schleiermacher ist hier zu nennen, der ausdrücklich darauf verzichtete, eine natürliche Theologie als theologischen Herrschafts­anspruch auszuarbeiten. Ich verweise dazu auf seine Ausführungen zur Philosophie im zwei­ten Sendschreiben an Lücke über die Glaubenslehre. Die Philosophen hätten lange darüber geklagt, daß in der scholastischen Periode die Philosophie teils im Dienst, teils unter dem Druck des Kirchenglaubens gewesen sei. Sie sei nun frei genug geworden, weil der zu seiner ursprünglichen Quelle – das ist für Schleiermacher das religiöse Selbstbewußtsein als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl – zurückgekehrte Glaube ihres Dienstes auch für die dogmatische Form der Kirchenlehre nicht mehr bedurfte und die über ihr wahres Interesse verständigte Kirche keinen Druck ausüben wollte. Diese über ihr wahres Interesse verständig­te Kirche ist die aus der Verbindung mit dem Staat und damit auch mit staatlich vermittelter Machtausübung gelöste Kirche. Nur dort, wo das Wort der Kirche wie die dieses Wort be­gleitende Theologie auf die mit der »natürlichen Theologie« verbundenen Ansprüche bewußt und kenntlich verzichtet hat, kann darum wieder nach Freiheit und Autorität des Wortes Got­tes gefragt werden.

Ich nenne eine zweite grundlegende Entscheidung, die von der Systematischen Theologie heute gefordert wird. Dabei will ich die geschichtliche Linie Schleiermacher – Ritschl bzw. Wilhelm Herrmann – Barth nicht über die Maßen strapazieren. Dazu müßte auch auf die Differenzen, es müßte vor allem auf das unterschiedliche und spannungsvolle Verhältnis der genannten Theologen zur Philosophie Kants ausführlicher eingegangen werden, als das hier möglich ist. Doch liegt in dieser Richtung der Anstoß, der mein eigenes Denken prägt. Das gilt nicht nur für jene Liberalität, die bewußt darauf verzichtet, theologischem Denken die Herrschaft anzusinnen, die Gott zusteht. Es gilt auch für die Durchführung dieser Entschei­dung, die metaphysisches Denken zurückdrängt. Dabei verstehe ich unter Metaphysik die Möglichkeit oder den Versuch des Denkens, die Totalität der Wirklichkeit oder des Seins zu erfassen, Gott und Welt. Theologisches Denken hat sich traditionell der Metaphysik bedient, um mit ihrer Hilfe Welt und Gott zusammenzudenken, auf die dann wieder das Heilsge­sche­hen der biblisch-christlichen Tradition zu beziehen war. Der Verzicht auf eine natürliche Theologie nötigt dagegen dazu, von vornherein Schöpfung und Heil [29] zusammenzudenken. Ich habe, um unter diesem Vorzeichen einer Anpassung an die durch die Aufklärung be­stimmte Situation mit den in der Dogmatik tradierten Stoffmassen einfacher umgehen zu können, in einer leichten Modifikation die altkirchliche Unterscheidung von Theologie und Ökonomie aufgenommen: Theologie als die dogmatische Bearbeitung der Konstitution der Wirklichkeit in Gott umfaßt dabei Gotteslehre, Schöpfungslehre und Anthropologie samt der Eschatologie. Ökonomie als die Restitution der Wirklichkeit durch Gott bearbeitet das ur­sprüngliche Heilsgeschehen – also die Christologie – sowie dessen gegenwärtige Wirksamkeit – also Pneumatologie, Soteriologie und Ekklesiologie. Theologie und Ökonomie lassen sich dabei nicht mehr wie in der Lehrtradition vor der Aufklärung je für sich behandeln, sondern sind immer unmittelbar aufeinander bezogen. Zur Veranschaulichung erinnere ich jetzt nur an die bekannte Formel aus der KD Karl Barths: Die Schöpfung ist der äußere Grund des Bun­des, der Bund ist der innere Grund der Schöpfung.

Als dritte Grundfrage nenne ich eine unumgängliche Neubestimmung des Verhältnisses der Dogmatik zur Ethik. Diese wird nun in erster Linie auf die Konsistenz mit der Glaubens­wahrheit hin beurteilt werden. Das Kriterium einer allgemeinen, jedem Menschen zumutbaren Bestimmung von Normen, Werten und Zielen des Handelns kann hier allenfalls in zweiter Linie angeführt werden. Freilich ist in diesem Bereich der Prozeß der Neuorientierung noch schwerfälliger und langwieriger als bei der Dogmatik bzw. der Glaubenslehre; denn gerade die ethischen Reflexionen lassen die in diesem Zusammenhang unerläßliche Differenzierung von Kirche und Gesellschaft nur mühsam und in kleinen Schritten wahrnehmen. Immerhin deutet sich diese Differenzierung offenkundig im Bereich der Rechtsordnung an. Dazu erin­nere ich an die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch und die hier nicht nur von katholischer Seite vorgebrachten kirchlichen Forderungen rechtlicher Sanktionen, die vom Gesetzgeber zurückgewiesen wurden.

