Von Alexander Schmemann
Unsere heutige Kultur leugnet den Tod; sie will so wenig wie möglich von ihm sichtbar werden lassen. Ein Trauerhaus sieht aus wie jedes andere, nicht nur außen. Im Innern bemüht sich ein Angestellter eines Beerdigungsinstitutes, das Gefühl der Trauer zu verwandeln. Ein bestimmtes Ritual soll den Angehörigen und Bekannten den Eindruck vermitteln, daß es sich bei dieser Beerdigung um eine halb angenehme Erfahrung handle. In schweigender Übereinstimmung wird die krasse Tatsache des Todes umgangen; der Leichnam selbst wird so «verschönert», daß sein Totsein unglaubhaft erscheint. In der Vergangenheit und noch heute, mitten in unserer lebenbejahenden modernen Welt, gibt es jedoch noch Kulturen, die sich gleichsam auf den Tod konzentrieren. Für sie ist der Tod die eine große allumfassende Tatsache, und das Leben wird in erster Linie als Vorbereitung auf den Tod angesehen. Wenn es Trauerhäuser gibt, in denen man den Gedanken an den Tod abzulenken sucht, so gibt es andere, in denen Bett oder Tisch zu Symbolen werden: sie erinnern an den Tod … Das Bett wird als das Sinnbild des Grabes angesehen, und der Sarg wird auf den Tisch gestellt. Wo hat in all diesem das Christentum seinen Platz? Ohne Zweifel ist «das Problem des Todes» in seiner Botschaft zentral und wesentlich; sie kündet Christi Sieg über den Tod und sieht den Ursprung des Christentums in jenem Sieg. Man hat jedoch das merkwürdige Gefühl, daß jene Botschaft — obschon sie sicherlich gehört wurde – die wesentliche Haltung des Menschen gegenüber dem Tod nicht wirklich beeinflußt hat. Es scheint vielmehr, daß das Christentum sich jenen Haltungen «anpaßte» und sie als ihre eigenen annahm. Man kann in einer unverbindlichen christlichen Predigt neue Wolkenkratzer und Weltausstellungen Gott weihen. Es ist ebenso einfach, sich mit den fortschrittlichen, lebenbejahenden Kräften unseres Atomzeitalters zu vereinen; ja, man kann das Christentum als die eigentliche Quelle für all diese hektische, auf das Leben konzentrierte Aktivität erscheinen lassen. Schließlich bietet es keine besonderen Schwierigkeiten, bei einer Beerdigung oder einem Einkehrtag das Leben als ein Tal der Tränen und der Eitelkeit hinzustellen, den Tod aber als eine Befreiung davon.
Ein christlicher Geistlicher muß sich heute beider Sprachen bedienen, beide Haltungen vertreten. Aber wenn er aufrichtig ist, muß er spüren, daß in beiden etwas fehlt, und das ist nichts anderes als das christliche Element! Denn es ist eine Verfälschung der christlichen Botschaft, sie so darzustellen, als ob das Christentum wesentlich lebenbejahend sei, ohne diese Aussage auf den Tod Christi zu beziehen und somit auf die Tatsache des Todes. Der christliche Glaube wird einer wesentlichen Wahrheit beraubt, wenn der Tod in der Verkündigung der frohen Botschaft einfach mit Schweigen übergangen wird, denn für das Christentum ist er nicht nur das Ende des Lebens, sondern die eigentliche Wirklichkeit dieser Welt hinieden. Es gibt jedoch noch eine weitere Verfälschung: wenn zum «Trost» der Menschen und um sie mit dem Tod zu versöhnen, diese Welt zu einem sinnlosen Schauplatz der persönlichen Vorbereitung auf den Tod hingestellt wird. Das Christentum verkündet eine weit umfassendere Wahrheit: daß Christus für das Leben der Welt starb und nicht für eine «ewige Ruhe» – ein Ausruhen von diesem Leben. Diese «Verfälschung» stempelt den Erfolg des Christentums zu einer wahren Tragödie. Der weltlich gesinnte Mensch möchte in seinem Geistlichen einen optimistischen Burschen sehen, der den Glauben innerhalb einer optimistischen und fortschrittlichen Welt sanktioniert. Der religiöse Mensch hingegen sieht in ihm den äußerst ernsthaften, traurig-feierlichen und würdigen Ankläger weltlicher Eitelkeit und Vergänglichkeit. Die Welt wünscht keine Religion und die Religion kein Christentum; die eine verwirft den Tod, die andere das Leben. Das Ergebnis ist eine schmerzliche Spaltung in zwei einander entgegengesetzte – und gleicherweise falsche Haltungen: die säkularistischen Tendenzen der lebenbejahenden Welt auf der einen – und die krankhafte Religiosität derer, die sich dem widersetzen – auf der anderen Seite.
