Christian Gremmels über Christoph Blumhardt: „Wie Vater Blumhardt, so hatte auch der Sohn gewartet und gehofft: Auf eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes, auf einen erneuernden Beweis des Geistes und der Kraft.“

Christoph_Blumhardt
Christoph Blumhardt (1842-1919)

Christoph Blumhardt d. J.

Von Christian Gremmels

»O liebe Freunde, … wieviel könnte ich euch erzählen von meinen Bemühungen, wenn ich mich um das Elend der Menschen angenommen habe, wie hundertmal bin ich getäuscht und betrogen worden. Wie oft gellte es mir in den Ohren: ›Du bist ein Narr! halte dich doch zu den Gebildeten, halte dich zu den Guten, zu den Gerechten, zu denen, die auf der Höhe sind; auf die kann man sich doch verlassens — aber nein! das sind Satansstimmen, das sind Teu­fels­stimmen, nein, sage ich, hunderttausendmal nein! Ich will bis zu meinem letzten Atem­zuge für die Sünder, für die Elenden, für die Verstoßenen kämpfen, und meine größte Freude wäre mir, wenn ich alles, was hoch ist, könnte aufklären über diese Fäulnis, die in der Höhe liegt. – Ich möchte es auch in mein Haus alle Tage hineinschreien: Haltet euch zu den Niedri­gen! Und wenn wir oft wie eine vornehme Gesellschaft aussehen – schämet euch, daß ihr so vornehm seid! Wollte Gott, wir Vornehmen müßten alle in die Ecken hinein und es würde voll Lumpen hier sitzen, – wir wären tausendmal glücklicher in der Verkündigung dieses Jesus … So wol­len wir von Herzen glauben und wollen mit der ganzen Tatkraft bekennen, daß Jesus der Herr ist, und wollen es so glauben und so bekennen, daß wir immer da sind, wo die Niedrigen sind, wo die Verachteten sind, – dort wollen wir den Heiland suchen – nicht in den Himmeln dro­ben, nein, ich wenigstens nicht! – dort wo sie sie verachten, dort wo die Verstoßenen sind, dort ist der Himmel Jesu Christi…« (R. Lejeune, III, 344-347)

I. 1842-1880

Christoph Blumhardt, der mit dem Vater den Vornamen teilt – daher im Unterschied zum äl­te­ren Blumhardt der jüngere Blumhardt oder auch Sohn Blumhardt genannt wird am 1. Juni 1842 in Möttlingen bei Calw in Württem­berg als drittes von fünf Kindern des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt (1805-1880) und seiner Ehefrau Dorothea (1816-1886) geboren. Der Geburtsort »Möttlingen« ist in der Geschichte der Blumhardtbewegung mit der Heilung der Gottliebin Dittus (1815-1872) untrennbar verbunden, einer damals 28jährigen Frau, die – ärzt­licher Diagnose zufolge von Dämonen besessen – nach einem zweijährigen seelsorgerlichen Kampf vom älteren Blumhardt, einem der »merk­würdigsten Männer des 19. Jahrhunderts« (K. Barth, 44), geheilt wird:

Jesus ist der Siegesheld
Der all seine Feind besieget.
Jesus ists, dem alle Welt
Bald zu seinen Füßen lieget.
Jesus ists, der kommt mit Pracht
Und zum Licht führt aus der Nacht

– so hatte Blumhardt d. A. in der Zeit dieses »Kampfes« gedichtet. Die Strophe hält das Be­sondere jener Bußbewegung fest, die sich nach dieser Krankenheilung ausbreitete und jene väterliche Welt bestimmte, in die der Sohn – Christoph Blumhardt – zunächst in Möttlingen, ab 1852 dann in Bad Boll hineinwächst: Bußübungen, Lieder, Gebete, Andachten, von früh auf die Erfahrung: »Der Heiland tut … etwas; Jesus ist lebendig.« (R. Lejeune IV, 304)

Bis ins 15. Lebensjahr wird Christoph zusammen mit seinem Bruder Theophil vom Vater unterrichtet, dann besucht er das Gymnasium in Stuttgart (1857- 1859), bereitet sich, wie vom Vater gewünscht, in Urach auf das Studium der Theologie vor, das er dann in Tübingen (1862-1866) absolviert. Gegen Ende der Studienzeit erklärt der Sohn, er wolle lieber das nächste Handwerk erlernen als Pfarrer werden, »denn ich wäre nie Theologe geworden, wenn ich hätte tun können, was ich wollte.« (Zit. W. Jäckh, 113)

