Eine lesenswerten Beitrag zur Frage des assistierten Suizids hat jüngst Kristlieb Adloff verfasst:
I.
Das BVG hat am 26. Februar 2020 ein Bundesgesetz von 2015 zum Verbot der gewerbsmäßigen Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt. Dieses Gesetz, das nach einer fraktionsübergreifenden, eindrücklichen Debatte, die dem Gewissen des einzelnen Abgeordneten (Grundgesetz/GG Art 38,1) Rechnung trug, war vom Bundestag mehrheitlich beschlossen worden. Der durch das Gesetz beabsichtigte Rechtsfriede wurde, wie sich anschließend zeigte, nicht erreicht, da das Gesetz Rechtsunsicherheiten, zumal für Ärzte, nicht beseitigte, sondern eher verschärfte. Das angerufene BVG traf nun eine weitreichende Entscheidung. Aus GG Art. 1,1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ leitete das Gericht ab, dass das autonome Individuum das Recht habe, selbstbestimmt über sein Leben und seinen Tod zu entscheiden, und damit auch das Recht auf einen assistierten Suizid. Dieses Recht gelte grundsätzlich, gehe über den vor allem diskutierten Fall eines als unerträglich empfundenen körperlichen Leidens hinaus, gelte also auch für junge und gesunde Menschen.
Das Urteil rief naturgemäß unterschiedliche Reaktionen hervor, wurde von den einen als Durchbruch im Kampf um Freiheitsrechte enthusiastisch begrüßt, von den anderen als ‘Dammbruch’ mit unabsehbaren Folgen beklagt. Dabei war es dem Gericht bewusst, dass es mit seinem Urteil einem durchaus gesellschaftsfähigen Trend folgte. Die Verknüpfung von GG Art. 1,1 mit der philosophischen Konstruktion eines über Leben und Tod frei über sich selbst bestimmenden Subjekts war allerdings von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes gewiss nicht gedacht. Diese hatten die Verletzung der Würde des Menschen durch die verbrecherische Herrschaft des Nationalsozialismus vor Augen, wozu z. B. auch die sog. ‘Euthanasie’ gehörte, also die Vernichtung des als ‘lebensunwert’ klassifizierten menschlichen Lebens. Hier war die Würde des Menschen angetastet worden! Die neue Verfassungswirklichkeit, die durch das Urteil des BVG gesetzt ist, fordert den Gesetzgeber zu Regelungen heraus, die dieser Wirklichkeit angepasst sind.
II.
Die politische Diskussion ist im Gange. Es wird wohl wieder zu einer fraktionsübergreifenden Gewissensentscheidung der Abgeordneten des Bundestags kommen, wobei neue Rechtsunsicherheiten (die am Ende wieder vor dem BVG landen?) vorauszusehen sind. Die Spielräume, die das BVG dem Gesetzgeber lässt, sind von diesem auszuloten. Muss überprüft werden, ob eine freie Selbstbestimmung vorliegt, und, wenn ja, wie und durch wen diese Prüfung erfolgen soll? Oder liegt hier ein Widerspruch vor? Wird eben durch eine solche Prüfung nicht die Würde des autonomen Subjekts angetastet?
Von den Kirchen ist in der durch das BVG aufgeworfenen grundlegenden ethischen Frage keine einheitliche, klärende Stellungnahme zu erwarten. Die römisch-katholische Kirche beharrt auf ihrer grundsätzlichen Ablehnung des ‘Selbstmords’, während, wie nicht anders zu erwarten, auf protestantischer Seite unterschiedlich bis gegensätzlich argumentiert wird. Theologische Kritik wird laut[1]. Die ökumenische Einheit wird beschworen. Andererseits zeigt sich auch hier im Protestantismus, wie in vielen anderen Fällen, die Neigung, nachträglich theologisch zu legitimieren, was von der Gesellschaft gegen bisher als christlich fundamental angesehene Überzeugungen als Freiheitsrecht erkämpft wurde. Eine Art von moderner ‘Rechtfertigungslehre’? Dabei wird der vermeintlich noch vorhandene kirchliche Einfluss auf die Gesellschaft von der Amtskirche leicht überschätzt. Ein vollmundig beanspruchtes ‘Wächteramt’ der Kirche klingt kaum glaubwürdig. In der Zeit des Nationalsozialismus schwiegen die ‘Wächter’. Geht es der Kirche um die Verteidigung von längst auf der Verlustseite erscheinenden ‘christlichen Werten’ oder gar von kirchlichen Privilegien?[2] Über die Existenz einer nachchristlichen Gesellschaft sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Wie wäre es stattdessen, wenn die Kirche ihre wahre Aufgabe wahrnähme, die Gewissen zu trösten und zu unterweisen? Daran fehlt es in einer weithin gottvergessenen Kirche fundamental. Sie hat den Zugang zu den Quellen der Lehre und des Trostes verloren.
III.
Ein Lehrstück besonderer Art war die, bezeichnenderweise mit dem Titel GOTT versehene, Fernsehsendung eines Theaterstücks des bekannten Autors Ferdinand von Schirach am 23. November 2020. Der Film, von exzellenten Schauspielern gestaltet und publikumswirksam in Szene gesetzt, verfolgte eine klare, mit den Überzeugungen seines Autors übereinstimmende Strategie, die in der abschließenden Schlussabstimmung der Zuschauer auch bestätigt wurde. Der emotional anrührende, fiktionale Fall: Ein gesunder Mann, der nach dem ihn erschütternden Krebstod seiner Frau in seinem Leben keinen Sinn mehr sieht, verlangt von seiner Hausärztin ein todbringendes Medikament für den Fall, dass er den Zeitpunkt seines Todes gekommen sieht, ein Ansinnen, das die Ärztin ablehnt. Die Sache kommt vor den Ethikrat.
