„Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.“ (Mt 6,7) Auf diese Anweisung hin stellt Jesus in seiner Bergpredigt das Vaterunser-Gebet mit sieben kurzen Bitten vor. Zunächst sind es drei Du-Bitten, die sich auf Gott ausrichten: „Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Erst dann folgen vier Wir-Bitten, die unser Leben vor Gott bringen.
Warum soll eigentlich Gott um etwas gebeten werden, was selbst in seinem Sinne ist? Martin Luther sucht im Kleinen Katechismus diese drei Du-Bitten wie folgt zu erklären:
Gottes Name ist zwar an sich selbst heilig; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns heilig werde. […] Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme. […] Gottes guter, gnädiger Wille geschieht auch ohne unser Gebet; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns geschehe.
Diese Erklärungen beziehen den Betenden in die Du-Bitten mit ein. Das bedarf einer umfassenderen Begründung. Zurück zur Anweisung Jesu wider einer „heidnischen“ Worthäufung (adiectio) im Bittgebet. Dahinter steht eine eigene Logik der Bittrede (génos enteutikón)[1]. Wo es darum geht, sich mit einem eigenen Anliegen gegenüber einem Handlungsmächtigen bzw. Machthaber Gehör zu verschaffen, kann dieser nicht direkt mit Bitten oder Forderungen angegangen werden. Vielmehr dient die Wortfülle dazu, sich gegenüber dem Angesprochenen rangmäßig unterzuordnen und diesem den allergrößten Respekt zu erweisen, bevor dann – in aller Zurückhaltung – die eigene Bitte vorgebracht werden kann. Durch die wortreiche Bittrede soll der Machthaber dem „untertänigsten“ Bittsteller huldreich eine Gunst erweisen können, die ihn wiederum in seiner Machtposition bestätigt.
Die Bittstellung fängt daher mit einer ehrerbietigen Anrede an. Bei Bittschreiben mussten in der Neuzeit bis in das 19. Jahrhundert die Kuralien[2] im Rahmen der Courtoisie beachtet werden. Gemeint waren damit die korrekten Anredeformen mit den Titeln so wie die formellen Schlusssätze, deren Wendungen sich in der römisch-katholischen Kirche bis in die Gegenwart gehalten haben.[3] Im Wikipedia-Artikel „Kuralien“ heißt es dazu:
„Der Kurialstil verlangte, dass der Adressat erhöht, der Schreiber sich aber ihm gegenüber herabsetzte. Justus Claproth schrieb dazu 1769: ‚Es müssen die demüthigsten Ausdrücke gebraucht und alles hervorgesucht werden, was nur auf einige Art den Oberen schmeicheln kann;‘ Der Empfänger handelte aus Gnade und Gewogenheit, die Schreiber ehrfürchtig, gehorsam, ergeben und hochachtungsvoll. Aus demselben Grund durften Sätze nicht mit Ich beginnen. An Höhere wurde etwa eine Bitte untertänigst gerichtet, an Gleichrangige gehorsam und an Untergebene ergeben.“[4]
Die Adressaten wurden mit ihrem höchsten Titel und mit mindestens einem ranggemäßen Ehrenwort angesprochen. Die Anrede „Lieber …“ wurde als herabsetzend verstanden und daher gegenüber Niedrigrangigen gebraucht. Umgekehrt wurde die Anrede „Herr“ von Niedrigrangigeren gegenüber Höherrangigen verwendet. Der Brief wurde mit einem Dienstangebot, Glückwünsche, eine Bitte um weitere Gewogenheit oder eine Gnadenversicherung beschlossen.
„Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater!“ (Lukas 11,2) Was Jesus im Evangelium nach Lukas als Anrede zum „Gebet des Herrn“ anführt, ist eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen. Der von sich selbst sagt „Ich bin der HERR und keiner sonst, außer mir gibt es keinen Gott. Ich gürte dich, auch wenn du mich nicht erkannt hast, damit sie erkennen, vom Aufgang der Sonne und von ihrem Untergang her, dass es keinen gibt außer mir. Ich bin der HERR und keiner sonst. Der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft, ich, der HERR, bin es, der all dies vollbringt“ (Jesaja 45,5-7) soll mit Jesus unvermittelt als „Vater“ bzw. „Abba, Vater“ (vgl. Markus 14,36) angeredet werden.
Aus dieser Anrede, der die eigenen Bitten folgen, kann jedoch das Missverständnis erwachsen, Gott könne mit eigenen Bedürfnissen und Lebenswünschen für sich selbst beansprucht werden, als habe sich Gott in seiner Zuwendung dem Leben des Betenden zu fügen, um als Geber guter Gaben anerkannt zu werden.
Wenn nun Jesus im Vaterunser dem Betenden die drei Du-Bitten um die Heiligung seines Namens, das Kommen seines Reiches und das Geschehen seines Willens vorgibt, wird jede Vereinnahmung des Angerufenen für das eigene Leben abgewehrt. Wir unterstellen damit unsere Bitten dem Willen Gottes, so wie Jesus im Garten Gethsemane gebetet hat: „Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (Markus 14,36) Wer sich nicht auf seinen Namen, sein Reich und seinen Willen einlässt, wird mit eigenen Bitten kein Gehör finden.
[1] Vgl. dazu Albrecht Grözinger, Bittrede, HWR 2, 43-47.
[2] Siehe Johann Nicolaus Bischoff, Handbuch der teutschen Cantzley-Praxis für angehende Staatsbeamte und Geschäftsmänner. 1. Theil, von den allgemeinen Eigenschaften des Canzley-Styls, Helmstedt: Fleckeisen 1793. Vgl. Thomas Frenz, Kurialstil, HWR 4, 1536-1541.
[3] Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Anrede#Römisch-katholische_Kirche.
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Kurialien.