Insgesamt nötigt der von mir skizzierte Weg einer Systematischen Theologie, die sich den Forderungen der Zeit stellt, ohne doch die Bindung an den kirchlichen Ursprung preiszu­geben, zu einer bewußt an die Kirche gebundenen Theologie. Das bedeutet freilich auch, daß hier die faktische Kirche theologisch-kritisch wahrgenommen wird im Blick auf die Anfor­derungen, die von der theologischen Ausarbeitung der Glaubenswahrheit her an sie gestellt werden müssen. Auch hier sind dann freilich sowohl die Beharrungskraft kirchlicher Struktu­ren wie [30] andererseits die Kompromißfähigkeit und -bereitschaft der Theologen mit in Rechnung zu stellen: weil die Kirche der Theologie nicht ohne weiteres nachkommen kann – allenfalls kann das in bestimmten Situationen der Herausforderung wie im »Kirchenkampf« wenigstens ein Stück weit geschehen –, muß auch die Theologie kürzer treten, will sie den Kontakt mit der kirchlichen Realität nicht verlieren.

Die von mir hier in einigen Grundzügen skizzierte Ausrichtung einer zeit- und schriftgemäßen Systematischen Theologie, der ich mich selbst verpflichtet weiß, ist eine Möglichkeit unter anderen. Sie muß sich deshalb gegen andere Möglichkeiten abgrenzen. Bei solchen Orientie­rungsversuchen wie dem hier angezeigten ergeben sich ja in der Regel drei Möglichkeiten, zwei mit Gründen zu verwerfende und die eigene, der der Versuch der Realisierung gilt. Ich kann die zwei abgewiesenen Möglichkeiten nicht ausführlich in ihrem Für und Wider erör­tern, will sie aber wenigstens nennen. Das ist einmal eine traditionsverhaftete Denkweise, die sich der durch die Aufklärung bestimmten Situation nur unzureichend stellt. Hier wird das tradierte Denkmodell einer Beziehung von natürlicher und biblischer oder Offenbarungs­theo­logie weitergeführt, wobei man sich mehr oder weniger um ein modernes Gewand – Outfit müßte man also heute sagen – bemüht. Die andere Möglichkeit folgt wenigstens in der Grund­struktur der rationalistischen Lösung und sucht die vernünftige Allgemeinheit des Christlichen als der menschheitlichen Religion und Sittlichkeit zu erweisen. In beiden Fällen – das ist mein Haupteinwand – leidet die Glaubwürdigkeit dessen, was die Kirche und mit ihr die Systemati­sche Theologie zu vertreten hat. Die Theologie muß, will sie diese Möglichkeiten verfolgen; den Zeitgenossen in der pluralistischen Gesellschaft klarmachen, daß sie sich selbst nicht zureichend verstehen und also durch die Interpretation der Theologie oder des Theologen besser getroffen werden; diese Interpretation sollen sie dann aber auch gefälligst anerkennen und sich zu eigen machen. Damit wird den Leuten eine Entscheidung als vernünftig ange­sonnen, die ihnen als solche offenbar nicht einsichtig ist, sondern die sich für sie selbst mit der Zugehörigkeit zur Kirche und zum christlichen Glauben verbindet. Es kommt mir so vor, wie wenn diese Zeitgenossen dazu aufgefordert würden, mit solch einer Theologie Hase und Igel zu spielen. Da reckt sich an jedem Ende der Furche ein Theologe auf und kräht sein: »Ich bin schon da!« hinaus. Bloß: Der Hase, der denkt nicht daran, zu laufen! Hier will ich ganz gewiß nicht mitspielen, kann darum nur den dritten Weg in der von Schleiermacher und Barth gewiesenen Richtung weitergehen. [31]

