Osterpredigt über Johannes 20,1-9
Von Helmut Merklein
Zielsatz: Die Hörer sollen ermutigt werden, sich auf die Geschichte des Evangeliums einzulassen, um die Geschichte ihrer Erfahrung neu zu deuten.
Das Dunkel der Nacht
Die Geschichte des heutigen Osterevangeliums beginnt im Dunkel der Nacht: „Als es noch dunkel war“, kommt Maria von Magdala zum Grab (V. 1). Dem Evangelisten liegt sehr an dieser Dunkelheit, die für ihn allerdings mehr ist als eine mehr oder minder zufällige Zeitangabe. Der Evangelist liebt eine symbolträchtige Sprache.
Das Dunkel der Nacht: das ist die Situation der Welt. Das Dunkel der Nacht: das ist die Situation der Menschen, das ist unsere Situation. Gewiß gibt es in unserem Leben auch helle Tage; leuchtende Freude, gleißende Feste. Aber eben auch Dunkel. Und am Ende – so sagen wir treffend – wird es Abend werden, wird uns die Nacht des Todes empfangen.
Der Lauf der Jünger zum Grab ist durchaus ein Symbol unseres Lebens. Wir laufen auf ein Ende zu. Und wenn wir uns, wie der Jünger im Evangelium, ein wenig „vorbeugen“ (V. 5) in unsere Zukunft, dann müssen wir beileibe keine Propheten sein, um schon die Leichentücher und den Sarg zu sehen, in den man uns legen wird.
Ist das Evangelium also nichts anderes als ein Abbild unserer dunklen Geschichte? Dann könnten wir getrost darauf verzichten!
Die Kontrastgeschichte
Nein, das Evangelium ist kein Abklatsch unserer Geschichte! Ganz im Gegenteil! Es ist genau die Kontrastgeschichte dazu. Eine Geschichte, die zwar beim Dunkel unserer Nacht ansetzt, dieses Dunkel aber gerade durchbrechen will. Und tatsächlich, wenn wir genau hinschauen, unterscheidet sich die Geschichte des Evangeliums ganz erheblich von unserem Lauf zum Grab.
Zunächst: Das Grab, von dem das Evangelium spricht, ist offen. Das ist anders als bei uns. Gräber schütten wir zu. Gräber haben keine Türen. Wozu auch? Die man hineinlegt, wollen und können nicht mehr heraus. Das Grab Jesu aber ist offen. Maria versteht dieses Zeichen nicht. So denkt sie an einen Grabräuber oder an irgend jemand, der aus irgendwelchen Gründen den Leichnam Jesu weggeschafft hat – und läuft davon.
Sie meldet ihre merkwürdige Beobachtung den Jüngern: dem Simon Petrus und dem anderen Jünger, dem Lieblingsjünger Jesu. Auch sie können sich keinen Reim auf die Geschichte machen, die ihnen Maria erzählt. Und so laufen sie zum Grab. Der andere Jünger ist schneller als Petrus. Es ist, als ob ihn eine besondere Ahnung triebe. Aber vor dem Grab bleibt er stehen. Er läßt Petrus den Vortritt. Petrus inspiziert genauestens das Grab. Er findet die Leinenbinden, in die man Jesus gewickelt hatte. Daneben liegt das Tuch, mit dem man den Kopf Jesu bedeckt hatte. Es ist fein säuberlich zusammengefaltet. Ein Leichendiebstahl scheidet also aus. Wer einen Leichnam entwendet, macht sich nicht die Mühe, die Leichentücher zurückzulassen und diese noch ordentlich zusammenzulegen.
Aber wie vorher Maria das Zeichen des offenen Grabes nicht verstanden hat, so begreift Petrus jetzt das Zeichen im Grab nicht. Er steht zu sehr im Banne seiner eigenen Geschichte, bei der das Grab immer nur das Ende ist. Er versteht die Geschichte nicht, in die er nun selbst verwickelt ist.
Nur der Jünger, den Jesus liebte, der nach Petrus das Grab betritt, versteht. Im Evangelium heißt es: „Er sah und glaubte“ (V. 8). Er versteht, daß hier in diesem Grab eine völlig andere Geschichte begonnen hat. Eine Geschichte, welche die Geschichte der menschlichen Erfahrung durchkreuzt. Noch kann er diese Geschichte nicht in Worten ausdrücken. Da geht es ihm wie Petrus: „Sie wußten noch nicht aus der Schrift, daß er von den Toten auferstehen mußte“ (V. 9). Aber er sieht und glaubt. Er versteht die Zeichen des offenen Grabes und der zusammengefalteten Leichentücher. In der Geschichte, von der diese Zeichen erzählen, ist das Grab nicht das Ende, sondern der Anfang. Es ist die Geschichte vom Leben, das aus dem Grab erwacht. ‚
Die Entscheidung
Zwei Geschichten sind vor uns ausgebreitet. Die erste ist die Geschichte unserer Erfahrung. An ihrem Ende stehen die Gräber, die man verschließt, Gräber, die voll sind mit Särgen und Leichen. Die andere Geschichte ist die Geschichte des Evangeliums. In ihr ist das Grab leer, und die Leichentücher und der Sarg sind verlassen. Jede Geschichte hat ihr Für und Wider. Die erste Geschichte ist sehr realistisch, vor allem aber ist sie nachprüfbar. Aber es ist eine traurige Geschichte, weil sie die Welt zum Wartesaal eines riesigen Grabes macht. Die zweite Geschichte fordert Glauben. Das ist riskant. Wenn sie nicht stimmt, dann – so hat schon Paulus gesagt – sind wir erbärmlicher dran als alle anderen Menschen, weil wir uns einem Wahn hingegeben haben (1 Kor 15,17-19).
Zwei Geschichten – wir stehen vor der Entscheidung. Die Entscheidung läßt sich nicht in theoretischen Überlegungen fällen. Die beiden Geschichten sind zu ungleichartig, als daß man Argument gegen Argument abwägen könnte. Die Entscheidung kann nur in der Praxis fallen. D. h., ob die zweite Geschichte wahr ist, kann man nur erfahren, wenn man sich auf sie einläßt. Und hier sind wir zunächst auf Zeugen angewiesen, auf Menschen, die das Risiko dieser Geschichte eingegangen sind. Es sind unzählige, angefangen bei den unmittelbaren Jüngern Jesu bis hin zu den christlichen Gemeinden unserer Tage. Und auch wir wären heute wohl nicht hier, wenn wir nicht schon unsere Erfahrung, und sei es eine noch so zaghafte Erfahrung, mit dieser Geschichte gemacht hätten.
Und ich denke, darin werden Sie mir alle zustimmen: Dort, wo wir uns wirklich auf diese Geschichte eingelassen haben, da war unser Dunkel auf einmal hell. In der Tat, das ist die Wahrheit der Geschichte des Evangeliums: Mit dieser Geschichte kann man wirklich leben. In dieser Geschichte verliert sich alle Angst. In dieser Geschichte entkrampft sich aller Streß und aller Leistungsdruck, unter den wir selbst und andere uns stellen. Und weiter: Wer sich in diese Geschichte hineinbegibt, kann wirklich lieben. Denn nur, wer um sein Leben nicht fürchtet, kann es wirklich verschenken.
Quelle: Der Prediger und Katechet (PrKat) 126 (1987), Heft 3, S. 284-286.