Welcher Raum bleibt da noch zwischen dem mit glühender anwaltschaftlicher Leidenschaft vorgetragenen und – zugegeben – populistischen Plädoyer des Verteidigers des Sterbewilligen und der kalten, messerscharfen Argumentation der als Zeugin im Sinne des Urteils des BVG geladenen Juristin? Raum für die über die Rechte des Individuums hinausgehende soziale Dimension, die die Anwältin des angerufenen Ethikrates differenziert und mit Wärme zu vertreten hatte? Der als Zeuge geladene Vertreter der Ärzteschaft sowie der katholische Bischof konnten (abgesehen von der schauspielerischen Leistung der Darsteller) nicht überzeugen, da sie nicht ad hominem, menschenzugewandt, zu argumentieren vermochten, sondern vom hohen Ross unanfechtbarer Prinzipien her. Der Arzt beruft sich auf den kaum als gegenwartstauglich anzusehenden ‘hippokratischen Eid’. Für seine Weigerung, als zur Heilung berufener Arzt das Leben eines Menschen, abgesehen von den bestehenden Möglichkeiten einer Lebensverkürzung und palliativer Versorgung, aktiv zu beenden, wird er von dem Verteidiger attackiert mit der Frage, ob er denn mit seiner Weigerung Gott spielen wolle. Das macht den Arzt hilflos, der doch gerade nicht den Todesgott machen will. Die Frage nach Gott gerät so zur Lachnummer.
Der katholische Bischof lässt sich von dem Verteidiger in eine ausweglose theologische Diskussion über die Verurteilung des ‘Selbstmords’ in der Geschichte der Kirche (seit Augustin) verwickeln. Mitleid erweckt der Bischof bei seinem Ankläger erst da, wo er sich persönlich berührt zeigt, indem er von dem Schicksal einer ihm bekannten Frau erzählt, die schuldlos-schuldig geworden mit dieser Schuld nicht leben und nicht sterben kann. Aber hier, wo es existentiell ernst wird, weil GOTT wirklich ins Spiel käme, muss die Kunst des Theatermanns von Schirach an ihr Ende kommen.
Doch nun wird das Fernsehpublikum mit der Frage „Wem gehört mein Leben?“ konfrontiert und in die Abstimmung geschickt. Wie zu erwarten, votieren über 70 % der Zuschauer im Sinne des BVG-Urteils. Dabei handelt es sich doch um eine Frage, die kein ‘Publikum’ entscheiden kann, als gälte im Ernst dir oder mir. Abseits von allen politischen Entscheidungen, die jetzt anstehen und der weiteren Diskussion unterliegen, stellt sich die Gewissensfrage und damit die Frage nach GOTT. Werden Theologen, wie es ihre Pflicht ist, sich zur Antwort herausfordern lassen?
IV.
Für den Menschen der Bibel, den Menschen ‘jenseits von Eden’, ist das Leben, das Leben im Schatten des Todes und im Bewusstsein der Vergeblichkeit keineswegs das von Natur aus Bejahte. Nicht nur Hiob wünscht sich den Tod und stellt mit dem Tag seiner Geburt die gesamte Schöpfung und ihre Ordnung in Frage (Hi 3). Seine Warum-Frage durchzieht in den Psalmen die Klage der mit dem Tod umfangenen Beter, mitten im Leben und am Rande des Lebens, und ihren Schrei nach einer gerechten Weltordnung. Ob nun den von der Last ihres Auftrags beschwerten Propheten wie Elia (1. Kön 19,4) Jeremia (Jer 20, 14-18) oder auch Jona (Jon 4,3.8) bis hin zu dem Paulus des Neuen Testamentes (Phil 1,23) – dem Menschen der Bibel ist der Todeswunsch durchaus ‘natürlich’.
Dass die Schöpfung und so auch das Leben des einzelnen Menschen durch ihren Schöpfer von Anfang an bejaht ist (1. Mose 1,31), zeigt sich erst vom Ende her. Abraham lebt aus dem Verheißungswort (1. Mose 12,2f.; 17,4-8), Mose erfährt die Zusage des „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2. Mose 3,14), Israel empfängt die Tora als Angeld, als Pfand fürs Künftige. Das im endzeitlichen Kommen des fleischgewordenen Wortes erscheinende Leben ist kein anderes als das Ja-Wort, durch das Gott im Anfang die Welt erschuf (Joh 1,1-4.14). Und da es diesem Leben, Leben im Schalom, in der endzeitlichen Fülle an nichts fehlen soll, darum strahlt von daher, von der Vollendung der Schöpfung her, das Licht Gottes auf die ganze von den Chaosmächten bedrohte Welt, lässt auch das Leben des einzelnen sterblichen Menschen umgeben sein von diesem Glanz. In seinem Wort verspricht sich der Schöpfer dem Geschöpf: Du sollst – du wirst – leben! Das ist keine Vertröstung aufs Jenseits, sondern Ermächtigung zu einem Leben im Diesseits in der Kraft des Jenseits. Dem durch nichts bedingten freien Ja-Wort Gottes entspricht ein freies, ein nicht erzwungenes Ja des Menschen zu Gottes Schöpfung, zum eigenen Leben. Kein: ‘Man muss doch leben’.