Theologische Grundentscheidungen wie die von mir genannten lassen sich begründen und diskutieren. Das ist unumgänglich, wenn die Kommunikation innerhalb der Systematischen Theologie nicht abbrechen soll. Der Ort des einzelnen Theologen innerhalb dieser Diskussion ist aber nicht nur durch solche Begründungen bestimmt, sondern hat lebensgeschichtliche Ursachen, die der Begründung meistens vorhergehen. Daß ich evangelisch bin und nicht katholisch, das hat darin seine Ursache, daß ich als Sohn eines württembergischen Pfarrers 1929 auf der Schwäbischen Alb geboren wurde. Begründen könnte ich dann allenfalls, warum ich nicht konvertierte. Als die Berufsentscheidung anstand, gegen Ende des Krieges und in der ersten Nachkriegszeit, schien es mir so, wie wenn allein die Kirche den intensiv erlebten Zusammenbruch Deutschlands und der Institutionen und Werte, die für den Vierzehn- bis Siebzehnjährigen mit diesem »Deutschland« verbunden waren, überdauert hatte. Der Reli­gionsunterricht bei Helmut Thielicke, seine aufsehenerregenden religiösen Vorträge in der Stuttgarter Stiftskirche, die ev. Gemeindejugend als eine gegenüber der Hitlerjugend alter­native Gemeinschaftserfahrung, nicht zuletzt das elterliche Pfarrhaus ließen eine innere Geborgenheit ahnen, die in jener chaotischen Zeit Schutz versprach. Das war wohl der An­stoß, der Familientradition folgend das Theologiestudium und das Pfarramt als Berufsziel zu wählen. Im Stammbaum des Vaters finden sich Jakob und Johann Valentin Andreae, Gottfried Traub, der, wie ich erst neulich aus Matthias Kroegers Darstellung erfuhr, meinen Lehrer Friedrich Gogarten zum Theologiestudium ermutigte, war ein Vetter meines Großvaters mütterlicherseits, auch dieser Pfarrer in Württemberg. Diese Notizen, denen andere zuzufügen wären, mögen für den familiären Hintergrund stehen.

Als ich im Herbst 1947 im Tübinger Stift mein Theologiestudium aufnahm, mußte jeder, der sich nicht in die pietistische – heute sagt man »evangelikale« – Ecke stellen wollte, sich für Barth oder Bultmann entscheiden. Für mich kam damals nur Bultmann in Frage, dessen klare Intellektualität mir imponierte. Als nach dem dritten Semester ein Wechsel des Studienortes anstand, ging ich dann aber doch nicht nach Marburg, sondern nach Göttingen, um dort Go­garten kennenzulernen, dessen »Verkündigung Jesu Christi« (1948) mir aktuelle Perspektiven neutestamentlicher und reformatorischer Theologie eröffnet hatte. Die persönliche Begegnung mit Gogarten faszinierte. Sein homiletisch-exegetisches Seminar mit den Diskussionen über die Anwendung biblischer Texte ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben. In der Schlußphase des Studiums in Tübingen war es dann neben dem Kirchengeschicht-[32]ler Hanns Rückert, durch den ich mit der Lutherdeutung Karl Holls vertraut wurde, Ernst Fuchs, der mich beson­ders beeindruckte. Wichtiger noch als die Lehrer waren die Freunde, bei denen in vielen intensiven Gesprächen theologisches Denken eingeübt wurde.

Nach dem Examen im Sommer 1951 folgten erste Erfahrungen in der kirchlichen Praxis auf verschiedenen unständigen Stellen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Die im Studium erlernte existentiale Interpretation schien sich zu bewähren; das Predigen machte mir Freude. Klar war mir damals freilich auch, daß sich alttestamentliche Texte nicht christ­lich predigen lassen. Denn sonst müßten sie gegen ihren wörtlichen Sinn verstanden werden. Die historisch-kritische Methode war für mich eine genauso unumstößliche Norm wie Bult­manns Aufsatz über »Weissagung und Erfüllung«. Doch ließ mich wahrscheinlich gerade deswegen die Frage nach der ganzen Bibel und damit nach dem Alten Testament nicht los. Zwar war der Schwerpunkt meiner theologischen Arbeit immer die Systematische Theologie und hier insbesondere die Dogmatik. Als ich von 1954-1957 als Repetent im Tübinger Stift zu lehren hatte, waren meine Themen Philosophie und Dogmatik. Das moderne Geschichtsden­ken wollte gründlich reflektiert werden, gerade auch im Blick auf die historische Arbeit an der Bibel. Gerne erinnere ich mich an ein langes Gespräch mit Eduard Spranger, der dem fragen­den jungen Theologen behutsam und zugleich profund seine Sicht der Probleme erläuterte.

