Hermann Diem (02.02.1900-27.02.1975)
Von Martin Honecker
Hermann Diem hat nicht nur einen bemerkenswerten Lebenslauf, sondern er führte auch eine sehr facettenreiche theologische Existenz. Diem entstammte einer Stuttgarter Handwerkerfamilie, einer Küferfamilie. Nach kurzer Lehrzeit kehrte er zurück in die Schule, machte Abitur und studierte 1919 bis 1923 Theologie als Stiftler. Nach dem 2. theologischen Examen 1927 und mehreren Stationen im unselbständigen Dienst wurde er 1930 bis 1934 hauptamtlicher Religionslehrer an der Hohenstaufenschule in Göppingen. Als er aus dem staatlichen Schuldienst aus politischen Gründen ausscheiden musste, war er danach von 1934 bis 1956 Pfarrer in Ebersbach. 1957 wurde Diem auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie in Tübingen berufen; er war 1964/65 Rektor der Universität Tübingen.
Diem ist in Württemberg vor allem bekannt geworden als Sprecher der Sozietät (offiziell seit 1936). Die Sozietät war zunächst ein Freundeskreis gleichaltriger und gleichgesinnter Theologen, die sich vom Studium her kannten. 1930 trat dieser Kreis erstmals öffentlich hervor durch eine kritische Eingabe an den Landeskirchentag – so nannte man damals im Schwabenland die Synode – zum neuen Kirchengebetbuch. Im April 1933 wandte sich dieser Kreis mit einem Votum „Kirche und Staat. Ein Wort württembergischer Pfarrer zur kirchlichen Lage“ an die Öffentlichkeit. Dieses Votum markiert den Beginn des innerkirchlichen Widerstandes. Diem und seinen theologischen Freunden ging es um die Substanz der Kirche. Der Oberkirchenrat unter dem Landesbischof Theophil Wurm hingegen lavierte 1933 und 1934 zwischen den kirchlichen Gruppierungen. 1933 wurde bei den Kirchenwahlen eine Einheitsliste für die Wahl zur Synode erstellt, auf der die Anhänger der Deutschen Christen die Mehrheit bildeten. Eine echte Wahl fand zudem nicht statt. Allerdings trat der Landeskirchentag auch vor Kriegsende nicht mehr zusammen! Diem und seine theologischen Freunde stellten sich dagegen entschieden auf den Boden der Bekennenden Kirche. Sie traten uneingeschränkt für die Barmer Theologische Erklärung und für das von der Dahlemer Synode (19.–20.10.1934) proklamierte kirchliche Notrecht ein. Dadurch traten sie nicht nur in Gegensatz zu den Deutschen Christen, sondern gerieten auch in Opposition zum offiziellen Kurs des Oberkirchenrats.
Der Oberkirchenrat suchte nach allen Seiten zu vermitteln. Die „Bekenntnisgemeinschaft“ vertrat zwar auch die theologische Orientierung der bekennenden Kirche, kritisierte den politischen und kirchenpolitischen Kurs des Oberkirchenrats jedoch nicht öffentlich. Die Sozietät geriet hingegen in eine Reihe von Konflikten mit Stuttgart. Sie repräsentierte eine radikalere Position. So lehnte sie die Beteiligung an den Kirchenausschüssen ab, ebenso die Ableistung eines Eides der Pfarrer auf den Führer. Wegen der Kritik am Pfarrereid wurde Diem als Pfarrer suspendiert. Post festum erklärte die Partei dann, ihr sei der Eid der Pfarrer nicht wichtig. Noch gravierender und schärfer waren die Auseinandersetzungen der Sozietät mit der Kirchenleitung im Fall von Paul Schempp, die 1938 mit der Entlassung von Schempp aus dem Kirchendienst endeten. Ebenso beteiligte sich die Sozietät nicht am kirchlichen Einigungswerk von Wurm in den Kriegsjahren. Nach Kriegsende blieb die Sozietät Opposition. Keines seiner führenden Mitglieder wurde in Württemberg „etwas“.
