
Weil es ihn jammerte. Die wunderbaren Kraftakte des Jesus von Nazareth
Von Eberhard Jüngel
Wunder gehören dazu – jedenfalls dann, wenn von Religion die Rede sein soll. Eine Religion ohne Wunder wäre, mit Verlaub, ein wunderlich Ding. Ob freilich auch Religion immer dazugehört, wenn es um Wunder geht, das ist eine ganz andere Frage. Und ob jedes von der Religion reklamierte Wunder über jeden Zweifel erhaben ist, fragt sich selbst der Fromme. Die Wunder selber provozieren allemal Zweifel. Doch dass sie, wenn es um Religion geht, dazugehören, das duldet keinen Zweifel. «Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind», lautet das hier fällige Zitat (das im Munde Fausts freilich die Funktion hat, zu erklären, warum dem, dem der Glaube fehlt, das Osterwunder verschlossen bleibt).
Dass Wunder Zweifel provozieren, und zwar nicht erst in unserer zum zweitenmal aufgeklärten Welt, versteht sich aus der Tatsache, dass Wunder den unverzeihlichen Fehler an sich zu haben scheinen, gegen die Naturgesetze (contra naturam) verstossende oder zumindest doch ausserhalb der gesamten Ordnung der Natur (praeter naturam) geschehende Ereignisse zu sein. Hatten doch mittelalterliche Theologen das Wunder definiert als das, was gegen den gewöhnlichen Lauf der Natur geschieht (so Wilhelm von Ockham), beziehungsweise als das, was ausserhalb der oder abweichend von der gesamten Naturordnung geschieht (so Thomas von Aquin). Ausserhalb der oder gar gegen die Ordnung der Natur – dergleichen macht ein auf Gesetz und Ordnung bedachtes Gemüt verständlicherweise nervös.
Kein Wunder also, dass Denker, die von Gott nicht lassen können und wollen, Vermittlungsvorschläge machten. Schon Augustinus legte Wert darauf, dass wirkliche Wunder keine Verstösse gegen die Natur darstellen, sondern nur gegen den uns bekannten Naturverlauf. Jahrhunderte später wird Spinoza es ähnlich sagen: Wunder ist ein Werk, dessen natürliche Ursache wir nicht nach dem Beispiel eines anderen uns vertrauten Dinges erklären können. Und auch Immanuel Kant antwortet auf die Frage, «was unter dem Worte Wunder zu verstehen sei (. . .), dass sie Begebenheiten in der Welt sind, von deren Ursache uns die Wirkungsgesetze schlechterdings unbekannt sind und bleiben müssen». Kant fügt freilich hinzu: «Hier wird nun die Vernunft wie gelähmt.» Während das Ungewöhnliche, das man gleichwohl erklären zu können hofft, das Gemüt geradezu zur Entdeckung neuer Naturgesetze ermuntert, wird es durch Proklamation «eines wahren Wunders niedergeschlagen». Ist doch die Vernunft «in einer solchen bezauberten Welt zu gar nichts nutze».
Wie auch immer: versteht man die als Wunder bezeichneten Begebenheiten im Horizont eines an Naturgesetzen orientierten Weltbildes, dann scheint das genaue Gegenteil unseres ersten Satzes zu gelten – sie gehören ganz und gar nicht dazu. Da hilft es auch nichts, mit Schleiermacher zu behaupten, Wunder sei «nur der religiöse Name» für jede endliche «Begebenheit, (. . .) auch die allernatürlichste und gewöhnlichste», insofern sie nur unmittelbar «aufs Unendliche» – und das heisst für den jungen Schleiermacher «aufs Universum» – bezogen ist. Denn unter Voraussetzung dieses Wunderbegriffes kann man in der Tat mit Schleiermacher sagen: «Mir ist alles Wunder.» Doch wem alles Wunder ist, dem ist gar nichts Wunder.
