Karl Barth, Das Geschenk der Freiheit: „Ein freier Theologe kommt dabei ganz gemächlich und fröhlich von der Bibel her.“

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Neben Barths Vortrag „Die Menschlichkeit Gottes“ von 1956 steht sein Vortrag „Das Geschenk der Freiheit“ von 1953 als Schlüsseltext für die Wandlung in der Theologie des späten Barths:

Das Geschenk der Freiheit. Grundlegung evangelischer Ethik

Von Karl Barth

Vom Geschenk der Freiheit zu reden ist mir aufgetragen – und das im Blick auf die Grund­legung evangelischer Ethik. Die Antwort auf die durch dieses Thema gestellte Frage mag zunächst in drei summarischen Sätzen vorausgeschickt sein. Der erste und der zweite entfalten die Begriffe der Gott eigenen und der von Gott dem Menschen geschenkten Freiheit. Der dritte zieht die Folgerung im Blick auf die Frage der Begründung der evangelischen Ethik.

Der erste lautet: Gottes eigene Freiheit ist die Souveränität der Gnade, in der er sich selbst für den Menschen erwählt und ent­scheidet, und also ganz und gar als Gott des Menschen der Herr ist.

Der zweite: Die dem Menschen geschenkte Freiheit ist die Freudig­keit, in der er Gottes Erwählung nachvollziehen und also als Mensch Gottes sein Geschöpf, sein Bundesgenosse, sein Kind sein darf.

Der dritte: Evangelische Ethik heißt Besinnung auf das dem Menschen in und mit dem Geschenk dieser Freiheit von Gott ge­botene Tun.

I.

Wir fangen damit an, daß wir uns Rechenschaft ablegen von dem, was wir von Gottes eigener Freiheit wissen können. Muß ich mich rechtfertigen, wenn ich hier und nicht anderswo und also nicht etwa bei der dem Menschen eigenen oder geschenkten Freiheit einsetze. Die Nach­richt, daß man von Gott nur reden könne, indem man vom Menschen redet, ist auch mir zu Ohren gekommen. Ich bestreite diesen Satz nicht. Er kann, wohl verstanden, das sehr Richti­ge be­sagen, daß Gott nicht ohne den Menschen ist. In unserem Zusammenhang: daß wir gerade Gottes eigene Freiheit als seine Freiheit für den Menschen zu erkennen haben, daß wir also von Gottes eige-[3]ner Freiheit nicht anders reden können als im Blick auf die Geschichte zwischen ihm und dem Menschen und also nur so, daß von da aus sofort auch von der dem Menschen geschenkten Freiheit die Rede sein muß. Der Satz möchte aber, um in diesem Sinn wohl verstanden zu werden, eines Gegensatzes bedürfen: Man kann vom Menschen nur reden, indem man von Gott redet. In dieser Allgemeinheit dürfte er unter christlichen Theologen wohl ebenfalls unbestritten sein. Es besteht aber Meinungsverschiedenheit darüber, welcher von diesen beiden Sätzen an die erste, welcher an die zweite Stelle gehört. Ich bin entschlos­sen der Meinung, daß der Satz, den ich eben den Gegen­satz nannte, der Hauptsatz ist und also an die erste Stelle gehört. Sollte es wirklich ratsam sein, Gott die Priorität, die in der Seins­ordnung ihm zuzuerkennen ja niemand sich weigern wird, in der Erkenntnisordnung abzu­sprechen: als ob es gar nicht sein könne, daß sie ihm auch hier zukomme? Ist Gott uns die erste Wirklichkeit, wie sollte uns dann der Mensch die erste Wahrheit sein? Liest man auch bei den Vertretern der Gegenmeinung den vielleicht sogar zu starken Satz: daß es sich in der dem Menschen von Gott geschenkten Freiheit vor allem um seine Befreiung von sich selbst handle, wie kommt dann der Mensch dazu, als Denker nun dennoch ausgerech­net bei und mit sich selbst anfangen zu wollen? Sollte in der Methode christlicher Theologie ausgerechnet der Gottesbegriff nur die Funktion eines Grenzbegriffs haben? Oder nur die Chiffre sein zur An­gabe eines Vakuums, das besten Falles nachträglich und uneigentlich mit Aussagen über ein Anderes, nämlich über die idealen oder geschicht­lichen Bestimmungen der menschlichen Existenz zu füllen wäre? Ist es denn so selbstverständlich, daß uns der Mensch der von Haus aus Bekannte, Gott aber der große, problematische Unbekannte ist? Ist es also ein Gesetz der Meder und Perser, daß wir nur auf Grund von dem und jenem, was wir vom Menschen zu wissen meinen, nach Gott besten Falles fragen können? Sollte nicht zu der dem Menschen und nun speziell dem christlichen Theologen von Gott geschenkten Frei­heit – ich werde am Ende dieses Vortrags auf den Punkt zurück­kommen – auch das gehören, daß er sich von dieser Zwangsvor­stellung lösen, daß er gerade in umgekehrter Richtung denken darf Und anders als in dieser umgekehrten Richtung gar nicht mehr denken kann? Ist diese ihm nicht durch Gottes Offenbarung vorge-[4]schrieben, die ihm doch zuerst und vor allem Gott und nur so und damit auch sich selbst offenbar und bekannt macht? Woher wollten wir denn wis­sen, daß es so etwas wie Freiheit überhaupt gibt und was sie sein möchte, wenn uns nicht Got­tes Freiheit als die Quelle und das Maß aller Freiheit, von ihm selbst uns zugewendet, vor Augen stünde? Wir spekulieren nicht über den Menschen hinaus, wir ab­strahieren nicht von ihm und seiner Freiheit, wir suchen und finden vielmehr gerade den konkret, den wirklich freien Menschen, wenn wir zuerst nach dem fragen, der des Menschen Gott ist: nach dessen eigener Freiheit.

Sie ist nicht einfach unbegrenzte Möglichkeit, formale Majestät und Verfügungsgewalt, leere, nackte Souveränität also. So werden wir auch die dem Menschen geschenkte Freiheit nicht verstehen können: eben darum nicht, weil sie, so verstanden, in unversöhn­lichem Wider­spruch zu Gottes eigener Freiheit stünde – weil sie, so verstanden, identisch wäre mit der fal­schen Freiheit der Sünde, in der der Mensch in Wahrheit ein Gefangener ist. Gott selbst, als Inbegriff unbedingter Macht gedacht, wäre ein Dämon und als solcher sein eigener Gefange­ner. Er ist laut seiner Offenbarung in seinem Werk und Wort darin frei, darin die Quelle und das Maß aller Freiheit, daß er der allererst sich selbst erwählende und bestimmende Herr ist. Es ist die ihm eigene Freiheit, in der er auch dem Menschen Freiheit schenkt, laut seiner Offenbarung allererst sein von ihm selbst er­wähltes und bestimmtes Sein als Vater und Sohn in der Einheit des Heiligen Geistes. So ist sie keine abstrakte Freiheit. So ist sie auch nicht die Freiheit eines Einsamen. So wird auch die dem Menschen geschenkte Freiheit nicht in irgend einer Einsamkeit vor Gott zu suchen und zu finden sein. In Gottes eigener Freiheit ist Begeg­nung und Gemeinschaft, ist Ordnung und also Überordnung und Unter­ordnung, ist Hoheit und Demut, vollkommene Autorität und voll­kommener Gehorsam, Gabe und Aufgabe: eben weil und indem sie die Freiheit des Vaters und des Sohnes in der Einheit des Heiligen Geistes ist. So wird auch die dem Menschen geschenkte Freiheit mit der Selbstbehauptung eines Einsa­men oder vieler Einsamer und also mit Zerteilung und Unordnung nichts zu tun haben kön­nen. In Gottes eigener Freiheit ist Gnade, Dankbarkeit und Frieden. Sie ist die Freiheit des in diesem Sinn lebendigen Gottes. In dieser Freiheit – [5] und nicht anders – ist Gott souverän, der Allmächtige, der Herr über Alles.

Und eben in dieser Freiheit ist er, wieder laut seiner Offenbarung, der Gott des Menschen. Sagen wir es gleich: Er ist der Gott Abra­hams, Isaaks und Jakobs. Er ist es in seiner Freiheit – und also nicht als der vom Menschen ersonnene, gebildete und erhobene, nicht als der von Israel erwählte, wohl aber als der sich selbst für sein Israel und so für den Menschen erwäh­lende, entscheidende, bestimmende Gott. Die bekannten Umschreibungen des Wesens Gottes und insbesondere seiner Freiheit mit den Begriffen des «ganz Anderen», der «Trans­zendenz» oder des «Unweltlichen» bedürfen mindestens gründlicher Klärung, wenn sie sich nicht auch auf die Bestimmung des Begriffs der menschlichen Freiheit verhängnisvoll auswirken sollen. Sie könn­ten ja auch einen toten Götzen bezeichnen. Sicher ist, daß sie in ihrer Negativität gerade das Zentrum des christlichen Gottesbegriffs nicht treffen: das strahlende Ja der freien Gnade, in welchem Gott sich dem Menschen damit verbunden und verpflichtet hat, daß er in sei­nem Sohn selbst israelitischer Mensch und als solcher eines jeden Menschen Bruder geworden ist, menschliches Wesen in die Einheit des Seins mit seinem eigenen aufgenommen hat. Ist das wahr und ist das keine zufällige Geschichtstatsache, sondern in seiner geschicht­lichen Einmaligkeit die Offenbarung des vor, über, nach und in aller Geschichte gültigen und mächtigen Willens Gottes, dann ist Gottes Freiheit – wir werden dessen zu gedenken haben, wenn wir auf die Freiheit des Menschen zu sprechen kommen – nicht in erster Linie irgend eine «Freiheit von», sondern seine Freiheit zu und für und zwar konkret: seine Freiheit für den Menschen, zur Koexistenz mit ihm, seine Selbsterwählung und Selbstbestimmung zum Herrn des Bundes mit ihm, zum Herrn und so zum Teilnehmer seiner Geschichte. Der Begriff eines Gottes ohne den Menschen ist dann in der Tat so etwas wie der eines hölzernen Eisens.