Besonders zu erwähnen ist Diems Widerspruch gegen das Schweigen in der Judenfrage. Er kritisierte, dass man auch in der Kirche die Judenfrage nicht theologisch als Glaubensfrage verstand, sondern als Rassenfrage behandelte. Als Diems Eingaben an den Oberkirchenrat nicht beantwortet wurden, verfasste er zu Ostern 1943 einen Brief, der als „Laienbrief“ an den Münchner Landesbischof Meiser gerichtet und von einigen Freunden Diems mit unterzeichnet wurde. Auch hier geschah nichts. Das Problem des Antisemitismus beschäftigte Diem auch nach 1945. So publizierte er eine kleine Schrift, „Das Rätsel des Antisemitismus“ (TEH NF 80, 1960), und eröffnete eine Tübinger Ringvorlesung über „Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus“ 1965 mit einem Vortrag über „Kirche und Antisemitismus“.
Die Erfahrungen des Kirchenkampfes prägten ferner Diems Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht; er selbst sprach freilich lieber von Kirchenordnung. Die Erfahrungen im Kirchenkampf lenkten Diems Aufmerksamkeit auf das Kirchenrecht. Recht war für ihn nicht ein äußerliches Ding, das den geistigen und geistlichen Gehalt letztlich nicht berührt. In der Kriegsgefangenschaft in Italien entstand die Programmschrift „Restauration oder Neuanfang in der evangelischen Kirche?“, 1946. Diem entwarf damals einen konsequenten Neuaufbau der Kirche von unten, von der Gemeinde her. Dies war ein erkennbarer Gegensatz zu einer 400-jährigen württembergischen Tradition mit einem kirchlichen Zentralismus und einer Behördenkirche von oben. Die Schrift hat damals zu keinen Reformen geführt.
Er lehnte auch die Konvention von Treysa 1945 ab, in der sich die Bischöfe der intakten Kirchen mit den Bruderräten auf eine Neuordnung der deutschen evangelischen Kirche weitgehend auf der Grundlage der bisherigen Rechtsordnung geeinigt hatten. Die Kirchenverwaltung blieb dadurch unverändert. Ebenso übte er Kritik an der Durchführung der Entnazifizierung in der Kirche. Diem betonte die Stellung der Kirchengemeinde in der kirchlichen Rechtsordnung. Statt einer amtlichen Leitung plädierte er für die Ausübung der Visitation. Die damalige Konzeption von Lebensordnungen, in denen fast kasuistisch Vorgaben für die Lebensführung eines Gemeindegliedes vorgegeben wurden, sah er kritisch und trat stattdessen für eine durch die Gemeinde von Fall zu Fall auszuübende Kirchenzucht ein. Solche Vorschläge kamen damals nicht zum Zug. In den 60er Jahren arbeitete er als Vertreter der Tübinger Fakultät in der Synode mit an der Neufassung der Wahlordnung. Anders als das in den altpreußischen Kirchen übliche System der Filterwahl, wonach Presbyterien Vertreter in die Kreissynode entsenden und die Kreissynode den Landessynodalen wählt, trat er ein für die Urwahl zur Landessynode. Diese kirchenrechtlichen Vorstellungen waren Reformforderungen. Allerdings bedachte er nicht zureichend, dass Kirchenrecht immer ein Produkt der Kirchengeschichte ist und daher der kirchengeschichtliche und geschichtliche Ort einer Neuordnung jeweils mitzubedenken ist. Auch das Gewicht der Tradition und des Bewährten sind erheblich.