Im Herbst 1957 wurde mir die Pfarrei Wolfenhausen-Nellingsheim im Dekanat Tübingen übertragen, und die Arbeit in dieser Gemeinde hat mir viel Freude gemacht. Zugleich aber war es nun gerade das Alte Testament, das mich immer mehr beschäftigte. Die theologischen Arbeiten von Martin Buber, insbesondere »Der Glaube der Propheten«, und die gerade er­scheinende, über das Fach hinaus intensiv diskutierte »Theologie des Alten Testamentes« von Gerhard von Rad forderten das Nachdenken heraus. Die Promotion mit einer alttestamentli­chen Arbeit über »Die vordeuteronomistische Saul-Davidüberlieferung«, 1962 abgeschlossen, eine literarkritische Analyse der Samuel-Bücher, förderte die Vertrautheit mit der exegeti­schen Arbeit. Die Predigtaufgabe, in der ich nun die alttestamentlichen Texte nicht mehr um­ging, sondern suchte, führte gerade in der Reflexion über die Verstehensprobleme weiter. Dazu kam der Kontakt mit Hermann Diem, dessen Seminar und kirchenrechtliche Sozietät in Tübingen dem Dorfpfarrer Gelegenheit zur wissenschaftlichen Diskussion boten. Eine Habili­tationsschrift für das Fach der Systematischen Theologie wurde 1964 von der Ev.theol. Fa-[33]kultät in Tübingen angenommen und noch im selben Jahr unter dem Titel »Gottes Tat im Wort. Erwägungen zur alttestamentlichen Hermeneutik als Frage nach der Einheit der Testa­mente« veröffentlicht. Es mag sein, daß ich damals die gängige historische Methodik der exe­getischen Arbeit etwas zu respektvoll behandelt habe. Sie galt ja als Ausweis theologischer Wissenschaftlichkeit. Und die seit meiner Studienzeit gegen diese theologische Wissenschaft gerichtete Kampagne pietistischer Kreise – Bultmann und dann Käsemann waren die Namen, die man dem Pappkameraden umhängte, auf den man aus allen Rohren schoß – nötigte dazu, sich nicht aus der Solidarität mit solcher Wissenschaftlichkeit davonzustehlen. Doch lag mir daran, das Verstehen der Schrift zugleich als unverfügbares Geistgeschehen zu beschreiben. Die Erfahrung solchen Geistgeschehens, in welchem die Verstehenden mit der in der Bibel bezeugten Geschichte Gottes gleichzeitig werden, muß aber mit in die kirchliche Wertschät­zung der Bibel, ihr Verstehen und die Erwartung beim Gebrauch der biblischen Texte einge­hen. Nur so kann die kirchliche Erfahrung mit der ganzen Bibel, also gerade auch mit dem Alten Testament, zutreffend beschrieben und in der theologischen Reflexion aufgenommen werden. Dabei habe ich mich gegen die damals kontrovers diskutierte »Typologie« abge­grenzt, die geschichtliches Geschehen miteinander in Beziehung setzen will und darum die Wortgestalt des Heilsgeschehens nicht zureichend würdigen kann, sondern nach einer – fiktiven – Tatsächlichkeit fragt, die doch allenfalls als die strittige Rekonstruktion der moder­nen Historie existiert.

Die auf die Habilitation folgenden Aufgaben der akademischen Lehre, ab WS 1964/65 als Universitätsdozent an der Tübinger Fakultät, nötigten zur umfassenden Erarbeitung des Lehr­stoffes der Systematischen Theologie, Dogmatik, Ethik und der neueren Theologie- und Philosophiegeschichte. Daneben entstanden einige kleinere Veröffentlichungen, durch die ich mich an der Fachdiskussion zu beteiligen suchte. Die Richtung des Denkens lag in groben Umrissen fest. Die unterschiedlichen Themen forderten freilich Variationen und die wachsen­de Vertrautheit mit den Lehrstoffen nötigte zu Präzisierungen. Ich habe damals gelernt, daß eigentlich erst die didaktische Fragestellung – was kann und soll ich als akademischer Lehrer weitergeben und wie kann ich das machen? – die Texte, mit denen wir es in unserer Arbeit zu tun haben, für das eigene Verstehen zureichend erschließt. Diese Einsicht nötigte dazu, den dogmatischen Texten gerade unter solchen didaktischen Gesichtspunkten besondere Auf­merk­samkeit zu schenken. Auch nachdem ich seit 1969 als Lehrstuhlvertreter und seit 1970 als Lehr-[34]stuhlinhaber in Erlangen zu lehren hatte, sollten mich hochschuldidaktische Fragen intensiv beschäftigen. Wie läßt sich der dogmatische Lehr- und Lernstoff wenigstens so weit standardisieren, daß die Studierenden nicht nur für das Examen eine gewisse Sicher­heit ge­winnen können, sondern damit zusammenhängend das Fach Dogmatik nicht umgehen, weil es zu schwierig ist, sondern sich die notwendige Fähigkeit zum dogmatischen Urteil erarbeiten können? Um hier einen begründeten Vorschlag zu machen, habe ich mich nicht nur um einen Stoffkanon, sondern auch um dessen Aufbereitung zur Erarbeitung durch die Studierenden bemüht. Zunächst haben meine Mitarbeiter und ich mit einem vervielfältigten Manuskript gearbeitet, dessen erste Gestalt 1975 vorlag. 1983 ist dieses Manuskript dann nach verschie­denartiger Erprobung in Vorlesungen, Übungen und Repetitorien weiterentwickelt als »Grundwissen der Dogmatik. Ein Arbeitsbuch« im Druck erschienen, leicht kenntlich schon durch das ungewöhnliche Format und nicht zuletzt bekannt durch die »Männlein«, Karikatu­ren, die ich zur Erläuterung dogmatischer Probleme beigesteuert habe. Inzwischen ist – seit 1994 – eine Neubearbeitung durch meinen Assistenten Heinrich Assel als 4. Auflage auf dem Markt.