In der Freiheit seiner Gnade ist Gott für den Menschen in jeder Hinsicht, umgibt er ihn von allen Seiten, ist er sein Herr, der vor ihm ist, über ihm, nach ihm und also auch in seiner Geschichte, die seine Existenz ist, mit ihm. Er ist seiner Geringfügigkeit zum Trotz mit ihm als sein Schöpfer, der es mit ihm, seinem Geschöpf, vollkommen gut gemeint und gemacht hat. Er ist seiner Sünde zum Trotz mit ihm als [6] der, der damals in Jesus Christus war und versöhnte die Welt (und in und mit der Welt auch ihn) in gnädigem Gericht mit sich selber, so daß auch des Menschen böse Vergangenheit nicht einfach um ihrer Uneigentlichkeit willen der Durchstreichung verfallen, sondern bei ihm wohl aufgehoben ist. Er ist seinem Sein in der Verderbtheit und Vergänglichkeit des Fleisches zum Trotz mit ihm, indem er ihm als der Überwinder von damals durch seinen Geist heute und hier gegenwärtig, Kraft, Aufruf und Trost ist. Er ist seinem Tode zum Trotz mit ihm, indem er es ist, der ihm an der Grenze seiner Zukunft als Erlöser und Vollender entgegenkommt, um ihm das Ganze seiner Existenz in dem Licht zu zeigen, in welchem es in seinen Augen von jeher und durch alle Perpetieen hindurch hell gewesen ist. In diesem seinem Sein und Tun mit dem Menschen inauguriert Gott dessen Heilsgeschichte.

Gott ist sicher in anderer Weise auch vor, über, nach und mit allen seinen anderen Geschöp­fen. Nur daß wir von dieser anderen Weise, von dem, was seine Freiheit für sie bedeuten und wie er auch ihnen Freiheit schenken mag, von der Geschichte zwischen ihm und ihnen wohl dies und das ahnen, aber genau genommen nichts wissen kön­nen. Aus seiner Offenbarung und also klar und gewiß ist er uns be­kannt als des Menschen Gott, in seiner Menschenfreundlich­keit. Er war und ist es dem Menschen nicht schuldig, sich gerade für ihn zu erwählen und zu bestimmen, gerade ihm freundlich zu sein. Die Ver­mutung, daß irgendwelche unbeträcht­lichste Wesen des außer­menschlichen Kosmos solches viel besser verdienen möchten als wir, ist schon wegen ihrer tiefen Erbaulichkeit sicher nicht einfach von der Hand zu weisen. Aber wie dem auch sei: Gott sagt uns, indem sein Sohn unser Bruder wurde und ist: daß er gerade uns lieben wollte, geliebt hat, noch liebt und wieder lieben wird, daß er sich selbst dazu erwählt und bestimmt hat, gerade unser Gott zu sein.

Diese Freiheit Gottes in seinem Sein, Wort und Werk ist der Inhalt des Evangeliums: ist das, was die christliche Gemeinde in der Welt – indem sie es sich durch das Wort seiner Zeugen sagen läßt – in ihrem Glauben wahrnehmen, auf was sie mit ihrer Liebe antworten, auf was sie ihre Hoffnung und also ihre Zuversicht gründen, was sie der Welt – als der Welt, die diesem freien Gott gehört – verkündigen darf. Das zu erkennen und zu bekennen, ist ihr Vorrecht und Beruf. Indem [7] sie Jesus Christus als das Werk und die Offenbarung der Freiheit Gottes er­kennt und bekennt, ist sie selbst eine Gestalt seines Leibes: ist sie Jesu Christi irdisch-ge­schichtliche Existenzform, ist er mitten unter ihr. Man bemerke aber, daß wir es in ihr, ihrem Wort und Werk bereits mit einem, wenn auch gewiß dem höchsten Akt der Freiheit des Men­schen, der ihm geschenkten Freiheit zu tun haben. Man bedenke und wahre hier also die Di­stanzen! Die Existenz der christlichen Gemeinde, ihr Glauben, Lieben und Hoffen, ihre Ver­kündigung gehört wohl zu der in Gottes eigener Freiheit in Gang gesetzten Heilsgeschichte. Sie gehört eben insofern dazu, als ihr Er­kennen und Bekennen ein besonderes Werk der dem Menschen im Verlauf dieser Geschichte geschenkten Freiheit ist. Es ist und bleibt aber ein menschliches Werk menschlicher Freiheit. Es ist also nicht an dem, daß das Werk der Freiheit Gottes erst in und mit diesem Werk menschlicher Freiheit anhöbe, daß es in diesem zu seinem Ziele käme und also gewissermaßen in dieses eingeschlossen wäre. Es ist und bleibt diesem vielmehr überlegen und jenseitig. Es hat dieses Werk menschlicher Freiheit dem der göttli­chen gegenüber wie seinen eigenen Anfang, so auch seinen eigenen Gang und seine eigenen vor­läufigen und relativen Ziele, die nicht zusammenfallen und nicht zu verwechseln sind mit dem Ziel der Heilsgeschichte, dessen Setzung wie die Setzung ihres Anfangs das Werk der Freiheit Gottes sein wird. Gottes eigene Freiheit und ihr Werk ist des christlichen Er­kennens und Bekennens Ursprung und Gegenstand und bleibt es. Es ist genug, daß es in dieser Bezie­hung zu Gottes Freiheit geschehen, daß es ihr Zeuge sein darf. Jahwe wird und ist mit Israel solidarisch, aber nicht identisch und so auch nicht Jesus Christus als Gottes Wort und Werk mit der Gemeinde, mit ihrem in der ihr geschenkten menschlichen Freiheit zu verrichtenden Werk, mit ihrem Kerygma. Das Haupt wird nicht Leib und der Leib wird nicht Haupt. Der König wird nicht sein Bote und der Bote wird nicht sein König. Es ist genug, daß die Gemein­de und ihr Werk durch Jesus Christus hervorgerufen, geschaffen, geschützt und erhalten wird und daß sie ihn bezeugen darf: daß und wie Er gekommen und gegenwärtig und der Kommen­de ist, Er damals, heute und dann: das Wort und Werk der Freiheit Gottes, seiner allmächtigen Menschenfreund­lichkeit. [8]

II.

In dieser seiner eigenen Freiheit schenkt Gott dem Menschen seine, die menschliche Freiheit. Von diesem Gottesgeschenk ist nun zu reden. Wobei wir es für diesmal wagen müssen, die sogenannte natürliche, die des Menschen Existenz als solche in ihrer Geschöpflichkeit konsti­tuierende und charakterisierende und andererseits die ihm als die des ewigen Lebens verhei­ßene Freiheit zusammen zu sehen mit dem, was man die christliche, die ihm trotz und in sei­ner Sünde, trotz seines Seins im Fleische, trotz seiner Bedrohung durch den Tod. von Gott geschenkte Freiheit nennt. Von dieser ihrer zweiten, mittleren Gestalt her muß ja auf alle Fälle auch jene erste und jene dritte, muß die menschliche Freiheit überhaupt verstanden werden. Denn in ihrer Gestalt als die «Freiheit eines Christenmen­schen» ist sie uns durch Gottes Offenbarung bekannt gemacht.