Bemerkenswert ist, wie Diem der Übergang vom innerkirchlichen Sprecher der Opposition, der Sozietät, zum akademischen Lehrer gelungen ist. 1951 erhielt er einen Lehrauftrag an der evangelischen Fakultät der Universität Tübingen, 1957 wurde er auf einen Lehrstuhl für Systematische Theologie berufen, von diesem wechselte er 1964 auf einen neugeschaffenen Lehrstuhl für Kirchenordnung. Am Anfang der akademischen Laufbahn stand freilich ein Unfall. 1929 hat Diem ein Buch zu Kierkegaard veröffentlicht: „Philosophie und Christentum bei Sören Kierkegaard“. Mit dem gedruckten Buch wollte er in Tübingen den Doktorgrad erwerben. Dabei scheiterte er zweimal im Rigorosum. 1951 erhielt er die Würde eines Ehrendoktors der Universität Göttingen. Diem hat sich immer wieder mit Kierkegaard beschäftigt. Dabei betonte er, dass Kierkegaard als existierender Denker zu verstehen sei, wohingegen das philosophische Programm eines existentiellen oder existentialen Denkens ihm fern lag. Der Einfluss Kierkegaards wirkte sich durchaus auch auf sein theologisches Denken aus. Kierkegaard schützte ihn gegen einen starren Dogmatismus, dem manche Barthianer huldigten und verfielen. Auf der anderen Seite erkannte er durchaus die Grenzen der Bedeutung Kierkegaards für die Theologie. Diems Verständnis der Predigt unterscheidet sich nämlich signifikant von Kierkegaards Programm seiner religiösen Reden, mit denen dieser die Menschen in das Wahre hinein betrügen wollte.
Die besondere Aufmerksamkeit Diems galt zeitlebens der Predigt; dabei stellte er auf die an die Schrift gebundene Textpredigt ab. (Vgl. Warum Textpredigt? Predigten und Kritiken als Beitrag zur Lehre von der Predigt, 1938). Das Hauptwerk Diems ist seine dreibändige Enzyklopädie, eine Einführung in die Grundprobleme der Theologie überhaupt. Der 1. Band trägt den Titel „Theologie als kirchliche Wissenschaft“, 1951. Dieser Titel ist nicht unproblematisch. Denn „kirchliche“ Wissenschaft kann auch so verstanden werden, dass Theologie unter kirchlicher Aufsicht steht. Das ist das römisch-katholische Verständnis, wonach das kirchliche Lehramt der Theologie die Maßstäbe vorgibt und deren Einhaltung kontrolliert. Diem grenzte sich in allen Bänden zwar entschieden von Rom ab. Er verstand das „kirchlich“ als eine kritische Aufgabe der Theologie gegenüber der Kirche. Aber es bleibt die Gefahr der Missdeutung. Denn es ist zwar sicherlich nicht zu bestreiten, dass es ohne die Existenz von Kirche und ohne kirchliche Überlieferung keine Theologie geben würde. Jedoch ist einzuschränken, dass damit nicht unbedingt die Bindung an eine Konfessionskirche zu verstehen ist. Auch greift Theologie, so sie wirklich wissenschaftlich arbeitet, immer auch über den umgrenzten Raum der konfessionellen Kirchentümer hinaus und bezieht sich auf das Gesamtphänomen des Christentums und damit auch auf Kultur.
Das Zentrum von Diems Theologie bildet der zweite Band „Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus“, 1955, 3. Aufl. 1960. Der Untertitel benennt eine Ortsangabe. Diem lehnt eine Auflösung einer verbindlichen Dogmatik in eine ganz objektive Darstellung der Theologiegeschichte ab und damit das Programm einer neuprotestantischen Überführung der dogmatischen Tradition in Geistes- und Ideengeschichte. Andererseits grenzt er sich ebenso ab gegen eine Transformation des dogmatischen Denkens in eine bloße Beschreibung existentieller Erfahrungen und in Existenzdialektik. Damit ist Diems Position gekennzeichnet. Zentral ist für ihn die Klärung des Verhältnisses von Dogmatik und Exegese. Immer wieder reflektiert er dabei Themen wie die Frage, was in der Verkündigung schriftgemäß ist, das Problem des Kanons, die Frage der Einheit der Schrift und die Aufgabe der Hermeneutik in der Schriftauslegung. Die Schriftauslegung ist nach ihm der theologische Ort des dogmatischen Denkens. Dabei zielt er auf den gegenwärtigen Vollzug der Verkündigung als Schriftauslegung. Der Verkündigung unter- und nachgeordnet ist die Lehre und die Überlieferung der Lehre.