Diese Entfremdung wird so lange dauern, als die Christen fortfahren, das Christentum als eine Religion zu verstehen, deren erster Zweck darin besteht, zu helfen — solange sie es als den «utilitaristischen» Typ der «alten» Religion ansehen. Eine der Hauptfunktionen der Religionen bestand tatsächlich darin, zu helfen, und zwar vor allem: dem Menschen zum Sterben zu verhelfen. Aus diesem Grund hat die Religion stets versucht, den Tod zu erklären und dadurch den Menschen mit ihm zu versöhnen. Wie sehr bemüht sich Plato in seinem Phaidon, den Tod wünschenswert und selbst gut erscheinen zu lassen, und wie oft hat man sich im Lauf der Geschichte auf ihn berufen, wenn der Mensch sich mit der Aussicht auf Befreiung mit dieser Welt des Wandels und Leidens konfrontiert sah!
Der Verstand der Menschen hat sich damit getröstet, daß Gott den Tod gemacht hat und daß er daher berechtigt ist; sie sagen sich ferner, daß Tod und Leben zusammengehören. Sie haben die verschiedensten Bedeutungen des Lebens herausgefunden oder sich versichert, daß der Tod einem hinfälligen Alter vorzuziehen sei. Sie haben Lehren über die Unsterblichkeit der Seele formuliert, etwa diese: wenn ein Mensch stirbt, so überlebt wenigstens ein Teil von ihm. All dies war ein Versuch, der Todeserfahrung ihre ungeheure Einzigartigkeit zu nehmen.
Da nun das Christentum eine Religion ist, war es verpflichtet, jene grundlegende Funktion der Religion zu übernehmen: den Tod zu «rechtfertigen» und so: zu helfen. Damit assimilierte das Christentum mehr oder weniger die alten und klassischen Erklärungen des Todes, die praktisch allen Religionen gemeinsam sind. Denn weder die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele – die auf dem Gegensatz zwischen Geist und Materie beruht – noch die Darstellung des Todes als Befreiung oder Bestrafung, sind in Wirklichkeit christliche Lehren. Man kann sagen, daß die Integrierung jener Lehren in die christliche Weltschau die Theologie und Frömmigkeit des Christentums mehr verwirrt als geklärt hat. Sie «wirkten», solange das Christentum in einer religiösen (d. i. auf den Tod ausgerichteten) Welt lebte. Ihre Wirkung hört auf, sobald die Welt dieser alten Religion entwächst — in der dem Tod ein zentraler Ort zustand – und «weltlich» wird. Doch die Welt säkularisierte sich nicht, weil sie «irreligiös», «materialistisch» oder «oberflächlich» wurde, auch nicht, weil sie «die Religion verloren hat», wie so viele Christen noch denken, sondern weil so viele der früheren Erklärungen nicht wirklich erklären. Sehr oft kommt es Christen nicht zum Bewußtsein, daß sie selbst, oder vielmehr das Christentum, Religion waren. Das Christentum mit seiner Botschaft von der Fülle des Lebens hat mehr als irgend etwas sonst zur Befreiung des Menschen von den Ängsten und dem Pessimismus der Religion beigetragen. In diesem Sinn ist der Säkularismus ein Phänomen innerhalb der christlichen Welt, und er wäre ohne das Christentum unmöglich. Der Säkularismus verwirft das Christentum, insofern dieses sich selbst mit der «alten Religion» identifiziert hat, und er zwingt der Welt gerade jene «Erklärungen» und «Doktrinen» von Tod und Leben auf, die das Christentum zerstört haben.