Nach dem Examen ist Blumhardt für drei Jahre lang Vikar in verschiedenen Landgemeinden Badens und Württembergs, dann ruft ihn der Vater im Mai 1869 zu seiner Unterstützung nach Bad Boll: Er wird Gehilfe, Inspektor, Sekretär des Vaters. Ist der verreist, so darf der Sohn ihn beim Gottesdienst vertreten. 1870 erfolgt die Hochzeit mit Emilie Bräuninger, einer Haus­tochter von Bad Boll. Der Vater Blumhardt stirbt am 25. Februar 1880, der Sohn ist 38 Jahre alt. Friedrich Zündeis berühmte Biographie des Vaters hält dessen Tod mit den folgenden Worten fest: »An seinem Todestage … lag er – bei seiner Körper­schwere – wie angenagelt in seinem Bette, ohne daß man ihm seine Lage erleichtern konnte. Als ihm, in kurzem Gespräche über den Kampf seines Lebens, sein Sohn Christoph sagte: ›Papa, es wird gesiegt‹, da antwor­tete er ihm: ›Ich segne dich zum Sieger‹, und legte mit letzter Kraftanstrengung ihm die Hand auf, sowie auch nachher seinem Sohne Theophil« (F. Zündel, 329) – »translatio imperii«. So ist die Verkündigung des Reiches Gottes vom Vater auf den Sohn übergegangen. Christoph Blumhardt erhält die Rechte des Pfarrherrn von Bad Boll. Er wird Nachfolger des Vaters.

Man kann von Christoph Blumhardt nicht reden, ohne von seinem Vater zu reden. Soweit ist man sich in der Blumhardtforschung einig. Die Schwierigkeiten entstehen, fragt man danach, wie denn das Verhältnis von Vater und Sohn näherhin zu bestimmen sei. Es gibt sehr ein­drückliche Stimmen, die vor einer psychologisierenden Ausdeutung dieser Beziehung warnen; noch eindrücklicher freilich fällt der Versuch aus, das Interesse an einer solchen Fragestellung gar nicht erst aufkommen zu lassen: »Es gehört zum Bilde dieser beiden Männer, daß sie in der Sache miteinander völlig eins gewesen sind. Und so ist hier einmal das Merkwürdige ge­schehen, daß es nicht zum Konflikt zwischen den Generationen gekommen ist. Der jüngere Blumhardt war nicht der unglückliche Sohn eines berühmteren Vaters, sondern dessen glück­licher Erbe und Vollender.« (E. Thurneysen, 59) Man erinnere sich in den folgenden Ab­schnitten an diese Beschreibung. Ihr kommt die Funktion eines Hintergrundes zu.

II. 1880-1897

Bisher nur Gehilfe, steht der Sohn vor der Aufgabe, an die Stelle des Vaters treten zu müssen. Unüberhörbar die Stimmen, nun sei das Feuer erloschen, jetzt sei es aus mit Bad Boll. Chri­stoph Blumhardt verhält sich, als habe sich nichts geändert. Denen, die den älteren Blumhardt kannten, macht er es damit nicht recht: »Man nannte mich eine Copie meines Vaters, einen geschickten Schauspie­ler …«; andere wiederum haben das Gefühl: »Es ist, wie wenn der alte Pfarrer gar nicht gestorben wäre.« (J. Harder, I, 196) Entschließt er sich jetzt, einen neuen An­fang zu machen? »Jetzt gibt’s also einen neuen Anfang«, verspricht er, um gleich anschlie­ßend einschränkend hinzuzufügen: »neu jedenfalls, auch wenn wir in den alten Geleisen fort­machen …« (ebd., 40) Christoph Blumhardt hat eine Institution übernommen, so schnell läßt sich nichts ändern: Da sind sechs Familien zu versorgen, dazu dreißig Kinder, eine Hausge­meinde von 120- 140 Menschen täglich; 1883 liegt die Zahl der Gäste in Bad Boll bei etwa 1000 Menschen: Leidende, Ratsuchende, Schwermütige, unheilbar Kranke: »Zu mir kommen keine Lustigen und keine Frohen, zu mir kommt alles Elend, – wir sind schon eine Elends­stät­te.« (R. Lejeune, IV, 106) Dazu die Korrespondenz mit 40-50 Briefen täglich, Eilbriefe, Tele­gramme. Viele fangen mit dem Satz an: »Da wir von Ihnen gehört haben, daß sie alle Kranken gesund machen können …« (J. Harder, I, 135)

