
Zehn Jahre nach dem Tod von Paul Schneider im Konzentrationslager Buchenwald wurde am 17. Juli 1949 in Wankheim bei Tübingen ein Gedächtnisgottesdienst gefeiert. Dabei hielt Paul Schempp folgende Predigt:
Predigt über Jeremia 15,19-21 im Gedächtnis an Paul Schneider
Darum spricht der HERR also: Wo du dich zu mir hältst, so will ich mich zu dir halten, und du sollst mein Prediger bleiben. Und wo du die Frommen lehrst sich sondern von den bösen Leuten, so sollst du mein Mund sein. Und ehe du solltest zu ihnen fallen, so müssen sie eher zu dir fallen. Denn ich habe dich wider dies Volk zur festen, ehernen Mauer gemacht; ob sie wider dich streiten, sollen sie dir doch nichts anhaben; denn ich bin bei dir, daß ich dir helfe und dich errette, spricht der HERR, und will dich erretten aus der Hand der Bösen und erlösen aus der Hand der Tyrannen.
Von Paul Schempp
Ist Jesus vom Tod auferstanden oder nicht? Ist er auferstanden, dann hat Gott sein Versprechen an Jeremia gehalten, dann ist er mit ihm gewesen, ihm zu helfen und ihn zu erretten. Dann hat er ihn errettet aus der Hand der Bösen und erlöst aus der Hand der Tyrannen, wie er versprochen hat. Ein Ausleger nennt Jeremias Leben einen erschütternden Beweis für die Tragik der Gotteszeugen. Jeremia war wegen Gotteslästerung angeklagt und mit dem Tode bedroht, er ist Mordanschlägen gerade noch entgangen, er hatte Redeverbot und Verbot, den Tempel zu betreten, er wurde gegeißelt, lange gefangen gehalten, in eine wasserlose schlampige Zisterne geworfen und schließlich mit Gewalt nach Ägypten verschleppt. Schmerz und Einsamkeit war sein Leben, Spott und Haß seine Ernte. Das wurde auch nicht anders, als die Ereignisse ihm und seinen Prophezeiungen recht gegeben hatten. Wo blieb auch die Erfüllung des göttlichen Versprechens? Ist es eingetreten, daß die Feinde ihm eher zufallen werden als er ihnen, daß er eine unbesteigbare, eherne Mauer sein werde, daß sie ihn nicht überwältigen werden? Vergeblich war sein Reden, Kämpfen, Leiden.
Niemand hat das Recht, den Anwalt Gottes zu spielen und zu sagen: Gott hat sein Wort treulich gehalten, nur mit dem Hinweis darauf, daß ja die Werte Jeremias erhalten geblieben sind und sicher später bei manchen Juden Glauben gefunden haben. Was nützt das Jeremia oder auch Sokrates oder der Jungfrau von Orleans, wenn die Nachwelt ihnen recht gibt, nachdem die Mitwelt ihr Nein und ihr Verdammungsurteil gesprochen hat? Die Nachwelt hat es ja so leicht, die Rollen zu vertauschen und die Parteien zu wechseln. Die Toten wehren sich nicht. Da hat man ja bloß den Vorteil, sich erhaben dünken zu dürfen über den Unglauben, die Blindheit und Grausamkeit vergangener Zeiten und zu meinen, hätten wir damals gelebt, wir hätten die Stimme und Warnung Gottes erkannt und wären unbestechliche Gegner der öffentlichen Meinung geworden. Luther hat anders gedacht über die gehässige und erfolgreiche Art der Unschädlichmachung Jeremias durch seine Feinde. Er sagt: »Hätte ich zur Zeit des Propheten Jeremia gelebt, ich hätte ihm den Kopf eingeschlagen«.
Es ist doch auch wahr, wer Jeremias Worte liest, der muß sich sagen: Das waren harte Reden, so unentwegt über die weltliche und geistliche Obrigkeit zu schimpfen, so allem national-gläubigen Widerstand gegen die babylonischen Landesfeinde entgegenzutreten, so direkt dem eigenen Volk eine furchtbare Katastrophe als reichlich verdient vorherzusagen, das geht gegen die Würde der Kirche, gegen die Liebe zum Glaubensgenossen, gegen die durch Jahrhunderte geheiligte Ordnung, gegen die Ehre der von Gott eingesetzten geistlichen und weltlichen Führer. Wie hat er gewettert, wie anmaßend war sein Auftreten, wie unbequem und überspitzt waren seine Forderungen, wie unklug seine maßlose Kritik, wie anstößig für alle Gutgesinnten und Aufbauwilligen seine radikalen Urteile und Drohungen.