So wird denn in der Bibel der Suizid nicht moralisch beurteilt. Keine Rede davon, dass das Dekalog-Gebot „Du sollst nicht morden“ ins Spiel käme, keine Rede von ‘Selbstmord’. Sauls Tod – es geht nicht um die Selbsttötung – ist Folge seines Versagens als Träger der Verheißung (1. Sam 31,3-6; 1. Chr 10,13f.). Sein Tod wird von David betrauert, der ihn auch begraben lässt (2. Sam 1,17-27; 21,12ff.). Suizidenten werden in Israel ehrenvoll begraben (2. Sam 17,23).
Besondere Aufmerksamkeit darf das Ende Simsons beanspruchen. Ein Selbstmordattentäter?[3] Aber das sind moderne Überlegungen. Für den biblischen Text ist das ein einmaliger Vorgang, der der einmaligen Geschichte dieses ‘Richters in Israel’ entspricht (Ri 13-16; 16,28-31). Vom Ende her blitzt die Lösung des Rätsels auf, das von Anfang an mit der Geschichte dieses seltsamen Heiligen Gottes, mit den Irrungen und Wirrungen seines Lebens, mit Liebe und Verrat verknüpft war: „Er wird anfangen, Israel zu erlösen aus der Philister Hand“ (Ri 13,5). Ein erstes kurzes Aufblitzen des schöpferischen wie zerstörerischen Geistes Gottes, des Geistes der Freiheit (2. Kor 3,17), Freiheit von allen Bindungen und Blendungen unter der Gewalt der Todesgötzen. Stirbt Simson, der am Ende den befreienden und Augen öffnenden Geist des Herrn anruft (Ri 16,28ff.), so stirbt er zusammen mit den Israel bedrohenden Philistern auch für die Freiheit der Völker, die, wie die Philister, ihr Dasein ihrem je eigenen ‘Exodus’ durch den Schöpfer, den Einen Gott, verdanken (Am 9,7).
Eine erstaunliche Wiederholung erfährt die Geschichte Simsons in der einmaligen Geschichte Jesu (vgl. Ri 13,3 mit Lk 1,31; Ri 13,25 mit Mk 1.12; Ri 16,17 mit Mk 1,24; Ri 14,6 mit Mk 1,7; 3,27; Ri 16,16 mit Mk 14,34) noch einmal neu. Auch Jesu Seele ist wie die Seele Simsons angesichts des Verrats nicht nur durch Judas, sondern durch alle, die er liebt, „betrübt bis in den Tod“ (Mk 14,34 vgl. mit Ri 16,16)[4]. So kämpft er in Gethsemane um den Willen Gottes, um das in seinem Nein verborgene Ja zum Leben aller, mag ihn dieser Wille auch in die Hölle der Lieblosigkeit, der Gottverlassenheit führen. So werden alle um seinetwillen und mit ihm zusammen für immer vor Gott in der Hingabe an Gott und ihre Mitmenschen leben können. Ist es gar die Aufforderung zum ‘assistierten Suizid’, wenn Jesus Judas die baldige Auslieferung an seine Feinde anbefiehlt („Was du tust, das tue bald“: Joh 13,27)? Vielmehr übernimmt Jesus die Verantwortung für Judas und bezieht ihn in seine Liebe ein. Dem sich, von allen verlassen, verzweifelt den Tod gebenden Judas, der mit seiner Schuld nicht leben und nicht sterben kann, wird sein Name, seine Würde als Mensch nicht aberkannt (Mt 27,3-10). Wie konnte ihn, der seine Schuld bekennt, die Kirche verdammen? Seine Schuld hat der am Kreuz seiner Würde entkleidete Jesus auf sich genommen.
V.
Das bleibt zu bedenken, wenn das Urteil des BVG jetzt, ohne Erinnerung an das, was den Satz von der unantastbaren Würde des Menschen hervorrief, mit dem autonom über Leben und Tod entscheidenden Subjekt verknüpft. Kann jetzt ein Mensch, getragen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens, darüber bestimmen, was ein menschenwürdiges Leben ist und was ‘lebensunwert’ heißen darf? Der den Schöpfer ehrende Mensch der Bibel weiß, dass er dazu, zu dieser Bestimmung, keine Freiheit hat. Alles hängt von der Freiheit des Schöpfers ab, der, indem er sich mit dem Leben seines Geschöpfs verbindet, sich selbst als verletzlich, als antastbar zeigt. Es ist der Gott Israels, der sein Volk ‘wie seinen Augapfel’ hütet und im Blick auf dieses Volk sagen kann: „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an“ (5. Mose 32,10; Sach 2,12). Dieser in der Schoa angetastete Gott stand den Müttern und Vätern des Grundgesetzes Pate, als sie die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, als Grundrecht aller Grundrechte festschrieben. In dem durch nichts bedingten Ja Gottes zu seinem Geschöpf als dem Hüter seines Ebenbilds in jedem Menschen ist dieses Recht gesetzt. Die wahre Autonomie des Menschen besteht in der Ermächtigung, das von Gott nicht nur geschaffene, sondern mit der Verheißung vollkommener Freude an der Liebe, an Gott und den Mitmenschen verbundene Leben frei zu bejahen. Täte er es nicht, weil er zu diesem Ja nicht gezwungen ist, so stünde mit dem Schöpfer und Befreier alles in Frage. Da mag dann der Suizid als die höchste Freiheit erscheinen, die er für sich beansprucht.