Zum anderen bemühte sich Diem gleichzeitig darum, zwischen den Schülern Karl Barths und den Anhängern Rudolf Bultmanns eine Brücke zu schlagen. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Theologie Rudolf Bultmanns, vor allem um das Entmythologisierungsprogramm, schlugen in der Nachkriegszeit große Wellen. An dem Streit über die Alternative Barth oder Bultmann auf einer Tagung in Pfäffingen bei Tübingen am 29. 6. 1951 zerbrach auch die Sozietät. Diem suchte freilich unverändert nach einer Verständigungsbasis zwischen Barthianern und Bultmannianern. Dabei kam es ihm auch darauf an, die historisch-kritische Schriftauslegung mit der dogmatischen und theologischen Wertung zusammenzubringen. Deshalb schaltete er sich auch in die Debatte der 50er Jahre um den historischen Jesus ein. Eine Lösung fand er in der Programmformel der „Geschichte von Jesus Christus, der sich selbst verkündigt.“ Ob und wieweit diese Formulierung allerdings historischer Kritik standhält, blieb strittig.
Der dritte abschließenden Band „Die Kirche und ihre Praxis“, 1963, stellt die Ekklesiologie in ihren klassischen Themen dar, wie das Verständnis von Kirche, das evangelische Verständnis des Gottesdienstes, Taufverkündigung und Taufordnung, Predigt, Abendmahl, das Amt in der Kirche. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf das Recht Gottes und die Ordnung der Kirche. Erwähnenswert ist die Widmung „Der evangelischen Landeskirche Württemberg“. Diems praktische Theologie ist vor der empirischen Wende in der Theologie geschrieben und sie argumentiert ausschließlich mit theologischen Überlegungen, insbesondere unter Rückgriff auf das biblische Zeugnis. Sozialwissenschaftliche Analysen lagen ihm fern.
Diem ging es schließlich auch um ein Gespräch zwischen kritischer Universitätstheologie und Gemeindefrömmigkeit. In Württemberg war die historisch-kritische Bibelauslegung seit jeher umstritten. Diem stellte sich der Herausforderung, das Recht kritischer Theologie gegen die Berufung auf eine Gemeindefrömmigkeit und gegen deren Anrecht, nicht durch theologische Kritik in Frage gestellt, beunruhigt und verunsichert zu werden. In einer gemeinverständlichen Schrift „Theologie in der Gemeinde“, 1963, sowie in einer Disputation mit Gerhard Bergmann, einem Sprecher der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, 1967, stellte er sich dieser Aufgabe.
Ohne Vollständigkeit der theologischen Tätigkeit Hermann Diems zu beanspruchen, zeigt sich, wie vielfältig seine Tätigkeit und sein Werk waren und sind. Man kann mancherlei Anfragen daran haben. So findet beispielsweise bei ihm die Theologiegeschichte wenig Aufmerksamkeit. Auch er stand, wie viele seiner Zeitgenossen, unter dem Eindruck des von der Bekennenden Kirche verhängten Bannes über den Neuprotestantismus. Mit der Konzentration auf die Predigt als dem Grundgeschehen von Kirche war seine theologische Arbeit fast ausschließlich an der Kirche und ihrer Praxis orientiert. Die Auswirkung von Theologie und Christentum auf die Kultur trat dagegen deutlich zurück. Deswegen interessierte ihn Ethik auch nur marginal. Der württembergischen Kirche war er – trotz oder vielleicht sogar wegen mancherlei Auseinandersetzungen und Konflikten – sehr stark verbunden. Die Kirche hat es ihm nicht zu allen Zeiten gedankt. Hermann Diem war eine originelle und faszinierende Persönlichkeit. Dabei hatte er Ecken und Kanten, die es anderen im Umgang mit ihm nicht immer leicht machten. Auch wer inzwischen Diems Position nicht mehr in allem inhaltlich teilt, wird sich immer mit Respekt an die Integrität und Unbeirrbarkeit seines theologischen Engagements erinnern.
Dr. Martin Honecker, geboren 1934, Studium der ev. Theologie 1953 -1957 in Tübingen und Basel, 1960 Promotion und 1965 Habilitation, beides in Tübingen als Assistent von Hermann Diem, 1961-1964 Repetent am ev. Stift in Tübingen, 1969 – 1999 Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der Ev.-theol. Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 1999 emeritiert, lebt in Bonn.
Quelle: Für Vielfalt und Gerechtigkeit – mit Profil und Biss. 40 Jahre OFFENE KIRCHE, herausgegeben von Ulrike Stepper, November 2012, S. 20-27.