Wir gehen davon aus, daß des Menschen Freiheit das Geschenk Gottes, die ihm frei gemachte Zuwendung seiner Gnade ist. Daß der Mensch frei ist, kann in keinem Sinn anders gesagt werden als in der Meinung, daß es ihm von Gott gegeben wird, frei zu sein. Des Men­schen Freiheit ist Ereignis in jener Geschichte, der Heilsgeschichte, und hört nie auf, das Ereignis zu sein, in welchem der freie Gott es dem Menschen gibt und in welchem es der Mensch von ihm empfängt, frei zu sein. Darin ist Gott selbst für den Menschen frei, daß er ihm das gibt: seiner­seits, nicht in göttlicher, aber in seiner mensch­lichen Weise recht frei zu sein. Was immer in jener Geschichte sonst geschehe: es geschieht im Verfolg, im Rahmen, nach dem Maß (auch unter dem Gericht!) dieser Gnadentat. Von diesem Geschenk des freien Gottes her gesehen, ist der Begriff eines unfreien Menschen ein Widerspruch in sich selbst. Der unfreie Mensch ist das Geschöpf des Nichtigen, die Mißgeburt seines eigenen Hochmuts, seiner eige­nen Träg­heit, seiner eigenen Lüge. Unmöglich ist von da aus freilich auch der Begriff einer Freiheit, auf die sich der Mensch Gott gegen­über als auf seinen Besitz, als auf sein Recht, berufen könnte. Un­möglich die Vorstellung, daß er sich seine Freiheit selbst zulegen, sie verdienen, erwerben, um irgend einen Preis erkaufen könnte. Un­möglich erst recht die Vorstellung, daß er sie als Gegenspieler Gottes erobern, sie Gott abtrotzen und entreißen könnte. Sein wirkli­ches [9] Können hat er nicht und nimmt er sich nicht: er kann, indem er es von Gott empfängt und entgegennimmt zu können. Das Ereignis seiner Freiheit ist, von seiner Seite gesehen, das Ereignis seiner Dank­barkeit für diese Gabe, seiner Verantwortung als ihr Empfänger, seiner höchsten Sorgfalt im Umgang mit ihr – und vor und über allem: das Ereignis seiner Ehrfurcht gegenüber der Freiheit Gottes selbst, der sich ihm mit dieser Gabe nicht in die Hand gibt, wohl aber ihn in seine Hand nimmt. Sonst ist es nicht das Ereignis seiner Frei­heit.

Das Geschenk der Freiheit ist aber in dem Ereignis, in welchem es dem Menschen gemacht wird, mehr als ein bloßes Angebot, neben dem dann auch noch andere in Frage kämen. Es ist nicht nur eine ihm gestellte Frage, nicht nur eine ihm gebotene Chance, nicht nur eine ihm eröffnete Möglichkeit. Es wird, indem es gemacht wird, ganz, eindeutig und unwideruflich gemacht. Es bleibt, was es ist, auch wenn es, in die Hand des Menschen übergehend, ver­kannt, nicht gebraucht oder mißbraucht und also zu seinem Gericht wird. Wir reden ja von des freien Gottes Geschenk. Es versetzt den Men­schen nicht in die Situation des Herkules am Scheidewege. Eben aus dieser falschen Situation reißt es ihn vielmehr heraus. Es ver­setzt ihn aus dem Schein in die Wirklichkeit. Die dem Menschen von Gott geschenkte Freiheit ist frei­lich Wahl, Entscheidung, Entschluß, Tat – aber das alles echt und also in der rechten Rich­tung. Was wäre das für eine Freiheit, in der der Mensch neutral wäre, in der seine Wahl, seine Entscheidung, sein Entschluß, seine Tat sich ebenso wohl auf das Unrecht wie auf das Recht richten könnte? Was wäre das für ein Können? Frei wird und ist er, indem.er sich selbst in Übereinstimmung mit der Freiheit Gottes wählt, entscheidet und entschließt. Sie, die die Quel­le seiner Freiheit ist, ist auch ihr Maß. Entzieht er sich dieser Übereinstimmung, so kann das nur als das Werk der Arglist des Nichtigen und seines eigenen Unvermögens, nicht aber als das Werk seiner Freiheit verstanden werden. Es ist solches, es ist die Alternative der Sünde in der dem Menschen von Gott geschenkten Freiheit nicht vorgesehen, nicht inbegriffen, aus ihr nicht zu erklären, von ihr her auch theoretisch nicht zu recht­fertigen, nicht zu entschuldigen. Es gibt gerade in der Freiheit kein de iure der Sünde. Der Sünder ist kein freier, sondern ein gefangener, [10] ein versklavter Mann. Im Ereignis echter menschlicher Freiheit geht die Türe zur Rechten auf, die Türe zur Linken zu. Eben das ist es, was dieses Gottesgeschenk so herr­lich, aber auch so furchtbar macht.

Als Gottes Geschenk kann die menschliche Freiheit mit der Frei­heit Gottes selbst in keinem Widerspruch stehen. Daraus folgen die weiteren Abgrenzungen, auf die, als wir von der Frei­heit Gottes sprachen, bereits hingewiesen wurde. Wir sagen jetzt unterstreichend: (1) Ein unbestimmtes Offensein für die Wahl irgendwelcher Möglich­keiten, ein Herrentum des Zufalls oder der Willkür kann mit der dem Menschen von Gott geschenkten Freiheit nichts zu tun haben, so gewiß der freie Gott, der sie ihm schenkt, kein blindes Schicksal, kein Despot, sondern der sich selbst in ganz konkretem Sinn er­wählende und bestimmende Herr, sich selber Gesetz ist. (2) In irgend einer Einsamkeit des einzelnen Menschen und also ohne seinen Mit­menschen kann und wird sich das Ereignis der menschlichen Freiheit auch nicht abspielen. Gott ist a se, er ist aber pro nobis. Pro nobis! Es ist nämlich wohl wahr, daß der, der dem Menschen Freiheit schenkt, weil er des Menschen Freund ist, dabei auch je pro me ist. Ich bin aber nicht der, sondern nur ein Mensch und auch das nicht ohne meinen Mitmenschen. Ich kann nur in der Begegnung und in der Gemeinschaft mit ihm Empfänger dieses Geschenkes sein. Gott ist nur pro me, indem er pro nobis ist. Es kann (3) des Menschen Freiheit doch wohl nur sekundär und nachträglich die Freiheit von irgendwelchen Beschränkungen und Be­drohungen – sie muß primär eine «Freiheit für» sein. Und (4) sie kann nicht wohl als des Menschen Freiheit zu seiner Selbstbehauptung, Selbsterhaltung, Selbstrecht­fertigung, Selbst­errettung – und wäre sie die seines Selbst in dessen höchster Eigentlichkeit – verstanden wer­den. Beides aus demselben Grunde nicht: weil Gott selbst primär «frei für» ist – der Vater für den Sohn, der Sohn für den Vater in der Einheit des Heiligen Geistes, der eine Gott für den Menschen als sein Schöpfer, als der Herr des Bundes mit ihm, als der Inaugurator und Vollen­der seiner Geschichte als Heilsgeschichte. Gott sagt Ja. Nur in und mit diesem Ja verneint er dann auch, erklärt und erweist er sich also auch «frei von» allem ihm Fremden und Feindseli­gen. Und wieder nur in und mit seinem Ja ist er dann auch frei für sich selbst, zu seiner eigenen Ehre. [11] Die dem Menschen geschenkte Freiheit ist Freiheit in dem so, in dem durch Gottes eigene Freiheit abgesteckten Raum, nicht anders.

Und so ist sie Freudigkeit. Weil sie das große, so gar nicht selbst­verständliche, so ganz unverdiente, von jeder Seite gesehen so wunderbare Geschenk ist, in dessen Empfang der Mensch Mensch sein und als solcher immer wieder aufleben darf! Weil sie als dieses Ge­schenk von Gott kommt, unmittelbar aus dem Quell und Ursprung alles Guten, und jeden Morgen neu der Erweis seiner allmächtigen Treue und Barmherzigkeit ist! Weil sie als sein Geschenk ohne Zweideutigkeit ist und nicht versagen kann! Weil sie in nichts Geringerem als darin besteht, daß der Mensch in seiner ganzen unüberbrückbaren Verschiedenheit und Ent­fernung von Gott dessen Nachahmer werden und sein darf! Wie sollte Freiheit da nicht Freu­digkeit sein? Sicher, der Mensch ist ihr nicht gewachsen. Mehr noch: er ist ihr gegenüber auf der ganzen Linie ein Versager. Es ist ja wahr genug, daß er sie als die ihm in und mit seiner Erschaffung geschenkte und also natürliche Freiheit nicht mehr kennt und an­dererseits noch nicht kennt als die Freiheit, die ihn am Ziel seiner Geschichte, in der ewigen Vollendung sei­ner Existenz, erwartet. Und es ist wieder wahr genug, daß er sie auch als die ihm heute durch den gegenwärtigen Heiligen Geist des Vaters und des Sohnes geschenkte Freiheit nur trotz Sünde, Fleisch und Tod, trotz der Welt, trotz seiner Angst in der Welt, trotz seiner eige­nen weltlichen Art, nur sich selber zum Trotz und also als ein von allen Seiten Angefochtener kennen und haben kann. Das ändert aber nichts daran, daß er sie, sofern er sie auch nur ein wenig kennt, kennen und leben darf und muß als eine unvergleichliche und unversiegliche Freudigkeit. Und wenn Mancher sie gar nicht – wenn sogar ein Jeder sie manchmal gar nicht zu kennen und zu haben meint, so ändert das wieder nichts daran, daß sie als das auch ihm zuge­wendete Geschenk Gottes da ist: am Anfang, am Ziel, auch in der Mitte seines Weges, unter allen Umständen auch heute – daß sie bereit ist, auch von ihm gelebt und dann ganz bestimmt als Freudig­keit gelebt zu werden: sei es denn unter Seufzen, aber als Freudigkeit!