Eine bemerkenswerte Figur hat Dostojewskij in seinem Roman ‘Böse Geister’[5] mit dem Ingenieur Alexej Nilytsch Kirillow geschaffen. Kirillow folgt einer ‘philosophischen Idee’. Er will den Beweis führen, dass es Gott nicht gibt, den Gott, der den Menschen mit der Verheißung des Lebens betrügt. Wer sich selbst tötet, ist Gott dadurch, dass er in dieser Tat vollkommen frei ist, nur seinem „Selbstwillen“ unterworfen. „Jeder, der die Hauptfreiheit will, muss den Mut haben, sich zu töten … Wer den Mut hat, sich zu töten, der ist Gott.“ (S. 152). „Wenn es Gott gibt, so ist aller Wille Sein. Wenn es ihn nicht gibt, so ist aller Wille mein, und es ist an mir, den Selbstwillen zu beweisen.“ (S. 855) „Eine höhere Idee als die, dass es Gott nicht gibt, kenne ich nicht. Die Menschheitsgeschichte bestätigt mich. Der Mensch hat nichts anderes getan, als sich Gott auszudenken, um zu leben, ohne sich selbst zu töten; daraus besteht die Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag.“ (S. 856) Der Roman konfrontiert die ‘Idee’ am Ende mit der Wirklichkeit von Kirillows Selbsttötung. Dem Zeugen folgt „der aus dem Zimmer dringende furchtbare Schrei: ‘Sofort, sofort, sofort, sofort … ‘„ (S. 865). Kirillow, eine reine Seele, erweist sich am Ende als Opfer einer verbrecherischen Manipulation.
VI.
Im 21. Jahrhundert muss niemand mehr durch Selbsttötung beweisen, dass es Gott nicht gibt. Nach Udo Di Fabio[6] versteht die Präambel des Grundgesetzes den ‘Gottesbezug’, das Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, „als bewusste Geste der Demut, als Gegengewicht zu den Gefahren einer Selbstvergötterung der menschlichen Vernunft und der Evidenz ihrer jeweiligen tagesaktuellen Überzeugungen.“ Damit kann auch der Atheist leben, denn der „Gottesbezug … ist lediglich ein tarierendes Gewicht neben dem großen humanistischen Leitbild der Verantwortung vor den Menschen.“ (S. IX) Ebenso lebt der Christ, nach Bonhoeffer, vor Gott in einer säkularen Welt etsi deus non daretur. GG Art. 4,1.2 garantiert die Religionsfreiheit im Rahmen der Staatsreligion des neuzeitlichen Humanismus, der freilich des ‘tarierenden Gewichts’ bedarf, um sich nicht selbst absolut zu setzen. Der „Selbstwille“ (s. o.) als Selbstbestimmung ist dabei freilich eine undiskutierbare Selbstverständlichkeit und wird so auch im Urteil des BVG verfassungsmäßig festgeschrieben. Aber diese Selbstverständlichkeit ist selbst ein (philosophischer) Glaube. Er wurde erkämpft gegen eine Kirche, die den von ihr autoritativ geltend gemachten Willen Gottes – auch in den reformatorischen Kirchen – gegen das Gewissen des Einzelnen setzte. Besteht nun aber nach diesem Sieg über religiöse Gewissensherrschaft die Gefahr „einer Selbstvergötterung der menschlichen Vernunft“ – welches tarierende Gewicht, gleichviel ob agnostisch-laizistisch oder konfessionell bestimmt, könnte der vom BVG in Pflicht genommene Gesetzgeber in Anschlag bringen? Der in dieser Sache gegen den Fraktionszwang allein an sein Gewissen gebundene Abgeordnete wird hier jeweils zu divergierenden Ergebnissen kommen, so dass ein Mehrheitsentscheid neue Fragen aufwerfen wird, insbesondere, was die ‘unantastbare Würde des Menschen’ angeht.
Was bedeutet denn ‘In Würde sterben’? Ungeachtet der Tatsache, dass im Schatten einer abschreckenden Apparatemedizin hier, im Einverständnis mit dem Patientenwillen, gewisse Spielräume für das ärztliche Handeln gegeben sind, wird es aus den Erfahrungen von Palliativmedizinern und der Hospizbewegung zu anderen Einstellungen kommen als vonseiten der Befürworter eines allein von der Freiheit des Einzelnen abhängigen ‘assistierten Suizids’. Aber der Frage ‘In Würde sterben’ ist die andere vorgeordnet, was es denn heiße ‘In Würde leben’. Hat Schiller recht: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld“? GG Art. 2,2 sichert jedem „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ zu. Folgt daraus nicht auch eine Pflicht, Leben, wo immer es möglich ist, ja sogar unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu schützen? Den ‘Schutz des Lebens’ haben Kirchen, insbesondere die römisch-katholische, auf ihre Fahnen geschrieben. In der Abtreibungsdebatte musste der Gesetzgeber, gegen den Widerstand kompromissloser ‘Lebensschützer’, auch den Persönlichkeitsrechten (GG Art. 2,1) der Frau Rechnung tragen. In der Debatte um den Suizid ist zu fragen, welchen Stellenwert hier der Schutz des Lebens hat. Präventiv wird man gern alles tun, den Suizidwilligen von seiner Tat abzuhalten, wobei vorausgesetzt ist, es sei jedes Leben, ganz gleich, wie der einzelne es empfinden mag, erhaltenswert. Darf dabei auch sanfter Druck ausgeübt werden oder wäre das ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte? Beim Suizidversuch wird der ganze Horrorapparat der Medizin in Gang gesetzt, um das Leben des vom Tod Bedrohten zu retten, wofür der ‘Gerettete’ am Ende nicht immer dankbar sein wird.