Weiter nenne ich die 1975 erschienene »Gotteslehre. Eine dogmatische Untersuchung«. In den »Vorfragen« dieses Buches bin ich auf die Theorie einer natürlichen Gotteserkenntnis, den Zerfall dieser natürlichen Gotteserkenntnis in der Moderne und die Folgen für eine dog­matische Gotteslehre eingegangen. Vielleicht hätte ich mich dabei auf Albrecht Ritschl, »Theologie und Metaphysik« (1881) beziehen sollen, um anzudeuten, daß meine Behauptung, es handle sich bei der »natürlichen« Gotteserkenntnis um eine kulturelle Prägung, nicht eben eine Neuigkeit ist. Die theologische Theorie dieser »natürlichen Gotteserkenntnis« läßt sich mit unserem modernen Verständnis des Vernünftigen als dessen, was jedem normalen und gutwilligen Menschen zuzumuten ist, nicht mehr vereinen. Ich habe dann unter dem Stichwort »Gott als Name« das trinitarische Denken behandelt und dabei auf die Nötigung hingewiesen, die Selbstunterscheidung Gottes gerade im Zusammenhang der biblisch bezeugten Geschichte zu denken. Dabei ist in dieses Denken dann nicht nur die Christologie, sondern gerade auch die Pneumatologie so einzubeziehen, daß der Ort des Glaubens und so des Glaubenden in dieser Geschichte kenntlich wird. Als zusammenfassende Formel heißt das: »Gott entspricht sich in Jesus von Nazareth so, daß er selbst uns in dieser Entsprechung Raum gewährt« (177). Daß ich mich weigerte, über diese »ökonomische« Beschreibung der Trinität [35] hinaus eine »immanente« Trinität zu behaupten, hat mir allerlei Kritik eingetragen. Ich sehe aber nicht, welchen Gewinn ein solches Behaupten des Theologen brächte, das sich nun einmal vom aktuellen Gebrauch des trinitarischen Namens Gottes in der Kirche so distanziert, daß es das Recht dieses Gebrauches zu rechtfertigen sucht. Das ließe sich ja nur so bewerkstelligen, daß ich dann sagte, Gott sei wirklich der, als welchen ihn das kirchliche Sprechen bezeugt und preist. Aber daß ich selbst das dann auch noch, womöglich am Schreibtisch, bedenke und in einem gedruckten Text beteuere, das ist für Gottes Wirklichkeit wie für das Sprechen des Glaubens in gleicher Weise unerheblich. Darum lasse ich solche theologischen Sprüche blei­ben. Die traditionelle Lehre von der Gotteserkenntnis mithilfe des analogischen Denkens wie die Lehre von Gottes Wesen und seinen Eigenschaften versuchte ich dann so zu reformulie­ren, daß dabei Ort und Zeit aus dem Miteinander von Gott und Welt nicht weggedacht wer­den, wie das die Art der traditionellen Gottesmetaphysik ist, sondern in ihrer Bedeutung für das Gottesverhältnis des Glaubens gerade herausgestellt werden.