Es wäre jedoch falsch, den Säkularismus als eine bloße «Abwesenheit von Religion» anzusehen; er ist vielmehr selbst eine Religion und als solche eine Erklärung des Todes und der Wiederversöhnung mit ihm. Er ist die Religion derer, die es leid sind, diese Welt, in der sie leben, in Ausdrücken einer «andern Welt» erläutert zu bekommen, von der niemand etwas weiß. Sie sind einer Darstellung überdrüssig, die ihnen ihr Leben als ein «Überleben» erklärt, von dem sie jedoch keinerlei Vorstellung haben. Anders ausgedrückt: sie lehnen es ab, daß dem Leben «Wert» verliehen wird, indem man es an Begriffen des Todes mißt. Der Säkularismus ist eine «Erklärung» des Todes in Ausdrücken des Lebens. Die einzige Welt, die wir kennen, ist diese Welt, das einzige Leben, das uns geschenkt ist, dieses Leben – und es ist an uns, es so sinnvoll, reich und glücklich wie möglich zu machen. Das Leben endet mit dem Tod. Das ist unangenehm. Da aber der Tod ein universales Phänomen ist, nimmt der Mensch ihn am besten als eine natürliche Erscheinung an. Solange er lebt, braucht er jedoch nicht über ihn nachzudenken — er kann leben, als gäbe es keinen Tod, und es gibt einen ausgezeichneten Weg, ihn zu vergessen: man ist geschäftig, ein nützliches Glied der Gesellschaft, großen und edlen Dingen hingegeben, immer bemüht, eine bessere Welt zu bauen. Wenn es einen Gott gibt (und sehr viele Säkularisten glauben fest an ihn und an den Nutzen der Religion für ihre korporativen und privaten Unternehmungen), und wenn er in seiner Liebe und seinem Erbarmen (denn wir alle haben schließlich unsere Fehler) uns für unser geschäftiges, nützliches und rechtschaffenes Leben mit ewigen Ferien belohnen will — gewöhnlich nennt man diese Vakanz «Unsterblichkeit», so ist das seine huldvolle Angelegenheit. Wie immer auch mit dem Aspekt der Ewigkeit versehen: Unsterblichkeit ist ein Anhängsel an dieses irdische Leben, in dem alle wahren Interessen, alle wirklichen Werte gefunden werden. Das amerikanische «Bestattungsheim» ist tatsächlich das eigentliche Symbol einer säkularistischen Religion; es steht für die ruhige Annahme des Todes als eines natürlichen Geschehens (ein Haus unter anderen mit keinen besonderen Kennzeichen) und es leugnet, daß der Tod im Leben gegenwärtig ist.
Der Säkularismus ist eine Religion, denn er hat seinen Glauben, seine eigene Eschatologie und seine besondere Ethik, und er «funktioniert» und «hilft». Wenn «Hilfe» das Kriterium wäre, müßte man offen zugeben, daß ein auf das Leben ausgerichteter Säkularismus mehr hilft als eine Religion. Um mit ihm wetteifern zu können, muß die Religion sich als «Anpassung ans Leben», als «Bereicherung» anbieten, die in Unterführungen und Autobussen als wertvoller Beitrag zu «Ihre freundliche Bank» und anderer «freundlicher Händler» bekannt gemacht wird: Machen Sie einen Versuch, sie hilft! Der religiöse Erfolg des Säkularismus ist so groß, daß er einige christliche Theologen dazu verführt, die Kategorie der Transzendenz «aufzugeben», in einfacheren Worten, die Idee «Gott» abzuschaffen.
Wenn wir vom modernen Menschen «verstanden» und «angenommen» werden wollen, müssen wir den Preis dafür zahlen: wir müssen die gnostischen Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts verkünden.
