Interessant ist, wie 1879 die Genügsamkeit in der zweite Auflage der Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche als Tugend mit Blick auf die antike Literatur beschrieben worden ist:
Von G.F.C. Fronmüller (C. Beck)
Auf neutestamentlichem Standpunkt eine Frucht des Geistes, eine Eigenschaft des neuen Menschen, wobei man mit den Umständen, in welche man durch die Vorsehung Gottes gesetzt ist, mit der Stellung, die man in der Welt einnimmt, mit dem Ruf, den man genießt, mit dem Anteil von zeitlichen Gütern, den man besitzt, wohl zufrieden ist, Matth. 6,11. Sie steht im Gegensatz zu der tief gewurzelten Unart des menschlichen Herzens, wonach es mit der Regierung Gottes selten zufrieden ist, immer mehr haben will, als ihm gegeben ist, Matth. 20,12-15, und höher hinaufwill, als ihm gebührt. Ein herrliches Urteil über die gottselige Genügsamkeit, in welcher Demut, himmlischen Sinn, Geringschätzung des Irdischen, Glaube an Christum, Hoffnung auf die in ihm zu gewinnenden Reichtümer zusammenfließen, steht 1Tim. 6,6-11. Der Apostel Paulus, der selbst in der Schule Christi gelernt hat, sich genügen zu lassen, niedrig zu sein und hoch zu sein, satt zu sein und zu hungern, übrig zu haben und Mangel zu leiden (Phil.4,11-13), empfiehlt dort die Tugend aus vier Hauptgründen, nämlich 1) wir können doch aus der Welt, in die wir nichts mitgebracht haben, auch nichts mit hinausnehmen, vgl. Luk.12,20-21; 2) Nahrung und Kleidung reichen zum Leben hin; 3) Weiter haben wollen, führe zum Geize, der [70] Wurzel alles Übels, vgl. Hebr. 13,5, wogegen 4) der Gottesmensch höhere Schätze kenne und suche, vgl. Matth. 6,19-21. Ähnlich, jedoch ohne die tiefen Beweggründe dazu zu kennen, spricht sich schon Sirach aus: „Es ist genug zu diesem eben, wer Wasser und Brot, Kleider und Haus hat, damit er seine Notdurft decken kann“, Sir. 29,28; 3,19. Schöne Beispiele der Genügsamkeit im Alten Testament sind David, Ps. 4,8-9; 2Sam. 15,25-26; Hiob 31,24; 1,21 und Assaph, Ps. 73,25. Mannigfache Annäherungen zu der spezifisch-christlichen Tugend finden sich im vorchristlichen Altertum. Bekannt ist des Sokrates Grundsatz, man müsse der göttlichen Bedürfnislosigkeit so nahe als möglich kommen. „Es kommt mir vor, sagt er zu Antiphon, du setzest die Glückseligkeit in Üppigkeit und Pracht; ich hingegen bin der Meinung, gar keine Bedürfnisse zu haben, komme den Göttern zu, so wenig als möglich zu bedürfen, sei daher dem Göttlichen am nächsten; das Göttliche sei zwar das Beste, was aber dem Göttlichen am nächsten komme, sei dem Besten am nächsten“. Xenoph. Mem. I, 6. N. 10; vgl. Euripides Supplices 214; Electra 430; Phoen. 555. ep eì tà g’ arkoũnth’ hikanà toĩs ge sṓphrosin. Es streift an das Neutestamentliche, wenn der Sophist Bion sagt: die Habsucht sei die Mutter jeder Schlechtigkeit. Stob. serm. 10. So spricht Hippokrates von einer bitteren Wurzel der Geldliebe, welche man ausschneiden müsse. Kypke, observat. sacra p. 368. In der Ethik der Alten erscheint die Genügsamkeit unter dem Begriff der sophrosýne, der Mäßigung oder Mäßigkeit, welche als die vernunftgemäße Beherrschung der sinnlichen Begehrungen bestimmt wird. Plato, de rep. III, p. 389; IV, p. 430. Phaedr. 279. Bezeichnend ist der dafür vorkommende Ausdruck autárkeia. In der cynischen Schule artete sie in ein Zerrbild, in Gleichgültigkeit, Stumpfheit und Trägheit aus. Bei den Stoikern spielt sie eine große Rolle, da ihr oberster sittlicher Grundsatz ist, der Natur zu folgen, oder in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Diog. Laert. VII, 87. Das klassische Altertum in seinen besseren Zeiten suchte hauptsächlich aus politischen Gründen durch Gesetze und Einrichtungen, durch Lehren und Beispiele der Weisen diese Tugend zu befördern. Dichter, Geschichtsschreiber und Philosophen wetteifern in ihrer Empfehlung. So Sallust, Cicero, Silius Italikus, selbst Horaz, Juvenal, Persius. Merkwürdig ist, wie der ältere Kato bei Livius gegen die zweifache Pest, der Habsucht und der Üppigkeit, welche alle großen Reiche zu Grunde gerichtet haben, eifert Liv. 34, 3. 4; vgl. Cicero tuscul. disp. 3, 8 de fin. 3,22; Seneca Ep. 17 de tranq. an. 8. 9. Mögen die von solchen Schriftstellern geltend gemachten Vernunftgründe nur wenige überzeugt haben, so fehlt es doch im heidnischen Altertum nicht an edlen Beispielen für diese Tugend, wie z. B. Aristides, Phocion, Zeno usw. Auch die orientalische Lebensweisheit empfiehlt solchen Sinn, wofür als Beleg der türkische Spruch hier stehen mag: „Sei genügsam und frei, die Begierigen sind die Gestraften“. Indessen ist der Unterschied unverkennbar, der zwischen dem philosophischen und christlichen Begriff der Genügsamkeit stattfindet, und teils die Grundlage, teils die Beweggründe, teils den Anfang und das Maß dieser Tugend betrifft. Von beiden ist wiederum die natürliche Genügsamkeit von Kindern und von Menschen im ungebildeten Naturzustande zu unterscheiden.
Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. A., Bd. 5, Leipzig 1879, S. 69f.
In der dritte Auflage wurde dann 1908 die Genügsamkeit durch „Zufriedenheit“ ersetzt, wozu Ludwig Lemme einen schwer erträglichen Artikel schrieb.