Des Menschen Freiheit ist die Freudigkeit, in der er Gottes Erwählung nachvollziehen darf. Gott hat sich selbst in seinem Sohn zu des Menschen Gott, Herrn, Schöpfer, Heiland, Hirten und Voll-[12]ender erwählt und eben damit den Menschen zu seinem Geschöpf, zu seinem Bundesgenossen, zu seinem Kind, zu seinem Menschen. Sich selbst zum Gott des Menschen­volkes und also das Menschen­volk zu seinem Volk! Die einem Menschen geschenkte Freiheit ist die Freudigkeit, in der er diese göttliche Wahl in seiner eigenen Wahl, Entscheidung, Ent­schließung und Tat anerkennen und bestätigen, in der er gewissermaßen ihr Echo oder Spiegel sein darf. Ein Mensch: inmitten aller Menschen auch er, sicher nicht als Erster sondern im Gefolge und in den sichtbaren oder unsichtbaren Spuren vieler Ande­rer – sicher nicht als Einziger, sondern zusammen mit vielen Bekann­ten und Unbekannten, vielleicht von Manchen oder doch von Einigen tröstlich und hilfreich begleitet, vielleicht ein wenig traurig im Nach­trab hinter vielen Andern, vielleicht auch vielen Anderen voraus und also vorläufig fast allein, ohne Nebenmänner, auf ganz neuen, ungebahnten Wegen. Also sicher nicht nur er: er auch für sich, aber nicht nur für sich, sondern in irgend einer lebendigen Beziehung zu Anderen, er als Glied von Gottes Volk, er in Verwirklichung von dessen Erwählung, er als der jedem Anderen seiner Glieder Ver­pflichtete – aber als dieses besondere Glied des Volkes Gottes, bei seinem besonderen Namen gerufen, in seinen besonderen Beziehun­gen verpflichtet gerade er! Indem er in seiner Wahl, Entscheidung, Entschließung und Tat Dieser sein darf, ist er ein freier Mensch. Seine Freiheit besteht in der gerade ihm geschenkten Freudigkeit zum Gehorsam. Sie wird in jedem Schritt, in welchem er sie als die ihm geschenkte Freiheit verwirklicht, sein Wagnis sein. Ein Aben­teuer auf gut Glück? Nein, das Wagnis der Verantwortung vor ihrem Geber und vor denen, denen sie auch gegeben wurde, auch gegeben ist, auch gegeben werden soll: das Wagnis des Gehorsams, in wel­chem es in diesen beiden Dimensionen klar und einfach um jenen Nachvollzug geht. Darin besteht also der Gehorsam, für den der Mensch frei werden darf: daß er sich selbst als Glied des Volkes Gottes so will, wie Gott ihn will.

Das heißt aber allgemein: als sein Geschöpf, in der den Menschen von anderen Wesen aus­zeichnenden, jedenfalls unterscheidenden Bestimmung, Beschaffenheit und Begrenzung sei­ner, der mensch­lichen Natur. Gott will ihn wie alle anderen Menschen und mit ihnen zusam­men in der Hoheit und Niedrigkeit, in dem Reichtum und in [13] der Armut, in der Verhei­ßung und in der Bedrängnis seiner Mensch­lichkeit. Es ist wahr, daß er nicht mehr weiß, was das ist: seine Menschlichkeit. Er ist ja der Gott und damit auch sich selbst, seiner Natur ent­fremdete Mensch. Aber der freie Gott hat darum nicht auf­gehört, ihn als sein und zwar als dieses sein menschliches Geschöpf zu wollen und für sich in Anspruch zu nehmen. Und so hat auch der Mensch nicht aufgehört, dieses Geschöpf und als solches von Gott beansprucht zu sein. Indem ihm Gott Freiheit schenkt, wird er auch und zuerst frei dazu, nicht mehr, aber auch nicht weniger als eben menschlich zu sein. Was immer Gott sonst von ihm will: es wird auch eine Bestätigung seiner geschöpflichen Natur sein. Und was immer der Mensch in der ihm von Gott geschenkten Freiheit wählen wird, er wird es auch in der Wahl einer der ihm durch seine mensch­liche Natur gebotenen Möglichkeiten wählen müssen. Kann er sich seines Seins und Tuns als Mensch nicht rühmen, weil die Freiheit dazu Gottes Geschenk ist, so soll er sich seiner aus demselben Grund auch nicht schämen. Besondere Künste und Leistungen sind damit, daß ihm die Freiheit dazu geschenkt ist, nicht von ihm erwartet, wohl aber, daß er sich nicht zu vornehm dünke und auch nicht zu faul sei, das, was Gott mit ihm will, indem er Mensch sein darf, seinerseits ernst­lich und ganz zu wollen. Es kann nicht fehlen, daß er in diesem Wollen Gott loben und seinen Nächsten lieben wird.

Gott will aber den Menschen darüber hinaus als seinen Bundes­genossen. Es gibt eine Causa Dei in der Welt. Gott will das Licht, nicht die Finsternis, den Kosmos, nicht das Chaos – den Frieden, nicht die Unordnung. Er will also den das Recht Liebenden und auch zu seinem Recht kommenden, nicht den Unrecht tuenden und Unrecht leidenden Menschen, den Geistes- und nicht den Fleisches­menschen, den Menschen, der ihm und nicht den, der einem anderen Gesetz verbunden und verpflichtet ist. Er will des Menschen Leben, nicht seinen Tod. In die­sem Willen ist er sein starker Herr, Heiland und Hirte, begegnet er ihm heilig und barmherzig, übt er Gericht und Vergebung, verwirft und nimmt er an, verdammt und errettet er. Es ist hier nicht der Ort, die Gottestat der Versöhnung, auf die wir damit hinweisen, auch nur in ihren wichtigsten Zügen näher zu charakterisieren. Das ist sicher, daß Gott auch das Ja und das Nein, das er in seiner Versöhnungstat spricht, nicht allein sprechen, daß [14] er auch hier nicht ohne den Menschen sein, sondern ihn an seiner Sache beteiligen will: nicht als einen zweiten Gott, sondern als Men­schen, aber in seiner Nachfolge, als seinen Mitarbeiter! Er will, daß er – und das ist die Bedeutung des Bundes für den Menschen – sein göttliches Ja und Nein als Mensch mitspreche. Eben dazu ruft er ihn auf, indem er sich ihm verbündet. Und eben dazu schenkt er ihm Freiheit. Die Errettung des Menschen aus der Entfremdung und Verkehrung, deren er selbst sich schuldig gemacht hat und noch schuldig macht, und aus der Gefangenschaft und Sklaverei, in die er damit gefallen ist und die er noch zu erleiden hat, ist das Werk des freien Gottes ganz allein. Es ist in Jesu Christi Tod ein für allemal vollkommen geschehen: keiner Nachhilfe und keiner Wiederholung bedürftig, in seiner Auferstehung – solange die Zeit währt, nur in ihr, in ihr aber klar und deutlich – offenbar gemacht. Keine Rede davon, daß es, um wirksam, mächtig und dem Menschen bekannt zu sein, erst auch des Menschen eigene Tat, in seiner Existenz noch einmal Ereignis werden müßte. Das heißt aber wieder nicht, daß er ihm bloß in der Rolle eines applaudierenden Zuschauers beiwohnen könnte. Hier greift das Geschenk der Freiheit ein. Sie ist auch in dieser Hinsicht seine menschliche Freiheit: mit der Freiheit, in der Gott in Jesus Christus für ihn ist, nicht zu ver­wirren. Sie ist aber auch in dieser Hinsicht die ihm von dem freien Gott geschenkte Freiheit zu echtem, menschlichem Gehorsam: Im Glauben als dem Gehorsam des Pilgers, der den Übergang von der Sünde zur Ge­rechtigkeit, vom Fleisch zum Geist, vom Gesetz zur Herr­schaft des lebendigen Gottes, vom Tode zum Leben im Blick und in der Zu­versicht auf des freien Gottes Tat täglich und stündlich in kleinen, vorläufigen, bescheidenen, aber bestimmten Schritten an seinem Ort bestätigen und wahrmachen darf. In der Liebe als dem Gehorsam des Zeugen, der diesen Übergang als Gottes für Alle vollbrachte siegreiche Entscheidung, als das auch ihnen scheinende Licht unter seinen nahen und fernen Brüdern und Schwestern anzeigen darf. Solcher Gehorsam ist des Menschen menschliche Antwort auf die ihm in Jesus Christus zugewendete göttliche Rechtfertigung, Heiligung, Berufung. Seine Freiheit ist die Freiheit zum Werk solcher Dankbarkeit. Sie ist in diesem konkreten Sinn: die Freiheit dessen, den Gott will als seinen Bundesgenossen und den er als solchen [15] nicht sich selbst überläßt, die «Freiheit eines Christenmenschen». Mehr als das Werk solcher Dankbarkeit, mehr als Glau­ben und Liebe ist nicht von ihm erwartet, aber allerdings auch nicht weniger und vor allem: nichts Anderes! Denn für den in diesem Werk zu leistenden Dienst an der Causa Dei in der Welt ist er frei gemacht.