Aber hier rühren wir an den Kern der Sache. Hilfe ist für das Christentum kein Prüfstein! Vielmehr entscheidet es sich an der Wahrheit. Das Christentum ist nicht dazu da, den Menschen zu helfen, daß sie sich mit dem Tod aussöhnen; es muß die Wahrheit über Leben und Tod aussagen, damit die Menschen durch diese Wahrheit gerettet werden. Erlösung ist nicht nur nicht identisch mit Hilfe; sie ist in Wirklichkeit ihr genaues Gegenteil. Das Christentum setzt sich mit Religion und Säkularismus nicht deshalb auseinander, weil sie «ungenügende Hilfe» anbieten, sondern weil sie den Anspruch erheben, zu «genügen» und die Bedürfnisse des Menschen zu «befriedigen». Wenn das Ziel des Christentums darin bestünde, den Menschen die Angst vor dem Tod zu nehmen, dann brauchten wir kein Christentum, denn alle Religionen haben das versucht, und zwar mit größerem Erfolg. Der Säkularismus ist im Begriff, einen Menschen hervorzubringen, der willig und korporativ sterben – und nicht nur leben – will, damit seine Sache, wie immer sie aussehen mag, siege.
Das Christentum ist nicht Aussöhnung mit dem Tod, sondern seine Offenbarung, und es vermag den Tod zu enthüllen, weil es selbst das Leben offenbart. Dieses Leben ist Christus. Und nur wenn Christus Leben ist, kann das Christentum den Tod als den Feind erklären, den es zu zerstören gilt, und nicht als «Geheimnis», das erklärt werden müßte. Indem Religion und Säkularismus den Tod interpretieren, verleihen sie ihm einen «Status»: er ist eine «rationale», eine Forderung der Vernunft, er wird als «normal» hingestellt. Nur das Christentum erklärt ihn als anormal und daher als wirklich furchtbar. Christus weinte am Grab des Lazarus. Und als seine eigene Todesstunde herannahte, «fing er an, bekümmert zu werden und heftig zu zagen» (Mt. 26, 37). Im Licht Christi sind diese Welt und dieses Leben verloren und jenseits bloßer «Hilfe», nicht aber, weil in ihnen die Furcht vor dem Tod herrscht, sondern weil sie ihn angenommen haben und als normal ansehen. Gottes Welt zum kosmischen Friedhof zu erklären, der abzuschaffen und durch eine «andere Welt» zu ersetzen ist, die ihrerseits wie ein Friedhof aussieht («ewige Ruhe»), und das Religion zu nennen; in einem kosmischen Friedhof zu leben und sich täglich Tausender von Leichen zu «entledigen», sich über eine «gerechte Gesellschaft» zu erregen und mit ihr fraglos glücklich zu sein! – das ist wahrlich der Sündenfall des Menschen! Weder die Verbrechen des Menschen, noch seine Unsterblichkeit zeigen ihn als gefallenes Wesen; erst sein «positives Ideal» verleiht ihm diesen Stempel – sei es religiös oder rein weltlich der gefallene Mensch findet in diesem Ideal seine Befriedigung. Aber nur in Christus wird dieser Fall wirklich deutlich, denn nur in ihm wird uns die Fülle des Lebens offenbar; der Tod wird daher «schrecklich», er wird der Feind des Lebens. Diese Welt (nicht irgendeine «andere Welt»), dieses Leben (und nicht irgendein «anderes Leben») wurde dem Menschen als Sakrament der göttlichen Gegenwart gegeben; sie sind die Mittel, sich mit Gott zu vereinen, und nur durch «Umwandlung» dieser Gemeinschaft mit Gott stößt der Mensch zu seinem eigentlichen Leben vor. Der Schrecken des Todes besteht daher nicht darin, daß er ein «Ende» ist, auch nicht in der physischen Zerstörung des Menschen. Durch die Trennung von Welt und Leben ist er zugleich Trennung von Gott. Der Tod kann Gott nicht verherrlichen. Anders ausgedrückt: wenn Christus uns das Leben enthüllt, hören wir die christliche Botschaft über den Tod als den Feind Gottes. Wenn das Leben am Grabe des Freundes weint und vor dem Schrecken des Todes zurückweicht – in jenem Augenblick beginnt der Sieg über den Tod.
Quelle: Alexander Schmemann, Aus der Freude leben. Ein Glaubensbuch der orthodoxen Christen, Olten-Freiburg i.Br.: Walter. 1974, S. 117-125.
Gehen Sie um Gottes Willen zu Sterbenden,Hospizarbeit und Biografiearbeit mit Familienzusammenführung wenigstens am Ende und während des Lebens Psychoanalyse und Familienberatung scheint mir inzwischen wichtiger als die Verhärtungen in Ihrem Berufsstand