Eine Kehrtwendung um 180 Grad ist angezeigt, wenn man diejenigen Begebenheiten verstehen will, die nach Massgabe des Neuen Testamentes Wunder genannt zu werden verdienen. Denn die neutestamentlichen Schriftsteller kennen keine eigengesetzliche und geschlossene Naturkausalität und sind deshalb, wenn sie von Wundern reden, überhaupt nicht auf Naturgesetze fixiert, weder positiv als deren religiöse Verklärung noch negativ als deren Durchbrechung oder Sistierung. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir heute die biblischen Wunderberichte kritiklos hinzunehmen hätten. Schon die sich historischer Beobachtung erschliessende Tatsache, dass Wundergeschichten im Laufe ihrer Überlieferung legendär ausgestaltet und dass nicht wenige Legenden hinzugedichtet wurden, nötigt zu einem kritischen Urteil. Doch auch das kritischste Urteil kann nicht leugnen, dass jedenfalls zur irdischen Wirksamkeit des Jesus von Nazareth nicht nur die Verkündigung des Reiches Gottes, sondern auch ganz bestimmte, die sinnliche Dimension dieser Verkündigung zur Geltung bringende Kraftakte oder Machttaten gehören. Sie sind es, die im eigentlichen Sinne Wunder genannt zu werden verdienen. Und auf sie soll hier mit einigen Hinweisen eingegangen werden.
Wundertäter sind in der antiken Welt keine Seltenheit. Sie sind auch in der Umwelt Jesu anzutreffen. Neben allerlei Mirakulösem sind es – und da liegt der Vergleichspunkt zu den Machttaten Jesu – vor allem Heilungswunder, die den antiken Wundermann auszeichnen. Dessen Wunder sind in religiöser Hinsicht allerdings prinzipiell zweideutig. Auch der Teufel wirkt Wunder. Noch im Mittelalter sind Wundermänner und vor allem Wunderfrauen verdächtigt worden, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Auch gegen Jesus ist dieser Vorwurf erhoben worden: «Durch den obersten der Dämonen treibt er Dämonen aus» (Mt 9, 34).
Dubios sind solche Wunder vor allem dann, wenn sie die Macht des Wundertäters demonstrieren sollen. Jesus sieht jedoch in seinen wunderbaren Taten nicht seine eigene Macht am Werk, sondern die Dynamik des Reiches beziehungsweise der Herrschaft Gottes: «Wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, ist dann nicht die Herrschaft Gottes unter Euch am Werk?» (Lk 11, 20). Es gibt keine Wundertaten Jesu, die er zu seinen eigenen Gunsten getan hätte. Werden von ihm Demonstrationswunder, durch die er sich selber als Mann Gottes beglaubigen soll, gefordert, so verweigert er sie (Mk 8, 11f.; Mt 4, 5-7; 12, 38-40). Jesus demonstriert nicht sich selbst. Selbstdemonstration liegt ihm ebenso fern wie Selbstverwirklichung. Er weist mit seinen Wundern genauso wie mit seinen Worten von sich selber weg, hin auf Gott. Seine Wunder sind selbstlos und absichtslos. Sie werden nicht inszeniert. Ihnen fehlt alle Wundertechnik. Der Anlass ist in der Regel die Not eines Menschen. Indem er auf dessen Elend eingeht, bricht sich Gottes Macht Bahn.
Gott aber wird mit den wunderbaren Machttaten Jesu als der gekennzeichnet, der in souveräner Freiheit die elende Lebenswirklichkeit elementar unterbricht, um dem elenden Leben zu Hilfe zu kommen. Die an ihrem Elend Leidenden und in ihrem Leiden regelrecht Gefangenen macht er frei. Jesu Wundertaten weisen Gottes Freiheit als befreiende Freiheit aus. Ihre Pointe haben die Wunder Jesu also in der befreienden Zuwendung zu den gequälten und in ihrer Qual gefangenen Mitmenschen. Auch ihnen gegenüber ist das Wunder nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Dies freilich nicht im Rahmen eines Versuchs von Weltverbesserung oder Menschheitsbeglückung. Jesus bietet Hilfe konkret. Er will ganz bestimmten konkreten Notsituationen ein Ende machen. Denn – so heisst es in den Evangelien mehrfach – es jammerte ihn: «Da Jesus das Volk sah, jammerte es ihn, denn sie waren gequält und erschöpft» (Mt 9, 36). Das griechische Wort, das Luther mit «jammerte» wiedergegeben hat, verweist auf die Eingeweide. Jesus hat das konkrete Elend in einer auf die Eingeweide schlagenden Weise wahrgenommen. Sein Innerstes wurde bewegt. Es ging ihm, was er da sah, durch und durch. Aus seinem derart bewegten Innersten erwächst ihm offensichtlich die Gegenkraft gegen die Mächte des Verderbens, die sich im notleidenden Menschen austoben. Er treibt sie aus. Und heilt. Seine wunderbaren Machttaten sind therapeutische Ereignisse ersten Ranges.