VII.
An dieser Stelle soll eine ganz einsame und, wie sich der Autor bewusst ist, durchaus nicht beispielgebende Stimme nicht überhört werden. In unvergleichlicher Weise hat sich Jean Améry 1976 in seinem ‘Diskurs über den Freitod’[7], zwei Jahre vor seinem Suizid zu Wort gemeldet, so, dass er gegen die radikale subjektive Erfahrung des zum Suizid Entschlossenen keinen Einwand, schon gar nicht von der Wissenschaft, von Suizidforschern und Psychologen, zulässt. Amérys Essay gehört zu jenen Lektüren, die den Leser, wenn er sich darauf einlässt, nicht unverändert zurücklassen. Améry nimmt den Leser mit auf einen Weg, den man, wenn der Ausdruck hier erlaubt ist, als spirituelle Reise beschreiben kann: Er verharrt zuerst in der undurchdringlichen Finsternis des Vorhofs (‘Vor dem Absprung’), umkreist sodann das Mysterium des Todes (‘Wie natürlich ist der Tod?’), lässt die Tat dann sprachlich Gestalt annehmen (‘Hand an sich legen’), verteidigt sie gegen Zudringlichkeiten der Gesellschaft (‘Sich selbst gehören’) und endet mit dem Blick auf den Aus-Weg, der nur paradox als ‘Weg ins Freie’ beschrieben werden kann. Paradox: Denn Freiheit ist hier die ersehnte Freiheit von („Atemfreiheit“: S. 142, in unerträglicher, nicht nur physischer Bedrängnis), keine Freiheit zu etwas, als gäbe es für das Selbst, das sich doch selbst „entselbstet“ (S. 42), die Aussicht auf Ruhe und Frieden. Es ist aber der ‘Freitod’ als Freiheit vom Leben-Müssen, „ein Privileg des Humanum“, „Humanität und Dignität“ behauptend (S. 57) gegen den „échec“, was das unerbittliche Scheitern am Leben besagt (S. 55f.).
Das ist, wie Améry betont, keine „Apologie des Freitods“ (S. 11), weil von diesem „Ding“ gilt, es sei „viel zu grauenvoll, als dass man klage“ (Hofmannsthal, zit. S. 33). Von der geistigen Unerbittlichkeit des Diskurses mag der Leser eher abgeschreckt werden, so dass er Zuflucht zu bequemeren Einstellungen sucht. Ist der Mensch mit einer „Todesneigung“ (S. 90) denn nicht krank und bedarf der Heilung? Améry behauptet dagegen Evidenz in der subjektiven Erfahrung der Freiheit des zum Suizid Entschlossenen zwischen „Trennungsschmerz“ (den es natürlich gibt: S. 70) und „Serenität“; es wird die Tat seine Tat sein, wie auch andere darüber urteilen, höchstes Bewusstsein als „Exaltation“ (S. 42) und „absurder Freiheitsrausch“, absurd angesichts der „Absurdität von Leben und Sterben“ (S. 172). Die absurde conditio humana ist durchschaut, die Schleier der Illusionen fallen. So gebührt dem Suizidenten nicht ein herablassendes Verständnis, sondern, mindestens, humaner Respekt, wenn nicht Anerkennung für den geistigen Mut des Minoritären, der alles andere als ein Held ist, aber sich seinen ihn und nur ihn angehenden einsamen Weg gegen den Druck der Gesellschaft wie gegen die ihm ja nicht unvertrauten Verlockungen des Lebens erkämpft. „Anteilnahme“ sollten wir Mehrheitsmenschen ihm nicht versagen, „zumalen ja wir selber keine glänzende Figur machen“ und „gedämpft und in ordentlicher Haltung den beklagen, der uns in Freiheit verließ.“ (S. 173)
Am Ende soll noch erwähnt sein, wie Améry ungewohnt leidenschaftlich und polemisch wird, wenn es um die Einrede des Christen geht. Wenn der Christ (denn auch ihm gehört sein Leben!) sich in freier Entscheidung einem Herrn anheim gibt, der ihn leiden lässt, so mag das in gewisser Hinsicht noch Respekt verdienen. Aber dies von anderen mit dem Verweis auf einen liebenden „Vater“ zu fordern, das sei „blasphemisch“, eine Lästerung des Menschen und seiner Würde (S. 111ff.)
VIII.