Blumhardt reibt sich am »Wunderwesen« von Bad Boll, er spürt den Zwang überlieferter Ver­hältnisse, Unbeweglichkeit, Versteinerung: »Man hat gemeint, wie man es lange gewohnt war, so sei es wahr; … es hat… eine Zeit gegeben, wo man mir gesagt hat: ›So hat es dein Va­ter gemacht.‹ Da war es eine Sünde, wenn ich es anders machte.« Jetzt ahnt er, es ist Sün­de, wenn es so bleibt, denn: »Das, was mein Vater wußte, reicht heute nicht aus.« Unab­weis­bar wird die Einsicht: »Auch in Bad Boll kann man noch in die Hölle fahren.« Daher der stär­ker werdende Wunsch nach »neuen Zuständen«, nach »neuen Sinnen«, nach einer »neuen Zeit«, möglichst bald, möglichst rasch: »Ich gehöre nicht zu denen, die warten wollen, bis … sie tot sind.« (J. Harder, II, 58.50.61.79) Etwas anderes kommt noch hinzu. Blumhardt sieht sich in seiner persönlichen Frömmigkeit Mißdeutungen ausgesetzt. Es ist Friedrich von Bodel­schwingh, der ihm vor­wirft, bei ihm sei das Wort Gottes durch persönliche Offenbarun­gen ersetzt, der ihn »nicht nur für irrend, sondern auch für krank« hält. Für Chri­stoph Blum­hardt antwortet dessen Bruder: »Die durch vorsichtige Ausdrucksweise ver­schleierten Gedan­ken wollen wir frei offenbaren: ›Christoph Blumhardt redet Irrlehren, weil er irrsinnig ist«, sind die beste und wohlfeilste Art, jemanden mundtot zu machen und in sei­nem Wirken lahm zu legen für den Augenblick.« (Ebd., 42.45) Der Bruder weiß, wovon er spricht.

III. 1898-1899

1898 beginnt eine Zeit der Krise. Schwester Anna von Sprewitz, Blumhardts Mitarbeiterin, überliefert die Äußerung: »Wir kommen nicht vorwärts mit dem Reiche Gottes, ich sehe eine schwarze Wand vor mir, durch die muß ich hindurch, sonst bleiben wir stecken.« (Zit. Meier, 46) Im Februar 1898 schreibt er an seine Frau: »Ich fühle meine Kräfte schwer verbraucht.« (J. Harder, II, 94 f.) Blumhardt erkrankt, im Juni ist er in Bad Mergentheim zur Kur. Doch die Erschöpfung hält an: »Wie bin ich müde als Seelsorger! Ich kann fast nicht mehr« sagt er – und er fügt hinzu: »Ich kann jetzt nicht mehr schweigen … Ich bin ein Laboratorium…« (Ebd., 115) Die Predigten, Briefe und Andachten jener Monate lassen die Stadien der Krise deutlich werden. Blumhardt blickt zurück, zieht Bilanz, legt Rechenschaft ab. Das Bisherige, die reli­giösen und sozialen Ordnungen, der »väterliche Wandel«, kurzum »das Herkommen« rollt ihm »wie über einen Abhang herunter«: »Immer nagen Mäuse und Ratten an dem väterli­chen Herkommen … Es ist äußerst notwendig, aus dem väterlichen Herkom­men erlöst zu werden … Ich spür’s, ich muß raus.« (Ebd., 151) Die bisherigen Selbstverständlichkeiten des Lebens lösen sich auf: »Auf dem bisherigen, soge­nannten seelsorgerlichen Weg geht es absolut nicht«. »Ich bin aus den Kreisen des Glaubens hinausgeworfen …«. »Ich … will nicht als Pfar­rer reisen.« »Ich halte mich … für ein Vorstadium.« (Ebd., 97.142.150.93)