Es war dann an der Zeit, einige aus der Lehre hervorgegangene Arbeiten zu veröffentlichen. Einerseits sollte meine Arbeit über Erlangen hinaus den Studierenden zur Verfügung stehen. Andererseits beabsichtigte ich, mich über die Lehre an das Projekt einer ausgeführten Dogma­tik heranzuarbeiten. Darum wollte ich zum Lehrturnus gehörende Stoffe als Bücher vorlegen, auf die ich dann zur Entlastung in der Vorlesung verweisen konnte. So erschien 1981 die »Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert«, 1983 neben dem »Grundwissen« die »Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften«, 1984 die »Kleine Predigtlehre«. Ich habe mich ja nie in die Grenzen eines einzigen Faches einsperren lassen, habe darum neben der hier veröffentlichten homiletischen Vorlesung immer wieder auch homiletische Seminare abgehalten und Studierende bei dem Weg auf die Kanzel begleitet. Einzelnes brauche ich zu diesen Arbeiten nicht mitzuteilen. Die Theologiegeschichte hat mir freilich einige Mühe gemacht. Denn die Frage danach, wie es zu einer erzählbaren Geschichte kommen kann, läßt sich ja nicht mehr durch den Verweis darauf beantworten, man solle doch einfach erzählen, wie es wirklich gewesen sei. Es ist vielmehr das Gegenwartsinteresse, die Frage danach, wie es zu dem gekommen ist, was wir gegenwärtig positiv und negativ wertend wahrnehmen, und erst recht die Frage danach, wie es weitergehen soll, durch die solche Er­zählungen bestimmt sind. Dieses »subjektive« Moment historischen Erzählens ist unvermeid­lich. Es sollte aber eben deshalb offengelegt werden. [36] Weil ich das in meinen einführen­den Überlegungen getan habe – freilich ohne die ganze Theoriediskussion der Historik, die dabei im Hintergrund steht, anzuführen – und es dann auch in der Durchführung deutlich zeig­te, ist mir von Leuten, die offenbar noch meinen, es gebe eine »wirkliche« Geschichte und die Historie habe sich dieser möglichst anzunähern, der Vorwurf mangelnder »Objektivität« ge­macht worden. Wir werden aber auch in der Theologie gut daran tun, die Fiktionen der ideali­stischen Geschichtsmetaphysik samt ihren methodischen Implikationen hinter uns zu lassen.

Ich bin dankbar dafür, daß ich mit den drei Bänden der »Biblischen Dogmatik«, die 1991-1993 erschienen sind, noch einmal zusammenfassen konnte, was mich als Systematischen Theologen zeitlebens beschäftigt hat. Dabei waren eine ganze Reihe von grundlegenden Über­legungen miteinander zu verknüpfen, die sich nicht in den gängigen Bahnen der theologischen Diskussion bewegen. Ich konnte es also den Lesern nicht leicht machen, mußte ihnen aller­hand zumuten. Dazuhin hatte ich mit der methodischen Schwierigkeit zu kämpfen, daß ich natürlich an der exegetischen wie dogmatischen Diskussion nicht vorbeigehen konnte, son­dern sie in Zustimmung und Widerspruch aufnehmen mußte. Das nötigte immer wieder zu Kompromissen zwischen dem, was ich für richtig halte und dem, was die gängigen theologi­schen Diskurse voraussetzen. Die Schwierigkeit beginnt schon bei dem, was ich im Untertitel angedeutet habe: »Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive«. Das Vorhaben paßt offensichtlich nicht in die durch traditionelle Denkweisen und verfestigte Fachgrenzen bestimmte theologische Landschaft. Darum konnte es zwar zu einem verständnisvollen und freundschaftlichen Austausch gerade mit dem Alttestamentler von Yale, Brevard S. Childs kommen, dessen die eingefahrenen Geleise ebenso verlassender Entwurf der »Biblical Theo­logy of the Old and New Testaments. Theological Reflection an the Christian Bible« fast gleichzeitig erschien. In unserer Diskussion dagegen ist seit 200 Jahren eingeführt, daß eine »Biblische Theologie« historisch vorzugehen habe. So blieb entweder außer Acht, daß ich zwar eine Biblische Theologie, doch als Dogmatik, beabsichtigte. Dann suchte man eine zwar unkonventionell aufgebaute, aber traditionell vorgehende Dogmatik. Oder man nahm die Intention auf eine Biblische Theologie wahr, setzte dann aber voraus, diese müsse historisch erarbeitet sein und wollte mich irgendwo in der Nähe dahingehender exegetischer Versuche finden. Beides trifft nicht zu. Eine Biblische Theologie läßt sich nicht zureichend erarbeiten, wenn dabei die konventionelle Historie methodisch anleiten soll. Dann lassen sich [37] allen­falls traditionsgeschichtliche Zusammenhänge zwischen alt- und neutestamentlichen Text­gruppen auffinden, aber gerade nicht die eine Bibel, die in der Kirche zu Wort kommt. Ander­erseits aber läßt sich die Bibel auch nicht in ein flächiges Lehrganzes umsetzen, wie das nicht nur die Theologie vor der Aufklärung versucht hat. In beiden Fällen versucht die Theologie das zu leisten, was als geistliche Wirksamkeit der Schrift in der Kirche vorausgesetzt werden müßte. Darum habe ich von vornherein zwischen theologischer Reflexion und religiöser Rede unterschieden, der »einfachen Gottesrede« in ihren unterschiedlichen Redeformen. Ich setze also theologisch das Geistgeschehen voraus, in dem sich durch die Bibel Gott vernehmen läßt. Aber ich nehme die theologische Reflexion, sei sie nun stärker historisch-exegetisch oder systematisch-aktuell bestimmt, aus diesem Geistgeschehen zurück auf die Ebene einer Refle­xion solcher einfachen Gottesrede. Dabei muß ja wieder beachtet werden, daß keineswegs eine simple Identität des kirchlichen Redens und dieses Geistgeschehens angenommen wer­den kann. Darum hat die theologische Reflexion das kirchliche Reden zu begleiten und fragt danach, wie weit es seinem Anspruch nachkommt, ein zeit- wie schriftgemäßes Reden zu sein.