Dagegen lässt sich natürlich die ‘Freiheit eines Christenmenschen’ (Luther) ins Feld führen. Für Améry ist das freilich jene fatale protestantische „Innerlichkeit“ im Sinne der „wohlfeilen Freiheit“ dessen, „der mit seinem Gott redet, vor seinem Fürsten aber ehrerbietig schweigt, bis dieser sagt: Rede, Kerl“ (S. 160). Biblisch dagegen handelt es sich bei der Freiheit eines Christenmenschen um eine Befreiungsgeschichte, durch die ein an sein Ich geketteter Mensch, ein ‘unglücksel’ger Atlas’, der „die ganze Welt der Schmerzen tragen“ muss (Heinrich Heine), dazu befreit und ermächtigt wird, in freier Selbstbestimmung sich dem Lobe Gottes zu öffnen und tätig mitzuleiden an der Not des Mitmenschen und seine Freude zu teilen. Liebend antastbar bewährt er seine unantastbare Würde als Kind des unantastbaren Gottes, der sich selbst in der Liebe tastbar und verletzlich machte (s. o. V).
Lehrreich ist das Beispiel des Paulus. Er, für den die prophetische Berufung zum Apostel ein unhintergehbares Muss ist (Notwendigkeit), erfährt gerade darin als unverwechselbares Ich die Freiheit, das Muss schöpferisch zu überschreiten. Obwohl er nach dem Gesetz Anspruch auf Entlohnung für seine apostolische Arbeit hat, bestimmt er sich frei dazu, auf diesen Anspruch zu verzichten, um durch sein Beispiel vielen anderen Raum zu geben für ihren eigenen unverwechselbaren Weg in die Freiheit eines Christenmenschen (1. Kor 9). Obwohl er von Gott angefochten ist, verleumdet von ihm Nahestehenden, krankheitsgeplagt, als Gefangener in Erwartung eines möglichen Todesurteils, zum Zeugentod für Christus freudig bereit, um ganz „bei Christus zu sein“, entscheidet er sich statt für das augenscheinlich ‘Bessere’ für das, paradox formuliert, ‘Notwendigere’, für das Leben unter den Leiden einer vergänglichen Welt in sich selbst verzehrender Liebe für andere und mit anderen (Phil 1,12-26). Unter solchen Perspektiven wäre für den ‘todesgeneigten’ Paulus ein Suizid keine Option.
Es gibt ja für den, der sich in dem von Ewigkeit zu Ewigkeit offenen Raum der Liebe, in einer Atmosphäre der schöpferischen Geistesfreiheit bewegt, ein Fortschreiten, dergestalt, dass er aus dem Gefängnis der Hölle („das sind die Anderen“: Sartre) und der Schuld nicht auszubrechen sucht, sondern die Welt verwandelt durch tätige Hingabe. Es gibt einen „Fortschritt in der Freude“ (Phil 1,25), Freude an Gottes Tun, das die Schöpfung zu ihrer Vollendung treibt. Es gibt ja über alles Menschenmögliche, über alles, was jedem als Gabe und Aufgabe anvertraut und zugemutet wird, den Gottesweg „über alles hinaus“ (1. Kor 12,31). In der unendlichen Schuld dem Anderen gegenüber erweist sich die Liebe, die alles glaubt, hofft und duldet, als das Bleibende, das niemals aufhört (1. Kor 13). Das Leben als solches ist „der Güter Höchstes nicht“, wohl aber darf sich ein Mensch im Leben wie im Sterben in die alles in ihr lebendiges Erbarmen einschließende Güte Gottes bergen.
IX.
Von daher darf gelten, dass eine sich auf Gott berufende Kirche in Sachen Suizid weder etwas zu erlauben noch zu verbieten hat. Von der Berufung auf das Dekalogverbot des Mordens, das die Verurteilung des ‘Selbstmörders’ einschlösse und immer noch die christliche Debatte hintergründig bestimmt, hat sie endgültig abzusehen. Um das Geschenk des Lebens, um das ja niemand gebeten hat, aus einer bloßen Gegebenheit zu verwandeln in ein Leben zum Lobe Gottes und zu (nie vergeblich) „Nutz und Dienst des Nächsten“, bedarf es der befreienden Gnade Gottes[8]. Wird das nicht verstanden, kann man, wie der Hannover’sche Landesbischof Meister, auch argumentieren, der autonome Mensch habe in Verantwortung Gott gegenüber auch die Freiheit, das ‘Geschenk’ bei Nichtgefallen wieder zurückzugeben.
Die unverzichtbare Aufgabe der Kirche ist dagegen zuerst und zuletzt das öffentliche Lob Gottes, des Schöpfers und Befreiers. Ohne dieses Gotteslob, das die Hingabe an die Geschöpfe einschließt, bliebe die Parole von der ‘Bewahrung der Schöpfung’, einer Schöpfung, die losgelöst von ihrem Schöpfer, ein oft genug erschreckendes Antlitz zeigt (Naturkatastrophen, Pandemien, Fressen und Gefressen werden, die eisige Unendlichkeit des Weltalls) wie der Einsatz für den ‘Schutz des (welches?) Lebens’ leer. Mit ihrem Gotteslob erstrahlt die Kirche in ihrem Dasein, Versammlung (Ekklesia) der von Gott Berufenen und in Liebe Gebundenen, als „Licht der Welt“ (Mt 5,14) und erhellt so unsere Fragestellung. Denn dieses Licht scheint auch in die Todesfinsternis des Suizidenten. Kann das christliche Gewissen den Suizid auch nicht gut heißen, so kann doch im Blick auf den allerbarmenden Gott dem Täter, der die Tat als seine Tat verantwortet, der Respekt nicht nur, sondern darüber hinaus die Anerkennung seiner Würde als Gottes Geschöpf nicht versagt werden.