Was Blumhardt jetzt ausspricht, »liegt schon zwanzig Jahre in mir« (Ebd., 155) – es ist ein zwanzigjähriges Moratorium, das auf den Tod des Vaters (1880) folgt; eine lange Latenzzeit, die wenig verwunderlich ist angesichts der Widerstände und Hemmungen, mit denen der Sohn zu kämpfen hat: »Ich brauche nichts, alles ist mir Dreck außer Gott. Gott ist mein Vater. Die schauderhafteste Situation in der Welt ist, daß einem alles zur Fußangel wird: die Familie, die Ehe, die Kinder, die Gesellschaft etc. Ehe man sich versieht, ist man in einer Falle.« Und: »Was kostet es doch, bis man endlich die Eierschalen seiner Geburt los hat, bis man endlich kein Blumhardt, kein Boller, kein Pietist mehr ist…« (Ebd., 160.122) Wie hat der im »väterli­chen Herkommen« von Möttlingen und Bad Boll großgewordene Sohn Blumhardt diesen Ablösungsprozeß – bei Vermeidung eines Bruchs – durchstehen und bewältigen können? Diese Frage aufzunehmen heißt, den Versuch zu machen, die besondere Gestalt seiner Fröm­migkeit und mit ihr jene theologischen Motive in den Blick zu nehmen, von denen Christoph Blumhardt sich bestimmt sein läßt. Hier ist zunächst das protestantische Freiheitsbewußtsein zu nennen, von dem Blumhardt immer wieder Gebrauch macht: »Ich gehöre nicht Boll und nicht meiner Familie«, »ich [bin] nur Gottes und gehöre niemand und nichts. Frei bin ich!« (Ebd., 67.145) Blumhardt weiß, er kann nicht anders, er muß dieser Freiheit des lebendigen Christus auch in seinem Leben Raum geben: »Der Lebendige ist unsere Erlösung, nicht der Tote. ›Jesus lebt!‹ Das ist der Schrei, mit dem wir siegen.« (Ebd., 125) Der Glaube an Jesus Christus, den Lebendigen, ist verbunden mit der gegenwärtigen Herrschaft Gottes: Gott herrscht schon, das Reich seiner Herrschaft ist schon das Heute, das Hier-auf-Erden, das Jetzt-in-dieser-Zeit. Wie Vater Blumhardt, so hatte auch der Sohn gewartet und gehofft: Auf eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes, auf einen erneuernden Beweis des Geistes und der Kraft. Daß Jesus kommt, daß er noch einmal kommt, daß es endlich anders werde, davon hatte der Sohn gepredigt, wie es der Vater zuvor getan hatte: »Ach, Gott, … es muß anders werden. Denn wie es jetzt ist, kann’s nicht bleiben.« (Ebd., 61 f.) Jetzt – im August 1899 – treten die Mahnungen zum Warten und zur Geduld zurück, etwas Dringliches und Drängendes beherrscht Blumhardts Äußerungen. Die Reichgotteshoffnung, es muß einmal anfangen, ver­ändert sich zu der Erwartung, daß es jetzt anfängt: »Heut ist eine Geburtszeit.« Das Gefühl, »Heute wankt das Alte«, wird übermächtig: »… ich glaube, heute revolutioniert’s von Gott aus.« (Ebd., 158.152f.) Früher hatte er sich gegen die Revolution gewehrt, jetzt heißt es: »Die Revolution niederschlagen, das ist Tod.« (Ebd., 155)

Blumhardt hatte es der Hausgemeinde in Boll zuvor öffentlich angekündigt: »Ich habe mir vorgenommen: Ich springe über alles hinüber.« (Ebd., 110) Im Oktober 1899 löst er es ein, Blumhardt springt, er wird – »zum Befremden und Entsetzen fast aller seiner Freunde« (K. Barth, 48) – Mitglied der sozialdemokra­tischen Partei.