Und Gott will den Menschen darüber hinaus als sein Kind. Er will nicht nur den Menschen, der in der Ehrfurcht des Geschöpfs vor ihm – und in der Dankbarkeit des Bundesgenossen neben ihm existiert. Er will den Menschen, der in der Geborgenheit und Herr­lichkeit unmit­telbarer Zugehörigkeit zu ihm selbst bei und mit ihm Mensch ist. Wir blicken damit in die Zukunft, auf den Menschen des ewigen Lebens. Als diesen kann sich der Mensch jetzt und hier noch nicht – auch im Glauben und in der Liebe noch nicht – sehen und verstehen. Als dieser ist er sich selber zukünftig, erst verheißen, kann er sich selber erst hoffen. Nicht als ob er dieser nicht schon wäre! In der Tat des freien Gottes, in Jesus Christus ist er Gottes Kind. Aber noch ist er ja nur Pilger und Zeuge des freien Gottes. Noch kann er ihn erst anrufen aus der Feme und aus der Tiefe: «Unser Vater, der Du bist in den Himmeln!» Noch erkennt er sich nicht als den, der in der Geborgenheit und Herrlichkeit der Kinder bei und mit ihm ist. Noch ist er sich selbst und sind ihm auch seine Mitmenschen, auch seine Brüder und Schwe­stern in der Gemeinde als Kinder Gottes rätselhaft-noch ist ihm dieses Ziel des Willens Gottes mit dem Menschen verborgen und nicht offenbar. Aber die ihm von Gott geschenkte Freiheit hat eine Dimension, in der sie noch einmal und ganz neu, entscheidend und abschließend, auch hier eingreift. Sie ist die Freiheit eben dazu: Gott jetzt und hier schon als unseren Vater anzurufen – uns gegeben, die wir uns doch als seine Kinder noch gar nicht sehen und verste­hen können! Sie ist also die Freiheit, vom Ersten, von der uns jetzt und hier schon offenbaren Tat des freien Gottes her, nach dem Letzten, der Offenbarung ihrer Frucht, nämlich unserer Geborgenheit und Herrlichkeit als die ihm un­mittelbar Zugehörigen auszuschauen: seufzend, aber in allem Seufzen getröstet und also unentwegt auszuschauen. Sie ist die Frei­heit, in dieser Ausschau zu leben, zu leiden, zu sterben, und vorher Und inzwischen, solange es Tag ist: zu wirken, nach jedem Fall auch wieder aufzustehen, zu arbeiten und nicht müde zu wer­den. Aber [16] das hängt daran, daß wir von dieser Freiheit der Ausschau Gebrauch machen. «Jesu, gib gesunde Augen, die was taugen, rühre meine Augen an!» Der Mensch hat die Frei­heit zu dieser Bitte. Und in dieser Bitte hat er die Freiheit, auf das große Licht, auf das große Sehen zu hoffen: für die Welt, für die Anderen, für die Kirche, für sich selber. Der Christ ist der Mensch, der von dieser Freiheit Ge­brauch macht und also in dieser Bitte und Hoffnung lebt: dem Letzten entgegen, das die Enthüllung des Ersten sein wird.

III.

Wir wenden uns zu der Frage: was von den aufgezeigten Voraus­setzungen her zur Grundle­gung evangelischer Ethik zu lernen ist? Es ist klar, daß wir diese Grundlegung hier nicht voll­ziehen, sondern nur eben in einigen Strichen skizzieren können.[1]

Der freie Mensch ist der in einer ganz bestimmten Weise wählende, sich entscheidende und entschließende und demgemäß in Gedanken, Worten und Werken handelnde Mensch. Die Bestimmtheit, in der er handelt, folgt aus dem Wesen und Charakter der ihm geschenkten Freiheit. Man kann darum sehr wohl eben seine Freiheit das ihm gegebene Gesetz oder Gebot nennen. Er tut das Gute, wenn sein Handeln dem Imperativ der ihm geschenkten Freiheit entspricht. Er tut das Böse, wenn sein Handeln nicht diesem, sondern einem ande­ren, seiner Freiheit fremden Gesetz folgt. Aber diese Definitionen bedürfen der Ergänzung. Seine Frei­heit, die das Gesetz seines Handelns ist oder nicht ist und also dessen Kriterium darstellt, ist das Geschenk, von dem wir hörten, daß es ihm je in einem Ereignis der Geschichte zwischen dem freien Gott und ihm selbst zuteil wird. Das bedeutet: es gibt kein Zurücktreten des Schen­kenden hinter sein Geschenk, des Gesetzgebers hinter das Gesetz, es gibt kein Verblassen der Freiheit Gottes hinter der menschlichen Freiheit- Je von ihm kommt vielmehr jeweils die Bestimmtheit und Gestalt, in der die Freiheit dem Menschen Gesetz und Kriterium seines [17] Handelns ist. Gottes konkretem, ja konkretestem Gebieten unter­steht der freie Mensch, denn je in seinem konkretesten Gebieten bekommt und hat die menschliche Freiheit und also der Imperativ, der an den Menschen ergeht und an dem er gemessen ist, seine je­weils maßgeben­de Gestalt. Gott ist immer des Menschen Schöpfer, Versöhner und Erlöser und will den Men­schen immer als sein Geschöpf, seinen Bundesgenossen, sein Kind. Aber was das für je die­sen Menschen und für diesen hier und dort, heute und morgen bedeutet, das entscheidet sich in des freien Gottes freiem Wort, wie es in der Geschichte zwischen ihm und dem Men­schen, auch jedem einzelnen Menschen, immer neu gesprochen wird. Im Verhältnis zu diesem sei­nem gebietenden Wort ist des Menschen Handlung, sein Ethos gut oder böse. Wobei von der göttlichen wie von der menschlichen Freiheit her, so wie wir beide nun verstanden haben, für den Zu­sammenhang und die Konsequenz und für den Ausschluß aller Willkür und Zufällig­keit dieses Imperativs und Kriteriums gesorgt ist.

Und nun ist unter Ethik doch wohl zu verstehen: der wissen­schaftlich, aber vielleicht auch ganz primitiv, in engerem oder wei­terem Gesichtskreis unternommene Versuch einer Beant­wortung der Frage nach Gut und Böse im menschlichen Handeln.

Ethik kann von unseren Voraussetzungen her nur evangelische Ethik sein. Es kann also die Beantwortung jener Frage unter keinen Umständen darin bestehen, daß der Mensch sich selber oder Anderen das gebietende Wort Gottes in Form einer von ihm aufgefundenen und aufgerichteten Satzung, deren Inhalt ein Kompendium der ihm gebotenen und verbotenen Handlungen wäre, vorhält, damit er an Hand dieser Satzung darüber befinde, was Gut und was Böse ist. Die Heilige Schrift ist keine solche Satzung und sie kann auch nur mißbräuchlich zur Aufstellung einer solchen gebraucht werden. Der Ethiker kann sich ja weder an die Stelle des freien Gottes, noch an die des freien Menschen, geschweige denn an beide zugleich stellen, er kann ja mit seinem Wort weder das Ereignis des göttlichen Ge­bietens noch das des menschli­chen Hörens und Gehorchens oder Nichthörens und Nichtgehorchens vorweg nehmen wollen. Mit Welcher Autorität könnte er – und wäre es in Form von Bibelworten – sagen, was dieser und dieser Mensch in dieser und dieser Stunde [18] unbedingt tun und lassen soll? Wie müßte er ihn in solcher An­maßung auch in bester Absicht in die Irre führen! Und was gilt’s: in der Frage nach dem Konkretesten, was Gott von diesem Menschen heute und hier will, und nach dem Konkretesten seines dem Willen Gottes entsprechenden Handelns – eben in diesem Konkretesten fällt aber die Entscheidung zwischen Gut und Böse – müßte und würde er ihn mit seiner Satzung, und wäre diese noch so spezifiziert, doch allein lassen – und nun doch nicht mit Gott, sondern mit sich selbst, mit seinem Gewissen oder mit dem Kairos oder mit seinem Ermessensurteil als letzter Instanz allein lassen. Gerade indem er ihm sein Handeln vorschreiben wollte, würde er ihm Steine statt Brot bieten.

