Von Wolfgang Huber
I. Grundsätzliches
Das Verhältnis zwischen Kirche und Politik ist in der Geschichte des Christentums vielfachen Wandlungen unterworfen. Die Verfassung des politischen Gemeinwesens, das vorherrschende Verhältnis zwischen K. und Staat sowie das gewachsene Selbstverständnis der K. tragen zu diesen Wandlungen bei. Das Verhältnis zwischen Kirche und Politik nimmt sich unter vordemokratischen Umständen anders aus als unter demokratischen; es gestaltet sich in einer Diktatur anders als in einer Demokratie. Die Handlungsmöglichkeiten der K. gegenüber der P. unterscheiden sich je nachdem, ob das System des Caesaropapismus oder staatskirchliche Verhältnisse herrschen, ob eine laizistische Trennung zwischen Staat und K. durchgeführt wurde oder ob eine wechselseitige Unabhängigkeit zwischen Staat und K. bei gleichzeitiger Anerkennung des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags in Geltung steht. Unbeschadet solch unterschiedlicher Bedingungen kirchlichen Handelns gibt es gleichwohl elementare Voraussetzungen und Bezugspunkte für die Stellung der K. gegenüber der P. Zu ihnen zählt zuallererst, dass K. gegenüber den politischen Gegebenheiten, unter denen sie existiert, nicht indifferent ist. Ihre Verpflichtung auf ein elementares Sittengesetz, wie es im Dekalog zum Ausdruck kommt, hat zur Folge, dass der Schutz von Bedingungen, unter denen Menschen in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit leben können, ein grundlegendes Ziel bildet, für das die K. eintritt. Daraus erklärt sich, dass die Ausübung politischer Herrschaft in der christlichen Überlieferung grundsätzlich positiv gewertet wird. Das zeigt sich im Neuen Testament exemplarisch in Jesu Antwort auf die Frage nach der Steuer („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers-ist, und Gott, was Gottes ist“, Mt 22,15ff. parr.) ebenso wie in der Aussage des Paulus über den jeder politischen Herrschaft von Gott gegebenen Auftrag (Röm 13,1ff.). Das Gebet für die Obrigkeit ist deshalb von Anfang an fest in der Gebetspraxis der christlichen Gemeinden verankert (1Tim 2,1ff.).
Zu den verbindenden Grundzügen gehört ferner, dass die kirchliche Loyalität gegenüber der politischen Ordnung immer nur eine begrenzte Loyalität sein kann. Sie steht unter dem Vorbehalt der clausula Petri („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, Apg 5,29). Immer wieder hat es deshalb in der Geschichte der Christenheit eine Reflexion auf die Grenzen des dem Staat geschuldeten Gehorsams gegeben. In der frühen Christenheit bezog sich das insb. auf die dem römischen Kaiser geschuldete religiöse Verehrung. Weil sie diese Verehrung verweigerten, wurden die frühen Christen atheoi genannt und als Leugner der für alle verpflichtenden Gottesverehrung verfolgt. Die mittelalterlichen Reformbewegungen gerieten regelmäßig nicht nur mit der kirchlichen, sondern auch mit der politischen Obrigkeit in Konflikt. Die Reformation sah sich zu der grundsätzlichen Feststellung veranlasst, dass die weltliche Obrigkeit kein Recht dazu habe, in die Freiheit des Glaubens und des Gewissens einzugreifen (M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523). Seitdem schließt die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Politik stets eine Debatte über das Widerstandsrecht sowie über die Möglichkeit des zivilen Ungehorsams ein.
Ein dritter Grundzug im Verhältnis zwischen Kirche und Politik kann darin gesehen werden, dass die K. – trotz des besonderen Phänomens eines „Kirchenstaats“ – nicht in einem unmittelbaren Sinn einen politischen Auftrag hat. Auch für diesen Grundgedanken gibt es einen wichtigen biblischen Bezugspunkt in dem Wort Jesu: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Doch die K., die nicht „von dieser Welt“ ist, existiert gleichwohl „in dieser Welt“. Auch wenn sie nicht eine unmittelbare politische Funktion hat, hat sie doch an der Verantwortung für die Voraussetzungen des politischen Zusammenlebens teil. Man hat sie insofern auch das „Gewissen der P.“ genannt. Ihre Einwirkung auf die P. vollzieht sich zum einen durch ihren Einfluss auf die politische Haltung ihrer Glieder; die K. wirkt insoweit politisch durch das politische Wirken der Christen. Daneben tritt das direkte politische Wirken der K. insb. durch ihre öffentlich vertretenen Positionen zu Grundfragen des Zusammenlebens.
II. Evangelische Positionen
Die politische Verantwortung der K. wurde in der Tradition ev. Denkens in aller Regel im Gegenüber zum Staat verankert. Die Aufforderung zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit galt nicht nur als Maßstab für das individuelle christliche Leben, sondern auch als Richtschnur für das gemeinschaftliche Handeln der K. Neben der Berufung auf Römer 13 wurde dafür insb. das 4. Gebot in Anspruch genommen, das – schon in Luthers Deutung – nicht nur auf das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern, sondern ebenso auf das Verhältnis der Untertanen zur Obrigkeit bezogen wurde. In Deutschland hat schließlich die Institution des Landesherrlichen Kirchenregiments dazu beigetragen, dass der Obrigkeitsgehorsam mit besonderer theologischer Autorität ausgestattet wurde.