IV. 1899-1906

Hat Blumhardt den Übertritt zur Sozialdemokratie bewußt geplant? Während seiner Mergent­heimer Kur hatte er damit begonnen, sozialistische Klassiker zu lesen, die Predigten der Kri­senjahre 1898/1899 belegen den Einfluß dieser Lektüre: Blumhardt kritisiert die Herrschaft des Geldes, die Eigentumsverhält­nisse, er bedient sich fallweise einschlägiger Begriffe – von »Kapitalisten«, »Proletariern« und »Lohnsklaven« ist die Rede, er nimmt die Sozialdemo­kra­tie in Schutz, er tritt für die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse, für eine Umgestal­tung des menschlichen Lebens auf Erden ein, er weiß: »Ich kann mich nicht mehr da oben bewegen, ich muß immer wieder zu den Armen.« (Ebd., 167) Das war wörtlich zu nehmen. Blumhardt ging in die sozialdemokratischen Versammlungen; er ergreift dort das Wort: Am 19. Juni 1899 erklärt er sich gegen das auf eine Einschränkung des Streikrechts der Arbeiter abzielende »Gesetz zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse« (»Zuchthausvorlage«), am 2. Oktober äußert er sich zur Fabrikarbeit verheirateter Frauen, am 24. Oktober schließlich erklärt er auf einer sozialdemokratischen Parteiver­sammlung in Göppingen: »Soviel an mir liegt, werde ich mit ganzem Herzen auf die Zeit hinarbeiten, wo wir eine sozialistische Gesell­schaft erleben.« (Ebd., 185) Die Zeitungen verbreiten dies als »Pfarrer Blumhardts Bekenntnis zur Sozialde­mokratie« und lösen so einen Sturm der Entrüstung aus. Mag sein, daß Blum- hardt jetzt nicht mehr zurück kann, mag sein, daß er den Eintritt in die sozialdemokratische Partei ohnehin vorhatte, den er nun vollzieht. Dieser Schritt »hat Blumhardt den Pfarrertitel, die größere Zahl seiner bisherigen Anhänger und den Rest von Vertrauen [gekostet], das die »christlichem Kreise noch zu ihm hatten …« (K. Barth, 48) Blumhardt selbst hat dem ihm von der Kirchenleitung nahegelegten Verzicht auf Rang und Titel eines Pfarrers weniger als Opfer denn als Erleichterung hingenommen – er hatte Jahre zuvor schon (1894) den Talar abgelegt und auf das Recht eines Predigtgottesdienstes in Bad Boll verzichtet. In einer Andacht greift er das Thema am 9. Januar 1901 noch einmal auf, er sagt: »Ich wollte nie Pfarrer werden. Im tiefen Grund hatte ich eine Abneigung; und doch wurde ich hinein gepreßt.« (J. Harder, II, 255) Konnte Blumhardt auf den Rang des Pfarrers verzichten, so doch nicht auf den Titel eines Christen. Den hatte er freilich in den Augen vieler bereits eingebüßt, und zwar durch eben den Schritt zur Sozialdemokratie, für den Blumhardt in Anspruch nimmt, ihn als Christ vollzogen zu haben. Denn daran läßt er nicht den geringsten Zweifel: »Man … sorgt sich, ich falle von meinem Glauben ab. Aber im Gegenteil: Ich glaube, darum rede ich …« (R. Lejeune, III, 412) Damit gerät Blumhardt im Vergleich zu den theologischen Gegnern dieses Schritts in eine argumentativ fast aussichtslose Position, denn wie anders sollte eine Auf­gabe genannt werden können, bei der es darum geht, Leute – überzeugt davon, daß ein Christ kein Sozialde­mokrat sein kann – davon zu überzeugen, daß einer nur als Sozialdemokrat ein Christ zu sein ver­mag? Eine erste Argumentationsfi­gur, die diesem Zwecke dient, findet sich schon in der entscheidenden Göppinger Rede vom 24. Oktober 1899: »Man darf sich nicht wundern, daß ein Mann, der sich zu Christus hält, heute zur arbeitenden Klasse steht. Denn Christus gehört zu den Geringen. Er ist gekreuzigt worden, weil er ein Sozialist war. Zwölf Proletarier hat er zu Aposteln gemacht.« Die unterschiedlichen Begriffsreihen (Christus, Apostel; Sozialist, Proletarier) verdeutlichen die Probleme dessen, der als Christ nur Sozialdemokrat werden und als Sozialdemokrat nur dann ein Christ bleiben kann, wenn es ihm gelingt, den Begriffen der sozialdemokrati­schen Position diejenigen der biblisch-christlichen Tradition so zuzuordnen, daß es zu sinnparallelen Aussagen kommt. In diesem Fall heißt dies, daß der politische Be­griff des »Proletariers« durch den christlichen des »Apostels« legitimiert und – umgekehrt – jener durch diesen aktualisiert wird. Folgerichtig endet dieses Zitat in der Feststellung: »Die Leute täuschen sich, wenn sie meinen, ich verlasse Gott, wenn ich ein Proletarier sein möch­te.« (J. Harder, II, 184) Blumhardt ist eine volle Periode Mitglied der Fraktion der SPD im württembergischen Landtag (1901-1906), doch gegen Ende der Legislaturperiode macht sich Ermüdung bemerkbar. Blumhardt ergreift während der Sitzung nur selten noch das Wort: »Wir können heute gar nichts machen, müssen nur das Nächst­liegende, was im Zuge der Zeit liegt, ausführen.« Und: »Unsere Partei kommt nicht weiter. Man nimmt alles gleich persön­lich, und es kommt zu nichts, wenn man miteinander tagt, als zu persönlichen Reibereien …« (J. Harder, II, 322f.) Im August 1905 erklärt er unter Hinweis auf seine Verpflichtungen in Bad Boll – er erwähnt seinen geschwächten Gesundheitszustand – seinen Entschluß zur Nie­derlegung seines Mandats, er sagt: »… der bloße Klassenkampf ermüdet schließlich die Her­zen.« (Zit. W. Jäckh, 171) Sein Arzt rät ihm zu einer Reise nach Ägypten, es folgt, nach Ab­lauf des Mandats, eine Reise nach Palästina.