Die damit markierte Entscheidung hat weitreichende Folgen. Theologie als diese kritische Reflexion ist nicht mit Gott selbst, sondern mit solcher religiösen Rede als mit ihrem Gegen­stand befaßt und hat deren Voraussetzungen zu beschreiben. Das verlangte, wie das in der modernen Dogmatik unumgänglich ist, dogmatische Inhalte in die Prolegomena vorzuziehen. Die Schriftlehre war mit der Trinitätslehre so zu verbinden, daß deutlich wird, wie die heilsa­me Nähe Gottes konkret von Zeit zu Zeit angesprochen und erfahren werden kann. So kann dann die Einheit Gottes gerade als Zeiterfahrung verständlich werden. Entsprechend verlangte die Reflexion von Geschichte und Sprache, wie sie in dieser Zeiterfahrung mit gesetzt sind – geht es doch immer um die Gegenwart der biblisch bezeugten Geschichte in dem jeweiligen Sprechen – eine eingehende Erörterung, die sich auf die philosophische Diskussion dieser Fragen bezieht. Biblisches Sprechen wird als Sprache erfaßt, die Anstehendes auf Gottes Nähe hin qualifiziert. Dabei war die Feier des Sakraments Modell des Verstehens: Durch die erinnerte Stiftung wird die Zeit der Feier selbst als Zeit der Gottesgegenwart qualifiziert. Alle gelingende Gottesrede läßt solche Gleichzeitigkeit erfahren.

Die Durchführung der Dogmatik ist bestimmt durch die Einsicht in die Verschränkung von Theologie und Ökonomie. Das deuten schon die Untertitel der beiden Bände an: »Ökonomie als Theologie« und »Theo-[38]logie als Ökonomie«, in denen ich die durch mich etwas ver­änderten und präzisierten altkirchlichen Begriffe aufgenommen habe. Dabei habe ich jeweils in einem einführenden Kapitel die Exposition der Probleme vorgelegt. Die Diskussion des Problems der Theologie erfolgte jedoch von Christologie und Pneumatologie her, um schließ­lich in der Trinitätslehre gebündelt zu werden. Dabei setzt der christologische Teil mit exege­tischen Erörterungen zur Priesterschrift ein. Die Fluchandrohung des Heiligkeitsgesetzes wird überholt durch die Einsicht, daß der erwählende Gott sich nicht untreu werden kann. Darum wird hier eine geordnete Begegnung von Gott und Mensch eingerichtet. Es folgen Ausführun­gen zum deuteronomistischen Geschichtswerk und zur Prophetie, zugespitzt schließlich auf den deuterojesajanischen Gottesknecht. Röm, Hb und Joh führen die exegetischen Überle­gungen weiter. Die Pneumatologie wird durchgeführt als Erörterung des durch den Geist gewirkten Glaubens in den traditionellen Aspekten von notitia, assensus und fiducia. Zur notitia werden Zeit und Ort der Zuwendung von Gott und Mensch biblisch erarbeitet und in einer Lehre vom Gottesdienst zusammengefaßt. Der assensus ist durchgeführt als biblische Lehre vom Gebet, einsetzend mit dem chronistischen Geschichtswerk, dann zum Psalter weitergehend; Habakuk und Hiob verdeutlichen die Bedrohung des assensus fidei durch die Erfahrung, daß der angerufene Gott gerade auf sich warten läßt. Die Versuchung Jesu schließt hier an. Die fiducia wird als biblische Bearbeitung des Themas »Die Zeit zum Glauben« durchgeführt. Auf eine Auslegung von Vätergeschichten folgt der Hinweis auf Jesu Verständ­nis der Zeit des Gottesreiches. Schließlich wird hier die Auslegung des Römerbriefs fortge­führt. Auch zur Reformulierung der Trinität werden ausführliche Exegesen vorgelegt.