Die Ethik sage doch dem Menschen von Anfang an, daß er es in der Frage nach dem Guten oder Bösen seines Tuns gerade nicht mit seinem Gewissen, nicht mit dem Kairos, nicht mit seinem Er­messensurteil, nicht mit irgend einem greifbaren oder ungreifbaren Natur- oder Geschichtsgesetz, nicht mit irgendwelchen individuellen oder sozialen Idealen und zu aller­letzt mit seiner eigenen Willkür, sondern als freier Mensch mit dem Willen, Werk und Wort des freien Gottes zu tun hat! Ethik ist eine Theorie des menschlichen Handelns. Das spricht nicht gegen ihr Unternehmen und seine Not­wendigkeit. Aber darum wird es in dieser Theorie allerdings nicht gehen können, den Menschen mit einem Programm auszurüsten, in dessen Abwicklung er dann die Aufgabe seines Lebens zu er­blicken – oder auch mit Prinzipien, in deren Auslegung, Anwendung und Exerzitium er dann sein Handeln zu gestalten hätte. Sie kann und soll ihn aber darauf hinweisen, daß jeder einzelne seiner Schritte den Charakter einer bestimmten, je immer wieder neuen und be­sonderen und immer direkten Verantwortung gegenüber dem ihm immer wieder neu, besonders und immer direkt begegnenden Gott hatte, hat und haben wird: Entsprechung oder Widerspruch und so gut oder böse, Betätigung oder Verleugnung und Verlust der ihm geschenkten Freiheit. Sie kann und soll ihn daran erinnern, daß er als Mensch Gottes mit dem Gott des Menschen konfrontiert ist – ihn darauf aufmerk­sam machen, daß sein Handeln in diesem Licht steht – ihn damit anleiten zur rechten Beurtei­lung und zur rechten Wahl der ihm scheinbar in Fülle offen stehenden Möglichkeiten, [19] von denen doch immer nur eine die wahrhaft mögliche war, ist und sein wird. Sie kann und soll ihn also als evangelische Ethik belehren: als Ethik der freien Gnade.

Sie wird als solche das Aussprechen unbedingter konkreter Imperative die Sache Gottes sein lassen, ihren Dienst aber darin sehen, einzuschärfen, daß und inwiefern des Menschen Leben durchgehend unter den von Gott ausgesprochenen unbedingten konkreten Imperativen steht. Nicht daß es nicht auch bedingte konkrete Imperative gäbe, die ein Mensch dem anderen zuzurufen hat! Zum Wagnis des Gehorsams in der Begegnung und Gemein­schaft von Mensch zu Mensch und also zum Handeln in der dem Menschen geschenkten Freiheit gehört zweifel­los auch das Wagnis, in welchem Einer den Anderen zu diesem und diesem bestimmten Tun anzuweisen, einzuladen, aufzurufen, aufzufordern, ihm also eine bestimmte Entscheidung zuzumuten hat: im Aufblick zu dem freien Gott, der auch des Anderen Gott, und im Appell an die menschliche Freiheit, die auch ihm geschenkt ist und also in dem Mut, der ge­rade aus der Demut vor Gott und dem Nächsten erwächst, in der solch bedingtes Heißen allein recht getan sein kann und in der Offenheit und Bereitschaft, sich das auch von ihm gefallen zu lassen. Aber solcher gegenseitige konkrete Aufruf kann nur Ereignis, wird also die Sache der in der Ethik zu visierenden Praxis, des Ethos, nicht aber – oder eben nur indirekt – die der Ethik sein, die ja eben Theorie und nicht Praxis (wenn auch Theorie der Praxis!) ist, deren Pro­blem ja gerade die Frage nach dem Ethos, nach Recht und Unrecht alles und so auch dieses menschlichen Tuns ist. Es dürfte zum Ethos des Ethikers gehören, daß er als solcher nicht zu viel, nicht Gesetz­geber sein wollen darf.

Ethik ist Besinnung auf das dem Menschen in und mit dem Ge­schenk seiner Freiheit gebotene Tun. Im Vollzug dieser Besinnung wird der Ethiker nun allerdings auch nicht zu wenig wol­len dürfen. Auch er wolle das, was er soll und kann! Das dürfte sich aber aller­dings in dem Hinweis darauf, daß des Menschen Leben unter den von Gott ausgesprochenen Imperativen verläuft, nicht erschöpfen. Ethische Besinnung soll und kann ausgreifen auf die Frage: inwie­fern dem so ist? Ist doch weder die Freiheit, in der Gott gebietet, noch die Freiheit, in der der Mensch ihm gehorchen darf, eine leere [20] Form. Es haben vielmehr diese beiden Räume, an deren Grenz- und Berührungspunkt sich alles menschliche Handeln abspielt, je ihre besonde­ren, bestimmten Inhalte, Töne und Konturen, an denen sich die ethische Besinnung orientie­ren soll und kann. Sie kann und soll von der Erkenntnis ausgehen, daß der freie Gott, der des freien Menschen Gebieter ist, auf alle Fälle dessen Schöpfer, Versöhner und Erlöser ist, und der freie Mensch, nach dessen Verhältnis zu Gottes Gebot gefragt ist, auf alle Fälle dieses Gottes Geschöpf, auf alle Fälle sein Bundesgenosse, auf alle Fälle sein Kind. Sie soll und kann diese Erkenntnis aus ihrer Quelle – und hier greift die Heilige Schrift ein! – schöpfen, in der Orientierung an ihr immer wieder erneuern, präzisieren und korrigieren. Sie soll und kann sich auch in der Geschichte und Gegenwart der christlichen Gemeinde umsehen, sich durch den Gebrauch, den die Väter und Brüder von der Freiheit eines Christenmenschen gemacht haben und noch machen, mahnen, anregen, bereichern, vielleicht auch beunruhigen und war­nen lassen. Sie ist also beim Vollzug ihres Hinweises auf Gottes maßgebendes und richtendes Wort wahrhaftig nicht ohne Anhaltspunkte. Ihr Hinweis wird, in jener Erkenntnis Gottes und des Menschen begründet, Profil haben und nicht in irgend ein Dunkel, sondern auf den wirk­lichen Gott, den wirklichen Menschen und ihre wirkliche Begegnung zeigen. Es wird ihr Fragen, indem es ein Fragen ist und bleibt, kein Fragen ohne Antwort, son­dern, wie indirekt immer, eben doch Zeugnis von Gottes konkrete­stem Wort sein. Sie kann und soll echte For­schung und echte Lehre sein: beides gerade darum echt, weil sie ihrem Gegenstand die Ehre nicht nimmt, sondern läßt, sein eigentliches und letztes Wort selbst zu sprechen, ohne sich deshalb die Mühe um die vorletzten Worte zu ersparen, die nötig sind, um des Menschen Denken von allen Seiten dem Punkt entgegenzuführen, an welchem er, selber ein Freier, des freien Gottes Wort und in ihm den ihm zugedachten Befehl, das ihn treffende Gericht, die ihn angehende Verheißung hören wird. [21]

Soviel, in großer Kürze und Allgemeinheit, zur Frage der Be­gründung evangelischer Ethik. Unsere Diskussion sollte sich wohl auf das bisher Gesagte konzentrieren, sich nicht durch das vielleicht teilweise etwas Aufregende, was ich jetzt noch beifügen möchte, von unserem eigentlichen Thema ablenken lassen. Ich möchte näm­lich nicht schließen, ohne von den ange­zeigten Voraussetzungen her wenigstens seinen kleinen Ausflug in die Ethik selbst, bzw. in das, was man die «spezielle Ethik» nennt, unternommen zu haben. Die ernsten Reisen in wichtige Gebiete dieses weiten Feldes werden in den nächsten Tagen unter anderer Leitung stattfinden. Ich wähle – wirklich nur beispielhaft – einen kleinen Bereich, der auch in den Darstellungen der evangelischen Ethik vielleicht gerade darum so selten betreten wird, weil er so nahe liegt. Ich wähle – weil wir hier unter den Auspizien einer «Gesellschaft für evangeli­sche Theologie» versammelt sind – die Ethik der Theologie selbst und als solcher, und also die Frage nach dem Ethos des freien Theologen. Ist er nicht auch ein Mensch und als solcher des Geschenks der Freiheit in dessen verschiedenen Gestalten teilhaftig? Und sollte das Gebot Gottes, das dem Menschen in und mit diesem Geschenk gegeben ist, nicht auch ihn, sein spe­zifisches Denken, Reden und Tun an­gehen? Unter einem «Theologen» soll übrigens nach evangelischer Auffassung nicht nur der Theologieprofessor, Theologiestudent und Pfarrer verstanden sein, sondern jeder Christ, der sich der theologischen Aufgabe der ganzen christli­chen Gemeinde bewußt, und willig und fähig ist, sich in irgend einem Maß an der theologi­schen Arbeit zu beteiligen. Weil wir aber vor Torschluß stehen und wohl etwas müde sein könnten, wird es angehen, wenn ich das Problem nicht mehr in systematischer Abhandlung, sondern etwas gelockert in Form einiger Einzelbemerkungen zur Sprache bringe. Und weil ich heute zur älteren Garde gehöre, mag es nicht unan­gemessen sein, wenn ich mir dabei im Ton nun doch einen leichten Übergang von der Ethik – ja nicht zu irgendwelchen Imperativen, aber zu einer Art Admonitio erlaube.