V. 1906-1919

Ist der Verzicht auf eine erneute Kandidatur Ausdruck von Resignation, ein politischer Wider­ruf gar? Unbestreitbar ist jedenfalls Blumhardts Enttäuschung, bereits im Oktober 1904 fällt gesprächsweise die Bemerkung: »Die deutsche Sozialdemokratie bietet augenblicklich kein erfreuliches Bild. Es fehlt die Liebe zum Feind … Einer soll immer wie die Partei denken und sprechen. Man ist ganz so wie in der Kirche. Ich erwarte so, wie es jetzt ist, nichts.« (J. Har­der, II, 314) Ein Parteimann war Blumhardt nie gewesen und der entsprechende Ärger hat seine parlamentarische Tätigkeit von Anfang an begleitet – aber: »Man ist ganz so wie in der Kirche«? Das ist ein anderer, ein neuer Ton. An Leonhard Ragaz schreibt er im April 1912: »So hat mich Gott in ein Neues und Lautes geführt einerseits; … Andererseits führt mich Gott in die Stille. Das hängt mit der ganzen Art des Kommens des Reiches Gottes zusammen.« (J. Harder, III, 117) Nun ist vor allem wieder von der »Hoffnung« die Rede, der es durch »War­ten« zu entsprechen gilt: »Der aktive Ton verstummt nach dem Rückzug aus der Politik« (H. Gollwitzer). Und so verspricht sich Blumhardt von mensch­lichen Aktionen wenig; was er erwartet – erwartet, wie es sein Vater erwartet hatte – ist ein neues Pfingsten: »Es kommt wieder eine allgemeine Ausgießung des Heiligen Geistes, … Gott ist doch vor uns …« (Ebd., 195)

Der Boller Betrieb wird Blumhardt zuviel, er geht auf Distanz, verlegt seinen Wohnsitz nach Jebenhausen bei Göppingen. Anna von Sprewitz, die Mitarbeite­rin der Boller Jahre, begleitet ihn. Blumhardt lebt getrennt von seiner Frau. 1911 erfolgt die Übergabe der Leitung von Bad Boll an Eugen Jäckh (1877-1954). Das Haus ist bestellt. Am 2. August 1919 stirbt Christoph Blumhardt.

VI.

