Siegfried Lenz über den Schmerz: „Der Schmerz als Erlebnis ist mehrdimensional, er ist nicht nur ein Problem, sondern auch ein Geheimnis.“

Über den Schmerz

Von Siegfried Lenz

Jeder kennt seine Wirkung, jeder weiß, wozu er uns bringen kann. Wir schreien, wimmern und weinen vor Schmerz, wir stöhnen und ächzen, jammern und klagen, zittern und beben, der Schmerz verschlägt uns die Sprache und läßt uns tanzen, er läßt uns hadern und zerreißt uns, er entstellt uns und – Heinrich Heine hat’s gesagt – verklärt uns mitunter. Es ist klar, eine Empfindung, die sich, wie die Sprache belegt, so variationsreich manifestiert, hat zahlreiche Aspekte, sensorische nicht weniger als emotionelle. Psychologie und Neurologie, Anästhesie und klinische Medizin haben uns das Funktionssystem des Schmerzes verstehen gelehrt. In dem Wunsch, den pathologischen Schmerz zu lindern oder zu beseitigen, haben auch die Pharmakologie und die Physiologie ihren Beitrag geleistet. Einer eigenen Schmerzforschung verdanken wir die Kenntnis von Rezeptoren und Mediatoren, die, sobald sie durch nervliche oder chemische Reize in Erregung geraten, die Informationen an unser Gehirn weiterleiten. Sie gelangen dorthin über unsere Rückenmarksbahnen, die ein Geflecht von Fasern bilden, von Nervenfasern. Ein Muster von sensiblen Hautregionen gibt die Impulse an die Fasern ab, im Gehirn werden sie zusammengefaßt und, nachdem sie einige Wandlungen erfahren haben, dechiffriert.

Doch obwohl die Schmerzforschung zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen ist, geben Wissenschaftler zu, daß es für die außergewöhnliche und mannigfaltige Erfahrungsqualität »Schmerz« noch keine zufriedenstellende Begriffsbestimmung gibt. Zu kompliziert sind die Wahrnehmungen, zu vielschichtig Ursachen und Auslöser. Der Schmerz als Erlebnis ist mehrdimensional, er ist, wie ein Forscher feststellte, nicht nur ein Problem, sondern auch ein Geheimnis. Dem reichen Spektrum seiner Wirkungen entspricht die Skala der Empfindungen, die der Schmerz in uns auslöst. Der eine empfindet ihn als stechend, reißend und hämmernd, der andere als brennend, pochend und schneidend, dieser von uns erfährt ihn als marternd, erschöpfend und lähmend, jener als durchstoßend und mörderisch. Auch hier belegt die Spra­che, wie variabel die Empfänglichkeit unserer Sinne ist. Als was immer uns der Schmerz er­scheint, ob wir ihn als Symptom oder Syndrom verstehen, ob wir ihn als Warner oder Heim­suchung begreifen, er ist ein Urphänomen, ist an den Menschen gebunden, einfach, weil unser Leben verletzlich ist. Du kannst den Gedanken nicht ertragen, heißt es bei William Faulkner, daß es dir einmal nicht mehr weh tut – und damit ist nichts anderes gesagt, als daß es der Schmerz ist, der uns des Lebens inne werden läßt.

Während die zeitgenössische Forschung die Entstehung von Schmerz als »multipel determi­niertes Regelkreisgeschehen« bestimmt, hat der Volksmund eigene Entstehungsursachen namhaft gemacht. Wir kennen den Trennungsschmerz und den Schmerz der Enttäuschung, uns ist der Liebesschmerz vertraut und der Seelenschmerz, und befördert durch Imagination, haben wir auch den singulären Schmerz erfahren, den uns Erinnerung, den uns Geschichte bringt. Er steigt aus Erfahrungen auf, denen keine physische, keine Gewebsverletzung zu­grunde liegt; dennoch ist seine Gewalt so groß, daß wir sie auch körperlich erleben. Das Schaudern vor den Gewalt so groß, daß wir sie auch körperlich erleben. Das Schaudern vor den Möglichkeiten des Menschen kann eine ganze Existenz gefährden.

Als Schriftsteller hat mir seit je der Schmerz zu denken gegeben, der aus der Sprachnot, aus der Verständigungsnot entsteht. In eine extreme Situation gestoßen, stellen wir auf einmal fest, daß wir der Welt nicht gewachsen sind, weil wir uns nicht verständlich machen können. Plötzlich sind wir nicht mehr in der Lage, unsere Wünsche, unsere Mißgeschicke, unsere Bitten zu erklären, können uns weder rechtfertigen noch Zeugnis ablegen. Wer die Bitternis des Exils erfahren hat, wird sich gewiß an Augenblicke erinnern, in denen ihn ein exemplari­sches Gefühl der Fremdheit überkam, der Wehrlosigkeit und sogar der Demütigung. Zu jeder erwarteten Auskunft bereit, muß der Exilant feststellen, daß er sich nicht kundgeben kann. Wer sich aber selbst nicht erklären kann, der verliert in den Augen der Welt seine Individuali­tät: er wird hilflos, wird wie jener Gregor Samsa in Kafkas Novelle »Die Verwandlung«, der, zu einem Insekt geworden, die mediale Erkenntnis veranschaulicht, anonymen Instanzen aus­geliefert zu sein. Als Demütigung seltener Art erweist sich dabei die Tatsache, daß man nicht einmal dem empfundenen Schmerz einen angemessenen Ausdruck geben kann. Wortlo­se Unterwerfung und Depression sind die Folgen. Alles war vergeblich; Leben lief – nach einem Wort Polgars – auf den Versuch hinaus, das Meer zu pflügen.

Auszug aus dem Essay „Über den Schmerz“, abgedruckt in: Siegfried Lenz: Über den Schmerz. Essays, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1998.

Hier der Text als pdf.

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