X.
Ein anderes ist es, von einem Recht auf den selbstbestimmten Suizid (der ja nicht strafbar ist) zu reden, wenn damit auch das gesetzlich verbriefte Recht auf einen assistierten Suizid verbunden sein sollte. Zwar schließt das BVG aus, dass ein Arzt dazu gezwungen werden könnte. Doch hilft das dem Arzt, falls er in dieser Sache in Gewissensnot geraten sollte, nicht. Der Sterbewillige schiebt ihm ja die letzte Verantwortung für sein Ansinnen zu. Die mit der Tötung verbundene Endgültigkeit, die ja auch mit Recht als Argument gegen die Todesstrafe ins Spiel gebracht wird, zeigt sich hier als kaum zu überwindende Hürde. Der Arzt, der im Extremfall, wohl erwogen, meint, die Tat auf sein Gewissen und seine Verantwortung nehmen zu müssen, braucht sich dann allerdings für die Schuld, die er mit seiner Tat auf sich nimmt, nicht zu schämen. Der Christ weiß, dass zum Christsein auch das Schuldig-werden-Können gehört, lebt doch auch der unschuldig schuldig Gewordene von der Hoffnung auf die Vergebung durch Gott. Gerade deshalb verbietet es sich aber, von Tötung aus Gnade und Barmherzigkeit zu reden (vom Gnadentod spricht man bei einem Tier). Niemand wird durch den Tod ‘erlöst’, es sei denn durch den Tod Christi, wie der Christ bekennt. Es gibt keine Eu-Thanasie, keinen durch Menschen zu bewerkstelligenden ‘guten Tod’.
Hier gilt es, auf die Sprache zu achten und sich vor der Propagandagewalt der ‘Bilder’ zu hüten. Dem Nazi-Mord an den Behinderten ging schon vor 1933 der viel gesehene Propagandafilm ‘Ich klage an’ voraus, der das angebliche Elend von Behinderten bildgewaltig vor Augen führen und so an das ‘Mitleid’ der Zuschauer rühren sollte. Man darf den Massenmord der Nazis gewiss nicht mit der jetzigen Debatte vermischen. Aber die Pflicht, daran zu erinnern, bleibt gerade dann bestehen, wenn durch mediale Propaganda, festgemacht an Einzelfällen, mit der Mitleidstour Stimmung gemacht wird. Der Suizid, gerade auch als ‘Freitod’, bleibt, wie nicht zuletzt Améry gezeigt hat, angesichts des undurchdringlichen Mysteriums des Todes von Finsternis umhüllt. Das unverschämt gute Gewissen mancher Todesengel und professioneller Sterbehelfer wirkt abschreckend. Sollen nach dem Urteil des BVG auch öffentliche Einrichtungen (Krankenkassen?) in Pflicht genommen werden, zumal sich ja nicht jeder Sterbewillige finanziell einen Dr. med. Tod leisten kann? Politisch wird wohl angesichts der ‘Gebrechlichkeit der menschlichen Einrichtungen’ (Kleist) eine stets prekäre Balance zum Erhalt des notdürftigen Rechtsfriedens zu suchen sein.
Dem gesellschaftlichen Druck auf alte Menschen, den sie auch selbst verinnerlichen („ich will niemandem zur Last fallen“[9]) – wie will man ihn verhindern? Der sehr berechtigte Protest von Behinderten, deren Leben von ihrer Mitwelt nicht selten als ‘nicht lebenswert’ eingeschätzt wird, ist ernsthaft zu hören. Hier mag zwar nicht die Kirche als Lobby unter anderen Einfluss nehmen, wohl aber können es Politiker, die ein Gewissen, gleichviel ob christlich oder nichtchristlich, für sich in Anspruch nehmen. Eine allseits akzeptierte Selbstverständlichkeit darf der Suizid wie die Hilfe dazu nicht werden, wenngleich, wie gesagt, die Würde des die Tat, warum auch immer, begehenden Menschen als Gottes Geschöpf nicht infrage steht.
Dabei ist es auch bemerkenswert, dass „die Selbstmordrate in der entwickelten Welt trotz größeren Wohlstands, besseren Komforts und mehr Sicherheit viel höher ist als in traditionellen Gesellschaften“ (Y. N. Harari[10]). Trotz oder wegen? Kommt am Ende der „Selbstwille“ des von ‘westlichen’ Ideologien geprägten russischen Ingenieurs Kyrillow aus dem Ekel vor einer Welt, die dem Gott-sein-wollenden Selbst niemals genügen kann? Ahnt er womöglich, dieses Selbst sei nur das Schattenbild eines wahrhaft freien Ich, das sich selbst zu bestimmen vermag zu einem Leben, das aus göttlicher Fülle schöpft, zum ewigen Leben (Joh 1,16; 10,11; 12,50)?
XI.