Christoph Blumhardts Einfluß auf die Theologiegeschichte dieses Jahrhunderts verdankt sich den Würdigungen, die ihm religiöse Sozialisten (H. Kutter, L. Ragaz; Neuwerkbewegung) und dialektische Theologen (K. Barth, E. Thurneysen) gleicherweise zuteil werden ließen. Beide Bewegungen haben »ihre gemein­same Wurzel in Bad Boll« (M. Mattmüller). Für die von der »Dialektischen Theologie« vorgenommene Blumhardtrezeption ist es freilich charak­teristisch, daß Barth und Thurneysen sich theologisch in aller Regel auf Äußerungen Blum­hardts vor und nach seiner explizit politischen Phase berufen haben, mit anderen Worten: »Die theologische Zuordnung von Sozialdemokratie, Politik und Reich Gottes rezipierten sie … nicht.« (Meier, 127) Die neuere Blumhardtforschung hat dies nachzuholen versucht. Und doch kann vertiefte Kenntnis, kann die Literatur über Blumhardt die Begegnung mit Blum­hardt nicht ersetzen. Er war kein Mann des gedruckten Wortes, er hat fast nichts geschrieben, es sei denn Briefe, Briefblätter, vertrauliche Mitteilungen an die Freunde. Was unter seinem Namen veröffentlicht wurde, sind Sammlungen seiner Worte, Nach­schriften von Predigten und Andachten – von 1900 an unterbleiben selbst die für Jahre, Blumhardt hatte dies aus­drücklich gewünscht. (R. Lejeune, III, 469) Woher rührt die Lebendigkeit dieses Mannes, der sich vor allem durch das mündliche Wort vermittelt hat? An der Person allein kann es nicht gelegen haben. Gewiß, man hat ihn eine »charismatische Persönlichkeit« (J. Harder), eine »priesterliche Persönlichkeit« (K. Barth) genannt; und doch gibt es auch andere Stimmen: »Die Blumhardtschen Geschichten sind mir ein Greuel« (R. Bultmann). Es sind die Geschich­ten eines Mannes, der »auf viele einen seltsamen, abstoßen­den, irrlichtartigen Eindruck ge­macht hat.« (K. Barth, 49) An Christoph Blum­hardt scheiden sich die Geister.

»Blumhardts Geheimnis war seine immerwährende Bewegung zwischen Eilen und Warten.« (Ebd., 48) Beides, sein Eilen und sein Warten, war auf das eine Ziel hin ausgerichtet – auf das Reich Gottes, das für ihn zugleich zukünftig und doch auch schon gegenwärtig ist: »Wir wol­len die Hoffnung auf das zukünftige Reich Gottes nicht aufgeben; aber das Wichtigste ist es, das gegenwärtige Reich Gottes zu schätzen … Wer etwas für das zukünftige Reich Gottes tun will, der tue etwas für das gegenwärtige!« (J. Harder, III, 22) Etwas tun, den Willen Gottes zur Wirkung bringen – alle diese Wendungen zielen als Folge der Rechtfertigung auf die kon­krete Tat, auf Gehorsam und Nachfolge: »Es ist ein großer Unterschied, ob man an Jesus glaubt oder ob man ihm nachfolgt. Glaubt man nur an Jesus, dann kann man daneben in allem anderen sitzen bleiben … Ganz anders bei denen, welche die Nachfolge ergriffen … haben … Man nimmt den Weg unter die Füße und wandert.« (Ebd., 23 f.) »Nachfolge«, »Treue zur Erde«, »Diesseitigkeit«, die Perspektive des »Unten«, Blumhardts Kritik am protestantischen Gnadenprin­zip: »Man hat in der Christenheit sich aus dem Heiland ein bequemes Ruhekissen gemacht: ›Der tut alles für mich – mein Heiland hat alles für mich getan!‹ und dann liegt man hin und schlaft. So ist’s aber nicht gemeint« (R. Lejeune, II, 298) – das erinnert bis in den Zusammenhang von Beten und Tun hinein an Dietrich Bonhoeffer, dessen Kritik an »Reli­gion« und »Religiosität« von Blumhardt geradezu vorweggenommen zu sein scheint: »Wenn mir einer mit religiösen Fragen kommt, möcht ich gleich nach Sibirien springen.« (J. Harder, II, 70) Blumhardts Lebendigkeit ist die Lebendigkeit eines Mannes, der eine Botschaft hat: Die Botschaft vom Reiche Gottes. Als Gottes Reich wird es durch das Wirken des Menschen zur Wirklichkeit gebracht, es umgreift die Ich-Welt des Menschen (Körper, Leib, Gesundheit, Erfahrung) ebenso wie seine Mit-Welt (Sozialität, Humanität, Internationalität) und seine Um-Welt (Natur, Pflanzen, Tiere): »Die Natur ist der Schoß Gottes.« »Die Erde ist unser Land. Hier ist unser Gott; hier ist unser Christus; hier hat er gelitten, und hier ist er auferstan­den.« (Ebd., 295.53).