Erst in den Krisenerfahrungen des 20. Jh.s erschloss sich eine neue Einsicht in das kritische „Wächteramt“ der K. gegenüber staatlichem Handeln. Programmatisch band die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 das staatliche Handeln an den Auftrag, für Recht und Frieden zu sorgen. Das „Wächteramt“ der K. dem Staat gegenüber wurde aus ihrer Pflicht abgeleitet, an Gottes Reich und seine Gerechtigkeit zu erinnern. Besonders wurde zudem eingeschärft, dass es nicht nur eine politische Verantwortung der Regierenden gibt, sondern dass Regierende und Regierte durch eine gemeinsame politische Verantwortung miteinander verbunden sind.
Schon dieser Ansatz der Barmer Theologischen Erklärung war dazu geeignet, die schroffe Entgegensetzung in Frage zu stellen, in welcher in der ev. Theologie eine Zeit lang zwei Ansätze zur Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Politik gegeneinander gestellt wurden. Die „Zwei-Reiche-Lehre“ und die „Lehre von der Königsherrschaft Christi“, so wurde behauptet, repräsentierten unvereinbare Sichtweisen auf die Welt des Politischen. Die „Zwei-Reiche-Lehre“ anerkenne die Eigengesetzlichkeit der P., die „Lehre von der Königsherrschaft Christi“ dagegen unterstelle auch die Welt des Politischen in einem unmittelbaren Sinn dem Gebot Christi. Sowohl historische Forschungen als auch systematisch-theologische Überlegungen haben indessen gezeigt, dass sich diese Entgegensetzung nicht halten lässt; auch ihre konfessionstypologische Verbindung mit lutherischer bzw. reformierter Tradition trifft, jedenfalls in ihrer schlichten Form, nicht zu. Einvernehmen besteht insb. darin, dass die These von der „Eigengesetzlichkeit“ des Politischen keine reformatorische These ist; eine Fassung der „Zwei-Reiche-Lehre“, die sich mit dieser Vorstellung von einer Eigengesetzlichkeit des Politischen verbindet, kann sich insofern nicht auf Luther berufen. Der Christ steht auch in seinem Handeln in der Welt unter dem Anspruch, die Botschaft von Gottes Gnade in Jesus Christus zu bezeugen. Doch zugleich ist auch aus der Perspektive des christlichen Glaubens anzuerkennen, dass in der „noch nicht erlösten Welt“ nicht nur die „Regierweise“ gilt, die für die K. charakteristisch ist: eine Regierweise ohne allen Zwang, allein durch das Wort. Vielmehr gehört es zur Aufgabe der P., dafür zu sorgen, dass das Recht auch gegen Widerstreben durchgesetzt werden kann. Die Vorstellung dagegen, dass sich bereits in der „noch nicht erlösten Welt“ das Recht in jedem Fall zwanglos durchsetzt, kann sich nicht auf die Lehre von der „Königsherrschaft Christi“ stützen. Vielmehr hat der Gedanke des staatlichen Gewaltmonopols theologisch seinen Grund in der Einsicht, dass der Friede der Gewalt abgerungen werden muss und dass das Recht sich gerade im Konflikt zu bewähren hat. Aber aus dieser Anerkennung der „zwei Regierweisen“ Gottes lässt sich keine generelle Rechtfertigung physischer Gewalt ableiten; vielmehr gilt für alles menschliche Handeln, auch für das Handeln des Staates, der Vorrang der Gewaltfreiheit vor allen Mitteln der Gewalt. Sofern in Ausnahmesituationen die Anwendung von Gewalt zur Wahrung oder Wiederherstellung des Rechts als unausweichlich erscheint, muss dieser Einsatz der Gewalt selbst an das Recht gebunden und ihm unterworfen sein. Eindeutigkeit gewann das „Wächteramt“ der K. in der Auseinandersetzung mit nichtdemokratischen Formen politischer Herrschaft. Deshalb führte die Erfahrung mit dem kirchlichen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime wie mit dem Ungenügen dieses Widerstands zu einer neuen Einsicht in den Öffentlichkeitsauftrag der K. Ebenso bestärkte die Erfahrung mit kommunistischen Regimes, die den Einfluss der K. auf die Einzelnen wie auf die Gesellschaft zurückdrängen wollten, die Erkenntnis, dass alles Wirken der K. eine unaufgebbare politische Dimension hat.