  1. Ein (im nun umschriebenen Sinn des Wortes «frei») freier Theologe wird sich als solcher erweisen in der zu Beginn dieses Vortrags postulierten Willigkeit, Bereitschaft und Fähigkeit, in seinem Denken allezeit mit dem Anfang anzufangen, d.h. die Auf-[22]erstehung Jesu Chri­sti auch als Weisung für seinen Vernunftgebrauch ernst zu nehmen und also immer zuerst von Gott her über den Men­schen und dann und so erst vom Menschen her über Gott nachzu­den­ken und zu reden. Es gibt so viel tief ernsthaft, fromm, gelehrt und scharfsinnig unternomme­ne und durchgeführte Theologie, der nur gerade das Oberlicht und damit die Serenität fehlt, ohne die der Theologe ein trüber Gast auf der dunklen Erde und ein uner­quicklicher Belehrer seiner Brüder sein muß, dem es im besten Fall immer nur bis zu Beethoven und Brahms … reicht! Wer nicht mit Gott anfangen will, kann als besinnlicher Mensch nur mit seiner und der allgemeinen Misere, mit dem ihn und die Welt bedrohenden Nichtigen anfangen, mit lauter Sorgen und Problemen. Und eben bei diesem Anfang wird er dann nach kürzestem Kreislauf auch immer wieder endigen. Er bekommt keine Luft und sieht dann wohl seine besondere, ernste Pflicht darin, auch den Anderen keine Luft zu gönnen. Er könnte, was ihm fehlt – be­stimmt auch sachlich fehlt – nur eben im Vollzug jener Wendung haben. Niemand hat sie ein­fach hinter sich, so gewiß sie eben nur in der dazu geschenkten Freiheit, im Ereignis des Gehorsams vollzogen werden kann. Sie muß wohl jeden Morgen, vielleicht sogar jede Stunde, angesichts je­der neuen theologischen Aufgabe neu vollzogen werden. Man sollte aber deshalb nicht gleich jammern, daß sie unmöglich sei. Sie ist freilich auch kein dialektischer Trick, den man lernen könnte, und dann nur in munterer Wiederholung anzuwenden brauchte. Ohne jene Anrufung: «Unser Vater im Himmel!» ist sie gewiß nicht zu vollziehen. Es gälte aber eben das einzusehen, daß Theologie in ihrem Grundakt Anbetung ist, Danksagung und Bitte, eine liturgi­sche Aktion. Das alte: lex orandi lex credendi ist nicht nur ein frommer Spruch, sondern etwas vom Gescheitesten, was zur Methode der Theologie jemals gesagt worden ist. Es geht auf keinen Fall ohne jene Wendung. Von ihr und in ihr lebt der freie und also der rechte theo­logische Denker und eben in der Anrufung, Danksagung und Bitte, in der sie möglich wird, darf sich der Theologe als Kind Gottes eines freien Denkens befleißigen.
  2. Ein freier Theologe kommt dabei ganz gemächlich und fröhlich von der Bibel her. Nicht weil es ihm durch irgend eine alte oder neue Orthodoxie eingebläut wäre, daß er von dorther zu kommen habe. [23] Nichtweil er muß also – «kein Mensch muß müssen, und ein Derwisch müßte?» – sondern weil es ihm geschenkt und so erlaubt ist, von dorther zu kommen. Nicht weil er nicht auch andere geistliche und weltliche, ernste und aufregende Bücher (und nicht zu vergessen: die Zeitung) läse und zu schätzen wüßte, aber weil er in der Bibel das Zeugnis vom freien Gott und vom freien Menschen hören und als Schüler der Bibel selber ein Zeuge der göttlichen und der menschlichen Freiheit werden darf. Er kommt nicht von einer Lehre über den Kanon und die Inspiration der Heiligen Schrift her, wohl aber, nicht ohne In­spiration, von der Praxis eines gewissen Umgangs mit der kanonischen Schrift. Sie hat zu ihm geredet und tut es noch. Er hört sie. Er studiert sie: auch analytisch, auch «historisch-kritisch» also, um sie um so besser zu hören. Von ihrer Analyse und also von soge­nannten «sicheren Ergebnissen» historisch-kritischer Forschung, von sogenannten «exegetischen Befunden», kann er als freier Theo­loge allerdings nicht herkommen. Nicht nur, weil diese, indem sie von 30 zu 30 Jahren und von einem Exegeten zum andern immer wieder andere zu sein pflegen, kein Ort sind, von dem man, wenn es ernst gilt, herkommen kann, sondern weil analytisches Studium der bibli­schen wie anderen Texte zwar eine conditio sine qua non des Hörens auf ihre Aussage ist, als solches aber dieses Hören durchaus nicht garantiert und in sich schließt. Zum Hören kommt es im synthetischen Lesen und Studium. Der freie Theologe liest und studiert analytisch und synthetisch, nicht in zwei verschiedenen Akten, sondern in einem einzigen. Es geht um die meditatio, deren Geheimnis wieder die oratio sein wird. Daß der freie Theologe von der Bibel herkommt, will sagen: er kommt von ihrem Zeugnis und so von dieses Zeugnisses Ursprung, Gegenstand und Inhalt her, der durch ihr Zeugnis zu ihm gesprochen hat und den er durch ihr Zeugnis zu sich sprechen ließ. Ob er selbst durchaus in direkter Anführung und Auslegung biblischer Stellen und Zusammenhänge reden wird? Vielleicht oft. vielleicht nicht immer. Die Freiheit, die ihm von des biblischen Zeugnisses Ursprung, Gegenstand und Inhalt her ge­schenkt ist, kann und muß sich doch auch darin erweisen, daß er auch das unternehmen muß, was er in der Bibel gehört hat, ln eigenen Worten zu denken und weiter zu sagen. Ich habe, um das einmal zu veranschaulichen, in diesem Vortrag außer dem Anfang [24] des Herrenge­betes bis jetzt kein einziges Bibelwort direkt angeführt. Es wäre – nur schon zur Kontrolle, ob man weiß, was man sagt, wenn man zitiert und auslegt – gut, von der Freiheit dazu öfters und allen Ernstes Gebrauch zu machen. Im Blick auf die kirchlich-theologische Praxis wäre die Frage zu erwägen: ob dies nicht in der Predigt (im Unterschied zur Bibelstunde) die Regel sein müßte? Die Freiheit der Theologie umfaßt nicht nur die Freiheit der Exegese, sondern auch die Freiheit zu dem, was man Dogmatik nennt. Spätestens bei dem Versuch, den Inhalt einer biblischen Schrift oder gar der Vielfältigkeit der biblischen Zeugnisse zusammenzufas­sen, wagt faktisch jeder Exeget den ersten Versuch dogmatischen Denkens. Dogmatik ist die bewußt und grundsätzlich unternommene Rechen­schaftsablage über den Inhalt des als gemeinsame Aussage aller biblischen Zeugnisse in Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit Gehörten. Das Ausspielen dieser beiden Funktionen der Theologie gegeneinander kann immer nur auf einem formidablen Mißverständnis beider beruhen.
  3. Ein freier Theologe stellt nicht in Abrede und schämt sich auch dessen nicht, daß sein Den­ken und Reden – das gehört zu seiner Kreatürlichkeit – immer auch einer (vielleicht übernom­menen vielleicht leidlich originellen, vielleicht alten, vielleicht neuen, vielleicht kohaerenten, vielleicht etwas inkohaerenten) Philosophie, Ontologie, Begrifflichkeit und Sprache verpflich­tet ist. Niemand denkt und redet nur in biblischen Gedanken und Worten: minde­stens deren Verknüpfung untereinander, aber auch der Sinn, den sie in seinem Kopf und Mund haben, wird schlecht und recht seine Zu­tat sein, ganz abgesehen davon, daß auch die biblischen Autoren selbst nicht einfach eine himmlische, sondern allerlei irdische Sprachen gesprochen haben. So wird ein freier Theologe, der ja nicht einmal ein Prophet oder Apostel ist, bestimmt nicht den An­spruch erheben und damit von den Anderen in Kirche und Welt sich abheben wollen, daß er vom Himmel oder schlechtweg «vom Evangelium her» oder – wenn er meint, daß das gleichbedeutend sei: «von Luther her» zu reden in der Lage sei. Daß er das vielleicht faktisch tut, das soll er eben nicht sagen, das muß man merken. Will sagen: redet er Gottes Wort, dann lasse er das Ereignis, aber nicht Inhalt seiner Behauptung sein. Er redet nämlich auch dann [25] aus seinem philosophischen Gehäuse heraus und also, für die Anderen müh­sam genug, in seinem Jargon, der mit der Sprache der Engel gewiß nicht identisch ist, obwohl die Engel sich gelegentlich auch seiner bedienen mögen. Der freie Theologe wird sich aber von dem unfreien (1) dadurch unterscheiden, daß er sich über diesen Sachverhalt im Klaren ist, daß er (2) seine Begrifflichkeit und Spra­che der Kohaerenz der Offenbarung und nicht etwa die Offenbarung der Kohaerenz seiner Begrifflichkeit und Sprache unterwerfen will, daß er also (3) – das Zitat ist unvermeidlich, weil es heute in aller Mund und Ohren ist – Philo­soph ist «als wäre er es nicht» und seine Ontologie hat, «als hätte er sie nicht». Er wird sich also z.B. durch keine mitgebrachte Begrifflichkeit verbieten lassen, in jener Wen­dung zu denken und zu reden, auf die hier zuerst hingewiesen wurde. Er wird seine Ontologie der Kritik und Kontrolle seiner Theologie unterstellen und nicht umgekehrt. Und er wird sich auch nicht durchaus dem philosophischen Kairos, d.h. der jeweils neuesten Philosophie für verpflichtet halten. Den Dank des Hauses Österreich wird er sich damit doch nicht erwerben, und wer weiß, ob er nicht froh ist, gelegentlich auch auf eine ältere, z.B. auf das berüchtigte «Subjekt-Objekt-Schema» zurückzugreifen zu dürfen? Wollten wir einen Augenblick den Idealfall träumen, so wäre zu sagen, daß in der Person des freien Theologen zwar nicht die Theologie in irgend einer Philosophie, wohl aber – was es ja auch geben könnte! – eine freie Philosophie in einer freien Theologie sich wiedererkennen müßte. Gerade der freie Theologe wird aber bedenken, daß er ein Schächer ist, der sich durchaus nicht in diesem Idealfall befin­det.
  4. Ein freier Theologe denkt und redet in der Kirche: in der communio sanctorum, deren or­dentliche Mitglieder zufällig nicht nur er und seine nächsten theologischen Freunde sind, in der Kirche gibt es kirchliche Konzessionen: sogar in der Mennoniten-Kirche ein Schleitheimer Bekenntnis! Warum sollte ein freier Theologe sie als die an seinem Ort nun einmal ihm gege­bene Anleitung zum Lesen, zur Auslegung und Anwendung der Schrift nicht respektieren und gern haben? Er hat die Freiheit seines Denkens und Wortes gewiß nicht von ihnen. Er hat sie also auch ihnen gegenüber. Er wird auch sie in aller Ruhe hören. Er wird in derselben Freiheit frei sein, was sie sagen – so er das Zeug dazu hat – besser zu sagen, [26] und frei dazu, zu anerkennen, daß sie es ihrerseits besser gesagt haben möchten, als er es sagen könnte, und also frei dazu, in irgend einer Modifikation dasselbe zu sagen, was sie auch gesagt haben. In der Kirche gibt es Väter: den Vater Luther, den Vater Calvin und andere Väter. Warum sollte ein freier Theologe nicht auch ihr Sohn und Schüler sein? Warum sollte er aber der Meinung sein, durchaus mit ihnen übereinstimmen und solange und so kunstvoll an ihren Aufstellungen herumdeuten zu müssen, bis Luther nun gerade mit ihm übereinstimmt, sagt, was er durchaus sagen möchte? Warum sollte er nicht auch die Freiheit der Väter respektieren, sie also sagen lassen, was sie gesagt haben, um dann bei ihnen zu lernen, was er in seiner Freiheit bei ihnen lernen soll und kann? In der Kirche gibt es auch Kirchenleitungen, hier in Deutschland sogar in Gestalt von Bischöfen: mit allerlei Macht, auf dem Hintergrund ihrer eigenen, nicht immer und überall gleich einwandfreien Theologie in Hirtenbriefen gewaltig zu reden, ferner: zu prü­fen, auch wohl ein- und abzusetzen oder doch zu empfehlen oder nicht zu empfehlen. Warum sollte der freie Theologe sie nicht mindestens dulden, wie sie in ihrer milden Klugheit ja auch ihn in der Regel mindestens zu dulden pflegen? Zu ihrem theologischen Gewährsmann und Handlanger wird er sich gewiß nicht machen lassen. Er wird aber auch das Odium nicht scheuen, zu anerkennen und damit zu rechnen, daß auch ein Kir­chengewaltiger gelegentlich einmal das theologisch Richtige denken und sagen könnte. Er wird sich doch nicht etwa einen Komplex an­schaffen, er wird sich doch nicht etwa in ein antikirchenregimentliches Ressen­timent verrennen und dieses Ressentiment wohl gar noch zum Prinzip seiner Auslegung des halben oder ganzen Neuen Testamentes erheben? Es geht doch nicht für oder wider die Kon­fession, für oder wider Luther öder Calvin, für oder wider die so problematischen Kirchenle­itungen. Das Alles ist das Für und Wider der Sektierer. Der freie Theologe ist kein Sektierer, weder zur Rechten noch zur Linken. Er denkt und sagt sein bestimmtes Ja und Nein, aber er denkt und redet aktiv, nicht reaktiv, als ob seine Freiheit in erster Linie eine «Freiheit von» wäre, und also nicht im Freund-Feind- Verhältnis. Er liebt die positive Arbeit. Er weiß, daß es um die Gemeinde geht, um ihre Sammlung, ihren Aufbau, ihre Sendung in der Welt. Er forscht und lehrt in ihr und für sie: als ihr Glied, das [27] nun eben diesen Auftrag und hoffentlich auch die Gabe dazu hat. Privatchristentum wäre kein Christentum. Privattheologie wäre keine freie und also überhaupt keine Theologie.
  5. Ein freier Theologe arbeitet in Kommunikation mit den anderen Theologen: indem er seine Freiheit grundsätzlich auch ihnen zutraut. Er hört und liest sie vielleicht nur in gedämpfter Freudigkeit, aber er hört und liest sie. Er rechnet damit, daß man dieselben Probleme, die er sieht, auch noch anders sehen, sie auch noch anders bearbeiten kann, als er selber. Er kann vielleicht diesem und jenem Anderen wirklich nicht folgen noch sich zugesellen. Er muß ihm, er muß viel­leicht Vielen, vielleicht den Meisten der Anderen widerstehen und widersprechen, vielleicht scharf widersprechen. Er teilt nicht die kindische Angst vor der rabies theologorum. Er bricht aber den Ver­kehr – und zwar nicht nur den persönlichen, nicht nur den geistigen, sondern gerade den geistlichen Verkehr mit ihnen nicht ab, wie er ja auch von ihnen nicht ein­fach fallen gelassen sein möchte. Er glaubt nicht nur daran, daß ihm seine, sondern daß auch ihnen ihre theo­logischen Sünden, wenn sie solcher sich schuldig gemacht haben sollten, ver­geben werden möchten. Er gebärdet sich aber – das gilt auch im Rückblick auf die Theologie­geschichte – überhaupt nicht als der Entdecker und Richter ihrer Sünden. Indem er ihnen in keinem Schritt weicht, den er nicht verantworten kann, bedenkt er die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen auch im Blick auf sie. Er wartet auf sie und bittet sie, auch auf ihn zu warten. In solchem vielleicht seufzenden, aber unter Tränen lächelnden Warten aufein­ander käme es, bemerkbar oder nicht bemerkbar, zu der uns so nötigen, uns weithin so sehr fehlen­den theologischen Zusammen­arbeit. Ganz abgesehen davon, daß wir es in dieser Haltung nicht nötig hätten, so hart, so bitter, so verächtlich voneinander zu denken und zu reden, uns so sauersüße Rezensionen und so böse Fußnoten zuzuwenden und was ähnliche Werke der Finsternis mehr sind! Ist es uns klar, daß der Begriff des «theologischen Gegners» ein zutiefst Profaner und illegitimer ist? Nach meinen Eindrücken haben die angelsächsischen Theologen (von ihren Fundamentalisten vielleicht abgesehen) das, was ich hier die Freiheit zur Kommu­nikation nenne, viel besser begriffen, als wir Kontinentale. Sie haben sich auch nicht Alle geradezu innig lieb. Aber sie behandeln sich doch als fellow-[28]creatures. Wir tun das nicht immer. Und wir sollten uns in dieser Hinsicht nicht durch unseren – vielleicht doch nur ver­meintlich! – größeren Tiefsinn für gerechtfertigt halten.