Der Wille Gottes muß in all diesen Bereichen an uns zur Darstellung gebracht werden, denn: »Gott braucht die Menschen«, »Gott kann nichts ohne die Menschen.« (Ebd., 173f.) Statt zur Steigerung der Allmacht Gottes das Tätigkeitsbewußtsein des neuzeitlichen Menschen zu dis­kreditieren, wird dieses als Mitbeteiligtsein am Prozeß der Schöpfung theologisch legitimiert. So jedenfalls ist Christoph Blumhardts Botschaft von L. Ragaz gehört und aufgenommen worden: »Der Mensch ist Sohn. Er ist dem Vater wesensverwandt. Er gehört zu Gott … Er ist selbst Schöpfer. Denn er soll, mit Gott verbunden, als sein Mitarbeiter und Mitkämpfer das Werk Gottes fortführen und vollenden. Darum ist die Welt nicht fertig … Es ist noch nicht alles entschieden; die Schlachten Gottes sind noch nicht alle geschlagen; es wird auf den Menschen gewartet, mit ihm gerechnet; sein Tun ist entscheidend wichtig; das Los der Schöp­fung ist in seiner Hand.« (L. Ragaz, 174) Kein Zweifel, L. Ragaz beruft sich zu Recht auf Blumhardt. Und doch hat sich etwas verändert: Zum Argument einer theologi­schen Position ist geworden, was zuvor Ausdruck versöhnten Lebens war. In den Worten von Christoph Blumhardt: »An Gott glauben ist leicht; aber glauben, daß die Welt anders werde, dazu muß man treu sein bis in den Tod.« (Zit. Ragaz, 58)

Werke
Blumhardt, Chr.: Briefblätter aus Bad Boll. Bad Boll 1882-1888.
Blumhardt, Chr.: Vertrauliche Blätter für die Freunde von Bad Boll. Bad Boll 1888-1895.
Blumhardt, Chr.: Gedanken aus dem Reiche Gottes, im Anschluß an die Geschichte von Mött­lingen und Bad Boll, und unsere heutige Stellung. Ein vertrauliches Wort an Freun­de. Bad Boll 1895.
Blumhardt, Chr.: Von der Nachfolge Jesu Christi. Hg. und eingeleitet von E. Jäckh. Berlin 1923.
Blumhardt, Chr.: Vom Reich Gottes. Hg. v. E. Jäckh. 3. Aufl. Berlin 1925.
Blumhardt, Chr.: Eine Auswahl aus seinen Predigten, Andachten und Schriften. Hg. von R. Lejeune. 4 Bde. Erlenbach-Zürich-Leipzig 1925-1937.
Blumhardt, Chr.: Von der Liebe Gottes. Hg. von E. Jäckh. Berlin 1939.
Blumhardt, Chr.: Christus in der Welt. Briefe an Richard Wilhelm. Hg. von A. Rich. Zürich 1958.
Blumhardt, Chr.: Ansprachen, Predigten, Reden, Briefe 1865-1917. Neue Texte aus dem Nachlaß. Hg. von J. Harder. 3 Bde., 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1982.

Darstellungen
Barth, K.: Vergangenheit und Zukunft (F. Naumann und Chr. Blumhardt). In: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der Dialektischen Theologie, Teil I. 3. Aufl. München 1962, 37-49.
Groth, F.: Chiliasmus und Apokatastasishoffnung in der Reich-Gottes-Verkündigung der beiden Blumhardts. In: Pietismus und Neuzeit 9 (1984), 56-116.
Jäckh, E.: Blumhardt Vater und Sohn und ihre Botschaft. 2. Aufl. Berlin 1925.
Jäckh, W.: Blumhardt. Vater und Sohn und ihre Welt. Zeugnisse und Bilder. Stuttgart 1977.
Kerlen, E.: Zu den Füßen Gottes. Untersuchungen zur Predigt Christoph Blumhardts. Mün­chen 1981.
Lejeune, R. (Hg.): Christoph Blumhardt und seine Botschaft. Erlenbach-Zürich-Leipzig 1938.
Meier, K.-J.: Christoph Blumhardt. Christ – Sozialist – Theologe. Bern- Frankfurt 1979.
Ragaz, L.: Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn – und weiter! 2. Aufl. Erlenbach-Zürich-München-Leipzig 1925.
Sauter, G.: Die Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt. Zürich- Stuttgart 1962.
Thurneysen, E.: Christoph Blumhardt. München 1926.
Zündel, F.: Johann Christoph Blumhardt. 13. Aufl. Gießen-Basel 1936.

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