Entsprechend sind im dritten Band die Probleme der traditionellen Ökonomie aufgegriffen, insbesondere als die Frage nach einer nur partikularen Verwirklichung des Heils. Die im Erwählungsgedanken verbundene Christologie und Anthropologie wird durch eine Auslegung der Simsongeschichte präludiert. Dann wird den Stationen des ordo salutis folgend der irdi­sche Jesus als der geistgeführte Mensch mit Texten der Evangelien dargestellt. Das biblische Gesetzesverständnis unter dem Stichwort »Der antwortende Mensch« führt die anthropo­logi­schen Erörterungen weiter. Erwählung wird verdeutlicht am Verhältnis von Mann und Frau, wobei Ps 45 und das Hohelied den Einsatz geben, der dann bis zur Offenbarung durchgeführt wird. Welt wird vom Land Israels her und dann durch die weisheitliche Tradition erfaßt. Zeit des [39] Menschen und seine Freiheit in der Welt sind die weiteren Themen der Schöpfungs­lehre. Mit einer zusammenfassenden Erörterung des Themas »Schöpfung« schließt die Bibli­sche Dogmatik, wobei die Schöpfungsmittlerschaft Christi in einer Auslegung des Kolosser­hymnus besonders berücksichtigt wird.

Die durchgeführte Dogmatik folgt also nicht der traditionellen Grobgliederung, sondern ver­klammert die einzelnen dogmatischen Themen stärker, als das sonst üblich ist. Doch ent­spricht diese Verklammerung der Sache, die zu behandeln ist. Notwendig war dabei insbe­sondere auch die Integration der Ethik in den Gesamtzusammenhang, um so dem biblischen Zeugnis gerecht zu werden, das eine getrennte Behandlung von Dogmatik und Ethik nicht zuläßt.

Natürlich ließ sich nicht die ganze Tradition theologischen Denkens anführen und diskutieren. Doch wenigstens die durch die Aufklärung bestimmte Problemverschiebung suchte ich durch­gehend zu dokumentieren. Deshalb habe ich zu allen einzelnen Themen David Hollaz als Re­präsentanten des Endstadiums der altlutherischen Orthodoxie, Kant als Vertreter der Aufklä­rung – nimmt man seine drei Kritiken und die Religionsschrift zusammen, ergibt das eine reguläre Dogmatik – und Schleiermacher in seiner Beantwortung der durch die Aufklärung bedingten Problemverschiebung herangezogen. Neben anderen vor allem die Texte von Hol­laz, Kant und Schleiermacher dienen der Präzisierung der Fragen, die dogmatisch zu stellen sind. Die Antworten suchte ich in der Auslegung der biblischen Texte zu geben. Diese Texte dienen in der Biblischen Dogmatik ja nicht dazu, als dicta probantia eine vorgegebene dogma­tische Problembearbeitung zusätzlich zu begründen oder zu illustrieren. Vielmehr vollzieht sich die dogmatische Problembearbeitung als Auslegung dieser Texte. So wird der Anspruch dieser Dogmatik, eine Theologie des Alten und Neuen Testaments vorzulegen, eingelöst.

Ich hoffe, mit dieser Arbeit einen Anstoß gegeben zu haben, der sich in der weiteren theolo­gischen Diskussion hilfreich auswirkt. Daß sich die Biblische Dogmatik auch als eine Hilfe für die Predigtarbeit heranziehen läßt, ist mir von verschiedenen Seiten versichert worden. Das freut mich besonders. Es sind ja auch zu einem guten Teil gepredigte Texte, die ich aus­geführt habe. Wenn sie die Bibel als Schrift für die Kirche erschließt, dann ist diese Biblische Dogmatik ein sinnvolles Unternehmen.

Quelle: Christian Henning/Karsten Lehmkühler (Hrsg.), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, UTB 2048, Tübingen: Mohr Siebeck 1998, 24-39.

Hier der Text als pdf.

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