Ein wichtiger nächster Schritt bestand darin, das innere Verhältnis der K. zur Demokratie zu klären. Für den deutschen Protestantismus geschah das grundlegend in der Demokratie-Denkschrift der EKD („Ev. K. und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“) von 1985. Dieses Dokument verdeutlicht, dass und inwiefern sich die politische Verantwortung der K. in der Demokratie von dem „Wächteramt“ gegenüber einem Staatswesen unterscheidet, das die Anerkennung elementarer Menschenrechte und den Zugang zu politischer Mitwirkung verweigert. Daran muss sich der Schritt anschließen, die politische Verantwortung der K. nicht allein auf den Staat, sondern auch auf die Zivilgesellschaft zu beziehen. In ihr formt sich das politische Wollen einer Gesellschaft. In ihr bilden sich Bündnisse zur Förderung von Frieden und Gerechtigkeit; in ihr artikuliert sich die Bereitschaft zur Verteidigung der Menschenrechte und zur Bewahrung der Natur.
III. Ökumenische Perspektiven
Dass die politische Verantwortung der K. in der Zivilgesellschaft ihren Ort hat, ist erst anfangsweise ins Bewusstsein getreten. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung bildete der Konsultationsprozess zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, den ev. und kath. K. 1994 gemeinsam angestoßen und 1997 mit einer Gemeinsamen Erklärung zum Abschluss gebracht haben („Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“, 1997). Er kann als Beispiel für eine veränderte Wahrnehmung der politischen Aufgabe der K. gelten.
„Die Kirchen wollen nicht selbst P. machen, sie wollen P. möglich machen“, so heißt es in dieser Erklärung. Der Ansatz kirchlichen Handelns wird in dieser Formel solange präzise beschrieben, wie man den Begriff der P. mit staatlichem Handeln gleichsetzt. Im Blick auf dieses Handeln ist für die Kirchen die Unterscheidung zwischen kirchlicher und staatlicher Verantwortung grundlegend. Eine andere Perspektive ergibt sich indessen, wenn man P. nicht ausschließlich staatsbezogen versteht, sondern auch die verschiedenen Formen von „SubP.“ in die Betrachtung einbezieht, die im Bereich der Zivilgesellschaft ihren Ort haben. In diesem Rahmen können die Kirchen als intermediäre Institutionen zur Erneuerung eines von den Bürgerinnen und Bürgern getragenen Grundkonsenses beitragen, der für jedes weiterreichende Reformvorhaben unerlässlich ist. Diesen Beitrag können die Kirchen auf doppeltem Wege leisten – zum einen durch einen eigenen substantiellen Beitrag zur Sache, zum anderen durch die Organisation eines Prozesses, in dem Beteiligte und Betroffene in möglichst weitem Umfang ihre Stimme einbringen können.
Wenn die Kirchen in ökumenischer Gemeinschaft ihre Stimme in der Zivilgesellschaft einbringen, erschließt sich für ihren politischen Beitrag eine neue Perspektive. Diese neue Ortsbestimmung ist umso dringlicher, als sich mit der Globalisierung wirtschaftlicher Prozesse und sozialpolitischer Herausforderungen auch der Horizont kirchlichen Handelns verändert. Die Beschränkung auf den jeweils eigenen Nationalstaat verliert an Plausibilität. Die Kirchen sehen sich dazu herausgefordert, ihre ökumenische Verbundenheit auch politisch zur Geltung zu bringen. Dabei unterscheiden sie sich von anderen globalen Akteuren dadurch, dass sie nicht nur ein „global player“, sondern ein „global prayer“ sind, weltweit verbunden durch dasselbe Herrengebet. Inmitten der menschlichen Lebenswelt stehen die Kirchen für die Wirklichkeit Gottes ein und werden deshalb zu Anwälten der Benachteiligten und Bedrängten.
Das gemeinsame Eintreten der Kirchen für Gerechtigkeit und Frieden ist umso dringlicher, als globale Machtkonzentrationen den gesellschaftlichen Grundkonsens auszuhöhlen drohen. Das kann dahin führen, dass der bereits bestehende Riss zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen sich noch weiter in die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinfrisst und die Kohäsion der Gesellschaft im Ganzen bedroht.
Um den gesellschaftlichen Grundkonsens gegen solche Gefahren zu stärken und Kräfte zu mobilisieren, die sich an den Zielen von Frieden und Gerechtigkeit orientieren, müssen die Kirchen zur Sprache bringen, was für sie selbst verbindlich ist. Sie können dabei eine allgemeine Anerkennung christlicher Grundsätze nicht voraussetzen. Sie brauchen aber auch nicht davon auszugehen, diese Grundsätze seien vernünftiger Verständigung unzugänglich. Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft müssen sie das für sie Charakteristische ausdrücklich benennen, wenn sie der Gesellschaft im Ganzen dienen wollen. Der Verweis auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen und damit auf die gleiche Würde jeder menschlichen Person, auf das Doppelgebot der Liebe und auf die vorrangige Option für die Armen sind Maßstäbe, mit deren Hilfe gesellschaftliche Wahrnehmungsdefizite überwunden und Ausgrenzungen thematisiert werden können.
Lit.: M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523 – Kirchenamt der EKD (Hg.), Ev. K. und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985 – Dass. / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997.
Quelle: Werner Heun, Martin Honecker, Martin Morlok, Joachim Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2006, Sp. 1139-1144.