Von Søren Kierkegaard
Also, an sich ist es völlig gleichgültig, ob lange oder kurze Kleider die Standeskleidung bilden. Das Entscheidende dagegen ist folgendes: Sobald der Lehrer einen »Ornat« bekommt, eine besondere Tracht, eine Standeskleidung, dann hast du den amtlichen Gottesdienst – und den will Christus nicht haben. Lange Kleider, prächtige Kirchengebäude usw., all das hängt zusammen und ist die menschliche Fälschung des neutestamentlichen Christentums, eine Fälschung, die es sich schandbar zunutze macht, daß sich leider die Menge der Menschen nur allzuleicht von einem Sinneseindruck betören läßt und deshalb (geradewegs dem neuen Testament zuwider) geneigt ist, das wahre Christentum an einem Sinneseindruck zu erkennen.
Das ist die menschliche Fälschung des neutestamentlichen Christentums; und mit dem geistlichen Stand steht es nicht so wie mit anderen Ständen, daß an und für sich nichts Böses an dem Stande ist: nein, der geistliche Stand ist, in christlichem Sinne, an und für sich vom Bösen, ist etwas Verdorbenes, menschliche Selbstsucht, die das Christentum gerade umgekehrt wendet, wie Christus es getan hat.
Aber da nun doch einmal lange Kleider die Standeskleidung der Pfarrer geworden sind, so kann man auch sicher sein, daß das etwas bedeutet, und ich glaube, daß man das Wesen oder Unwesen des amtlichen Christentums höchst bezeichnend erfassen kann, wenn man darauf achtet, was es bedeutet.
Lange Kleider bringen unwillkürlich auf den Gedanken, daß man etwas zu verbergen habe; wenn man etwas zu verbergen hat, sind lange Kleider sehr zweckdienlich – und das amtliche Christentum hat außerordentlich viel zu verbergen, denn es ist von Anfang bis Ende eine Unwahrheit, die deshalb am besten – unter langen Kleidern verborgen wird.
Quelle: Søren Kierkegaard, Der Augenblick. Aufsätze und Schriften des letzten Streits, GW 34. Abt., hrsg. u. übers. v. Hayo Gerdes, Düsseldorf-Köln 1959, S. 195.