Nein, wenn uns etwas wundern kann, dann ist es die große Geduld, mit der man ihn so lange reden ließ, die Scheu, ihm offen den Prozeß zu machen, der Respekt, den er trotz allem auch genoß. Was uns aber nicht wundern sollte, ist der Haß, dem Jeremia begegnete, die Verstockung, die Lüge, die scheinheilige Empörung, die sein Leben zur Qual, seine Person zum Freiwild, sein Wort zum Gegenstand des Spottes gemacht hat. »Wundert euch nicht, wenn auch die Welt haßt«, hat Jesus seinen Jüngern gesagt, und die Bibel gibt eine lange Kette von Beispielen dazu, von Abel bis Paulus. So ist Jeremia auch nur ein Beispiel der Regel, daß die Zeugen des Wortes von ihren Hörern zum Leiden verurteilt werden. Es muß ja an den Tag kommen, daß der Mensch von Natur geneigt ist, Gott und den Nächsten zu hassen, wie der Heidelberger Katechismus so unmißverständlich behauptet, allen frommen Reden von heimlicher Sehnsucht nach Gott und dem Nächsten zum Trotz.
Aber es ist zweierlei, ob man diese biblische Regel anerkennt, ob man die Beispiele dieser Regel bewundert und bemitleidet, ob man die Opfer dieser Regel mit aufrichtiger Zustimmung rechte Wahrheitszeugen heißt, oder ob man diese Regel im eigenen Leben gelten läßt, ob einem der eigene Glaube, die eigene Liebe, die eigene Hoffnung verdächtig werden, wenn da im Widerspruch zu dieser Regel Gottes Wort nicht den leisesten Anstoß erregt. Man kann diese biblische Regel ganz begreiflich finden, so begreiflich und durch viele Erfahrung bestätigt, wie den Satz, daß der Ehrliche der Dumme ist, aber wenn es ernst wird, wenn wir selbst unter die Regel fallen sollen, wenn an uns wahr werden soll, daß die Kinder Gottes leiden müssen, dann finden wir diese Regel plötzlich recht unbegreiflich und wehren uns dagegen und sind überzeugt, daß Gott es gar nicht haben will, daß man um seines Wortes willen Nachteil leiden soll.
Wenn uns ohne unser Zutun ein Schicksalsschlag trifft, da kann man sich schon eher trösten und trösten lassen und sich in das Unvermeidliche fügen und es als Gottes Willen anerkennen, aber so direkt gerade deshalb leiden müssen, weil man einen Auftrag Gottes ausführt, das ist im Ernstfall doch eine ganz bittere Sache. Da ist ja nicht bloß der Mensch selber übel dran, sondern da ist doch eigentlich Gottes eigenes Wort blamiert und unglaubwürdig.
Da soll einer predigen: »Wenn ihr Gott gehorcht, so soll es euch wohl gehen und Gott wird euer Helfer und Retter sein, wenn ihr aber bleibt, wie ihr seid, dann wird euch Gottes Strafe treffen« – und die Wirklichkeit ist gerade umgekehrt. Am Prediger selber kann man das Gegenteil sehen, ihn trifft alles Unglück, und seine Gegner haben Glück und Lebenserfolg auf ihrer Seite. Jeremia hat gar nicht gesagt: das begreif ich wohl, daß man als Prophet von Unglück und Leid verfolgt ist, dem David und Mose und Joseph ist’s ja auch so gegangen. Nein, er hadert mit Gott, er ist empört, er ist mit Gott ganz und gar unzufrieden und beschwert sich bei ihm. Wozu denn reden, wenn’s keinen Wert hat, wozu denn widersprechen, wenn man doch nichts erreicht, wozu denn sagen, Gott straft, wenn er doch nicht straft, und wozu sagen: »Gott hilft«, wenn er doch nicht hilft.
Unglück haben, mit dem eigenen Willen nicht durchkommen, die Wünsche vereitelt sehen, das kann man noch verschmerzen, aber von Gott im Stich gelassen zu sein, wenn man doch seinen Auftrag erfüllt, von ihm enttäuscht sein, und gar keine Bestätigung und Hilfe erfahren, das ist ein bitteres Rätsel. Jeder Konfirmand hat es gelernt, daß Jeremia mit Gott gehadert hat, daß er seine Geburt verflucht hat, daß er Gott Vorwürfe gemacht hat. Wir halten das alles für eine Schwäche, für eine vorübergehende Anfechtung, wir glauben wohl, diesen armen, geplagten, einsamen Mann zu begreifen, wir sind erschüttert von dieser Tragik und sind überzeugt, daß Jeremia auch immer wieder Halt und Zuversicht gefunden hat, und wissen ja auch, daß er ausgehalten hat, bis zum bitteren Ende.
Und so kommt’s zu Mitleid und Bewunderung, wenn wir Jeremias Aufzeichnungen lesen. Da steht die Persönlichkeit des Propheten als eines Heiligen und Märtyrers vor uns. Ganze Bücher kann man über diesen Mann Gottes schreiben, und wer denken und dichten kann, wird es sich leicht ausmalen können, wie heldenmütig Jeremia vor dem Volk und vor den Großen dagestanden ist, wie er die Laster aufdeckt, die Heuchelei gestraft, die Religion seiner Zeit als Götzendienst, die Vaterlandsliebe als fanatischen Egoismus und als Überheblichkeit entlarvt hat, aber auch, wie er geseufzt hat und gelitten, geheult und gebetet, wie empfindsam sein Herz war und wie er mit Gott und der Verzweiflung gekämpft hat.