Die Reihe dieser Bemerkungen wäre fortzusetzen und systematisch zusammenzufassen. Wichtige weitere Punkte wären z. B. das Sein und Denken des freien Theologen im Verhältnis zur römischen Gegen­kirche oder zu dem jeweils seine Umgebung beherrschenden poli­tischen Klima. Aber auf Vollständigkeit war es hier nicht abgesehen. Was ich hier sagte, sollte nur die Anregung sein, über das Geschenk der Freiheit und über die Grundlegung evangelischer Ethik sofort an Hand eines konkreten Beispiels nachzudenken. So breche ich ab und schließe nun dennoch mit einem imperativischen Bibelspruch, zu dem exegetisch und sonst Vieles zu sagen wäre, was nun ungesagt bleibe, nur daß er jetzt eben – nachdem er wohl von Vielen von uns mehr als einmal im Blick auf Andere ausgelegt und angewendet worden ist – in der Zu­spitzung gehört werden möchte, in der er gerade uns Theologen – uns hoffentlich freie Theo­logen – angehen mag: «Im Übrigen, Brüder – Alles, was wahr, was ehrbar, was ge­recht, was rein, was freundlich, was wohllautend ist, wenn es irgend eine Tugend, wenn es irgend ein Lob gibt – dem denket nach… dann wird der Gott des Friedens mit euch sein!»

Vortrag gehalten in der Gesellschaft für evangelische Theologie am 21. September 1953 in Bielefeld.

Erschienen in der Reihte Theologische Studien, hrsg. von Karl Barth, Heft 39, Zollikon-Zürich: Evangelischer Verlag (EVZ) 1953.

[1] Wer hier Ausführlicheres zu erfahren wünscht, sei auf I, 2 (§ 22, 3) II, 2 (§ 36-39) und III, 4 der „Kirchlichen Dogmatik“ verwiesen.

Hier Barths Vortrag als pdf.

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