Von Jochen Klepper (1903-1942) soll abschließend die Rede sein. Ende der fünfziger Jahre erwähnte ich als junger Münchener Vikar seinen Namen in einer Predigt und nannte ihn einen Glaubenszeugen. Der meine Predigt amtlich abhörende Dekan (Theodor Heckel) erklärte mir anschließend, das dürfe ich in einer Predigt nicht sagen, schließlich habe Klepper ‘Selbstmord’ begangen. Später fand ich die herablassende Haltung mancher Intellektueller (z. B. Rita Thalmann[11]) abstoßend, die Kleppers von jeher bestehende Todesneigung und resignative Lebenshaltung für seine mangelnde Widerstandskraft gegenüber dem Nationalsozialismus verantwortlich machten. Gerade die Lektüre von Amérys Diskurs könnte eine andere Lesart nahelegen: Kleppers Selbsttötung zusammen mit seiner Familie im Bewusstsein der Schuld im Angesicht des vergebenden Gottes wäre dann – auch! – als Glaubenszeugnis zu würdigen, ein Akt des Widerstandes gegen den Teufel, Zeichen des Willens, seine Reni nicht dem braunen Moloch zum Fraß hinzuwerfen. Gottes Kraft in menschlicher Schwachheit. Die Kirche hat dem Verzweifelten in seiner Gewissensnot nicht beigestanden und kein Recht, über ihn zu urteilen. Aber die Gemeinde, die seine Lieder zu ihrer Stärkung und Tröstung singt, würdigt ihn, auch in seiner Tat, dankbar für sein lebenslanges Mühen um das Wort des Lebens, das die Finsternis durchdringt in Klage und Lobgesang „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ (Ps 113,3). Und in dem strahlenden Mittagslied ‘Der Tag ist seiner Höhe nah’ (EG 457) erscheint dem, der „zur Höhe“ aufblickt, die Fülle der Schöpfung. „Er segnet, welche Schuld auch trennt, die Werke deiner Hand.“ (Strophe 10). „Sein guter Schatz ist aufgetan, des Himmels ewges Reich. Zu segnen hebt er täglich an und bleibt sich immer gleich.“ (Strophe 9)
ER. GOTT.
Abgeschlossen am 2. Februar 2021
[1] Z. B. G. Thomas, Von der Barmherzigkeit, einem gnadenlos vernichtenden Urteil zu widersprechen, 2021, S. 1-10 (Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Evangelische Theologie)
[2] ‘Friendly f’ire’ nennt G. Thomas (s. o. Anm.1, S. 1) den Vorstoß ‘namhafter’ Theologen, des Sozialethikers Rainer Anselm, der Praktischen Theologin Isolde Karle, nicht zuletzt des Präsidenten der Diakonie Deutschland Ulrich Lilie (auch des Hannover’schen Landesbischofs Ralf Meister) in einem Artikel der FAZ vom 11. Januar 2021, auch in kirchlichen Einrichtungen „Möglichkeiten eines assistierten Suizids … anzubieten oder zumindest zuzulassen und zu begleiten“. Als einer der größten Arbeitgeber in Deutschland erschließt sich hier die Evangelische Kirche – hochprofessionell und qualitätsbewusst, wie Kirchenleute im Unterschied zu anderen Sterbehelfern offenbar sind – ein neues Geschäftsfeld. Dass der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm sich von dem Vorstoß distanziert, auch aus ökumenischen Gründen, lässt freilich offen, unter welch starkem Druck er seitens eines ‘fortschrittlichen’ Protestantismus steht.
[3] s. D. Grossman, Löwenhonig. Der Mythos von Samson, aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Mir-Bleimling, dtv, München 2007.
[4] Zu der Formulierung „ward seine Seele betrübt bis in den Tod“ – watiqzar naphscho lamut – in Ri 16,16 vgl. Grossman (s.o.Anm. 3), S. 107: „Diese Formulierung findet sich an keiner anderen Stelle in der Bibel.“
[5] F. Dostojewskij, Böse Geister. Roman. Aus dem Russischen von Swetlana Geier, Fischer Taschenbuch Verlag, 4. Auflage, Frankfurt/M. 2006.
[6] U. Di Fabio, Einführung, in: GG Grundgesetz. Menschenrechtskonvention u. a., Beck-Texte im dtv, 43. Auflage, München 2011, S. VII-XVIII.
[7] J. Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976. Ein Hinweis auf das Schicksal des der Folter entronnenen Auschwitzüberlebenden Améry würde die Klarheit des Diskurses verwirren, der darauf (bewusst?) keinen Bezug nimmt. Über die Situation des Opfers und von Hitler zum Juden ‘Gemachten’ hat sich Améry anderswo eindrücklich geäußert, z. B. in ders., Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977.
[8] Vgl. die zweite Strophe des Kirchenliedes von Martin Schalling (1532-1608) ‘Herzlich lieb hab ich dich, o Herr’ (Evangelisches Gesangbuch/ EG 397): „Es ist ja, Herr, dein G’schenk und Gab mein Leib und Seel und was ich hab in diesem armen Leben. Damit ich’s brauch zum Lobe dein, zu Nutz und Dienst des Nächsten mein, wollst mir dein Gnade geben.“
[9] Wie man in einem neueren Kirchenlied – in Gegenwart von Alten und Behinderten – singen lassen kann: „Hilf, Herr meiner Tage, dass ich nicht zur Plage … meinem Nächsten bin“, bleibt mir unbegreiflich. Zweite Strophe des Liedes ‘Hilf, Herr meines Lebens’ von Gustav Lohmann (1876-1967) in: EG 419.
[10] Y. N. Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, 6. Auflage, München 2017, S. 50.
[11] Rita Thalmann, Jochen Klepper. Ein Leben zwischen Idyllen und Katastrophen, München 1977.