So können wir es nun heute auch machen im Gedenken an den Zeugen der Bekennenden Kirche, der vor zehn Jahren in Buchenwald ermordet wurde oder vielmehr dessen langsame Monate dauernde Marterung am 18. Juli 1939 endlich mit der tödlichen Einspritzung beendet wurde, Paul Schneider. Man kann mit Bewunderung und Mitleid seine Lebensgeschichte lesen oder sich erzählen lassen: das Leiden des Kindes unter der Strenge des Vaters, die inneren Anfechtungen während des Studiums, den Idealismus seiner Jugend, die freiwillige Arbeit im Bergbau, die Wandlung zum Glauben, die Hingabe an den Dienst unter den Armen in der Berliner Stadtmission, die Treue im ersten Pfarramt, den Eifer für Zucht und Entschiedenheit, die vergeblichen Versuche, sich gegen Verleumdung und Verdrängung durchzusetzen, die Redefreiheit gegen Irrlehren, Verhetzung, die Standhaftigkeit gegen geistliche und weltliche Behörden, die Anfechtungen durch die Widerstände und die Unruhen in der eigenen Gemeinde, das Bestehen auf der Bußzucht, das Ertragen der Verhaftungen und Strafen, die unermüdliche Arbeit, die Leidenszeit im Krankenhaus, die Ausweisung und die mutige Rückkehr, und dann der Abschied und die Fortsetzung des Zeugendienstes im Konzentrationslager, ja sogar im Bunker und Arrest, und endlich das Erdulden der furchtbaren Marterungen, die über ein Jahr dauerten und bei denen beides unfaßlich ist, die Tatsache, daß es solche Teufel gab, und die Tatsache, daß Schneider diese Hölle so lange lebend erdulden konnte.
Das kann uns ans Herz greifen und erschüttern, kann uns helfen, etwas mutiger und etwas weniger wehleidig in unserem Leben zu sein und kann uns auch ein wenig Hochachtung vor der Kirche eintragen, die heute noch solche Glaubenszeugen hat. – Aber vergessen wir nicht, Helden und Dulder gibt es genug und die unschuldigen Opfer der Niedertracht nach Millionen. Daran gemessen ist die Zahl der Blutopfer der Bekennenden Kirche erstaunlich klein. Auch unter uns sind solche, die schon Schlimmes erlebt und erduldet haben, und sind sicher auch solche, die schon in mancher Lage sich mutig gezeigt haben. Aber das zählt gar nicht hier in der Gemeinde. Da könnten uns auch Indianer am Marterpfahl oder die tapferen Griechen und Römer Vorbild sein. Das allein zählt, ob Leben, Kämpfen, Leiden Zeugnis von Gott ist, ob man sehen kann: Das ist vom Herrn geschehen, das ist der gute, gerechte heilige Wille Gottes, und hier ist ein Mensch Mund und Zeuge Gottes für uns.
Daß Jeremia damals vor 2500 Jahren Zeuge Gottes war, daß Paul Schneider damals vor zehn Jahren Zeuge und Prediger Gottes war, das ist nicht schwer zu glauben, dem widerspricht heute kaum jemand, aber ob sie uns heute Prediger Gottes sind, ob wir heute ihr Zeugnis als Gottes eigenes Wort hören, ihm glauben und gehorchen, das allein entscheidet. Von Zeugen Gottes kann man kein Jubiläum feiern wie von Goethe. Einen Dichter oder Staatsmann kann man feiern, weil er für seine Zeit ein großer Mensch war und vielleicht dieses oder jenes seiner Worte und Leistungen heute noch Bedeutung hat, aber mit einem Zeugen Gottes ist es anders. Der bezeugt ja Gottes Wort, das Eine Wort Gottes, das für alle Zeiten und alle Menschen gilt, da kann man nicht sagen: Ja damals für seine Mitmenschen, für sein Volk und seine Zeit war er Gottes Zeuge und Prediger, aber heute und uns hier gilt das nicht mehr oder bloß noch zum Teil. Nein, war Jeremia Gottes Prophet, so ist er es heute noch wie damals, dann gilt sein Zeugnis heute wie damals, dann gilt es uns, was er bezeugt, wofür er gelitten und gekämpft hat. Da kann man bloß hören und glauben oder nicht hören und nicht glauben und trotz aller Bewunderung und trotz allem Mitleid doch leugnen, daß er Gottes Zeuge ist. Das Gleiche gilt für Paul Schneider.
Quelle: Paul Schempps Iptinger Jahre 1933-1943. Briefe und Predigten, Protokolle und Polemiken, hrsg. v. Matthias Morgenstern, Tübingen: TVT, 2000, S. 323-330.