Als solche therapeutischen Ereignisse geben sie zu verstehen, dass Gottes kommendes Reich dem Elend der Welt und den es heraufbeschwörenden Mächten des Verderbens den Kampf ansagt. Jesu Wunder sind Kampfhandlungen gegen alle jene Mächte, die den Menschen – sei es mit seiner, sei es ohne seine Mitwirkung – ins Verderben zu stürzen trachten. Als solche sind sie zugleich Gleichnisse für die von Jesus in seiner Verkündigung angesagte Gottesherrschaft. Sie geben aller Welt zu verstehen, dass der kommende Gott selbst mit hoffnungslosen Fällen etwas anzufangen vermag. Nach Kant heisst «das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen», Freiheit. In den Wunderhandlungen Jesu wird anschaulich, dass Gott seine Freiheit, von selbst etwas anzufangen, zugunsten derer bestätigt, die nach menschlichem Ermessen keine Zukunft haben. Die Wunder sind Zeichen der Hoffnung für vermeintlich hoffnungslose Fälle.
Ein letzter Hinweis soll der Vorbehaltlosigkeit und Bedingungslosigkeit der wunderbaren Machttaten Jesu gelten. Seine Wunderhandlungen stehen weder unter weltlichen noch – und das ist besonders bemerkenswert – unter religiösen Bedingungen. Für die religiöse Umwelt Jesu haben Kranke und Besessene sich ihr Elend selber zugezogen. Ihr erbärmlicher Zustand galt als Strafe für irgendwelche von ihnen begangenen Sünden. Von ihnen wäre also, wenn ihnen überhaupt zu helfen war, ein gehöriges Sündenbekenntnis als Voraussetzung ihrer Haltung gefordert. Nichts dergleichen kennzeichnet die Wunder Jesu. Ihn jammerten die in ihrer Kreatürlichkeit entstellten Menschen. Er ist nicht mit möglichen Ursachen ihres Elends beschäftigt, sondern mit diesem Elend selbst. Er fragt nicht, woher und warum. Er reagiert unmittelbar und vorbehaltlos. Und darin ist er ein Gegenstück zu allem religiösen Muff, der allemal darauf hinausläuft, den Menschen auf seine Sünden oder auf sein moralischen Versagen zu fixieren. Jesu Wunder kümmern sich nicht um die moralische Würdigkeit derer, denen sie zugute kommen. Mehr noch als in seinen Reden zeigt sich in seinen wunderbaren Taten, dass Jesus alles andere als ein Moralist war.
Gemessen an den strengen Regeln der Moral aller Zeiten, nehmen sich die alle moralischen Regeln sprengenden, in vorbehaltloser Unmittelbarkeit dem leidenden Menschen zugute kommenden Wundertaten Jesu geradezu wie ein Luxus aus. Luxus aber macht misstrauisch – jedenfalls in der durch Protestantismus und Aufklärung geprägten Welt. Und damit mag es dann wohl zusammenhängen, dass der neuzeitliche Mensch in seiner weltlichen und in seiner frommen Gestalt den Wundern Jesu mit einigem Misstrauen begegnet. Er traut Gott keinen Luxus zu.
Dabei ist es nach dem Zeugnis der Evangelisten doch gerade dieser Luxus, dieser sich in den wunderbaren Machttaten Jesu manifestierende Luxus Gottes, der die Dämonen aus dieser Welt austreibt. Jesu Wunder betreiben, indem sie Besessene heilen und den Dämonen ihre Selbstvernichtung gebieten, so etwas wie eine heilsame Entzauberung der Welt. Verhelfen sie doch dem durch sein Elend entstellten Menschen – nicht etwa zu einer neuen Moral und auch nicht zu einer neuen Religion, sondern aufs Neue zu seiner Natürlichkeit.
So also gehören sie dazu, die Wunder, diese Wunder, die den Überfluss Gottes manifestierenden Wundertaten Jesu von Nazareth: so, dass sie der Natürlichkeit der Natur zu ihrem Recht verhelfen. Von selbst versteht sich das wahrhaftig nicht. Die Rückkehr in die Normalität ist alles andere als normal.
Quelle: NZZ Folio 12/1996, Thema: Wunder, S. 48-50.
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