
Karl Barths Vortrag Die Menschlichkeit Gottes, den er am 25. September 1956 auf der Tagung des Schweizerischen Reformierten Pfarrvereins in Aarau gehalten, gilt als Schlüsseltext für die Wandlung in der Theologie des späten Barths:
Von Karl Barth
Die Menschlichkeit Gottes – das muß, recht verstanden, doch wohl bedeuten: Gottes Beziehung und Zuwendung zum Menschen – Gott, der mit dem Menschen redet in Verheißung und Gebot – Gottes Sein, Eintreten und Tun für ihn – die Gemeinschaft, die Gott mit ihm hält – Gottes freie Gnade, in der er nicht anders denn als Gott des Menschen Gott sein will und ist.
Ich täusche mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß das uns heute gestellte Thema jedenfalls auch ein Hinweis sein sollte auf eine Wendung im Denken evangelischer Theologie, in der wir heute – nicht im Gegensatz, aber doch im Unterschied zu einer früheren Wendung begriffen sind oder begriffen sein sollten. Was sich uns vor nun rund vierzig Jahren stürmisch aufzudrängen begann, war ja weniger die Menschlichkeit als die Göttlichkeit Gottes: das Gott in seinem Verhältnis zum Menschen und zur Welt schlechthin Eigene – das überwältigend Hohe und Ferne, das Fremde, ja ganz Andere, mit dem es der Mensch zu tun bekommt, wenn er den Namen Gottes auf seine Lippen nimmt, wenn Gott ihm begegnet, wenn er sich mit Gott einläßt – das nur mit dem undurchdringlichen Dunkel des Todes vergleichbare Geheimnis, in das Gott sich gerade dann hüllt, wenn er sich dem Menschen enthüllt, kundtut, offenbart – das Gericht, das dem Menschen widerfahren muß, weil und indem Gott ihm gnädig, weil er sein Gott sein will und ist. Was wir in der damaligen Wendung entdeckten, war die in ihrem ganzen Grauen so einleuchtende Majestät des Crucifixus, wie Grünewald ihn gesehen und dargestellt, und desselben Künstlers gewaltig in dieses Heiligtum hineinzeigender Finger Johannes des Täufers: Illum oportet crescere, me autem minui (Jener muss größer werden, ich aber geringer. Joh 3,30). Unverkennbar, daß uns die Menschlichkeit Gottes damals aus der Mitte an den Rand, aus dem betonten Hauptsatz in den weniger betonten Nebensatz rückte. Ich wäre wohl in eine gewisse [3] Verlegenheit geraten, wenn man mich etwa im Jahre 1920 – dem Jahr, in dem ich in diesem Saal meinem großen Lehrer Adolf von Harnack gegenüberstand – aufgefordert hätte, über die Menschlichkeit Gottes zu reden. Wir hätten Arges vermutet hinter diesem Thema. Wir waren jedenfalls nicht mit ihm beschäftigt. Daß es uns heute gestellt ist und daß ich mich heute nicht weigern konnte, etwas dazu zu sagen, ist ein Symptom dafür, daß jene frühere Wendung kein letztes Wort war. Sie konnte es nicht sein. Auch die Wendung, in der wir jetzt begriffen sind, wird kein letztes Wort sein können. Aber das mag die Sorge einer kommenden Generation werden. Unsere Aufgabe ist diese: eben auf Grund der Erkenntnis der Göttlichkeit Gottes, eben von ihr her die Erkenntnis seiner Menschlichkeit.
I.
Man erlaube mir, meiner Darlegung zu diesem Thema zunächst die Form einer Berichterstattung zu geben: im Rückblick auf die Wendung von damals, der sich dann von selber zum Ausblick auf die seither und heute sich aufdrängende neue Aufgabe gestalten wird.
Die Wendung von damals hatte ausgesprochen kritisch-polemischen Charakter. Sie vollzog sich – gewiß zeitlich gesehen allmählich, auf die Sache gesehen aber subita conversione (in plötzlicher Umkehr) – in einer jähen Absetzbewegung gegenüber der damals herrschenden, mehr oder weniger liberalen oder auch positiven Theologie, die doch nur das Reifestadium einer seit 2-3 Jahrhunderten scheinbar unaufhaltsam sich durchsetzenden Entwicklung darstellte.
Es ist heute geboten – es ist heute aber auch leichter – jener früheren Theologie und der ganzen in ihr kulminierenden Entwicklung größere historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als es uns damals in der Heftigkeit des ersten Aufbruchs und Zusammenstoßes möglich und tunlich erschien. Das aber wird man sich auch bei unbefangenster Würdigung ihres legitimen Anliegens und ihrer unverkennbaren Verdienste, auch in der friedlichsten Rückschau nicht verbergen können: daß es damals so nicht weitergehen konnte, daß die Begrenzung der damals maßgebenden theologischen Konzeption durch neue und zugleich auch ältere und ursprüngliche christliche [4] Erkenntnis und Sprache sich damals als unvermeidlich erwies. Die evangelische Theologie war fast auf der ganzen Linie, jedenfalls in allen ihren repräsentativen Gestalten und Richtungen religionistisch und damit anthropozentrisch und in diesem Sinn: humanistisch geworden. Will sagen: es war eine äußerste und innerste Disposition und Bewegtheit des Menschen, nämlich seine Frömmigkeit – die dann wohl auch christliche Frömmigkeit sein mochte – das Phänomen und Thema geworden, um das sie in ihrer Prinzipienlehre, in ihrer Darstellung der christlichen Vergangenheit und in ihrem praktischen Verständnis der christlichen Gegenwart, in ihrer Ethik und in dem, was allenfalls als ihre Dogmatik anzusprechen war, in der durch sie bestimmten kirchlichen Verkündigung und Unterweisung – vor allem und zuerst aber in ihrer Bibelauslegung kreiste und ohne Ausweg ins Freie kreisen zu müssen schien. Was wußte und sagte sie noch von Gottes Göttlichkeit? An Gott denken hieß für sie, kaum verschleiert: an den Menschen, eben an den religiösen, den christlich religiösen Menschen denken – von Gott reden: in erhöhtem Ton, aber noch einmal und erst recht von diesem Menschen reden – von seinen Offenbarungen und Wundern, von seinem Glauben und seinen Werken. Keine Frage: hier wurde der Mensch groß gemacht auf Kosten Gottes. Und mit Gott als einem dem Menschen souverän gegenübertretenden Anderen, als dem ihm unaufhebbar und unvertauschbar gegenüberstehenden Herrn, Schöpfer und Erlöser, als des Menschen freiem Partner in einer von ihm selbst eröffneten Geschichte, in einem von ihm beherrschten Dialog – mit diesem göttlichen Gott drohte auch diese Geschichte, dieser Dialog als solcher zu einer frommen Vorstellung zu werden: zum mythischen Ausdruck und Symbol einer zwischen dem Menschen und seiner eigenen Höhe oder Tiefe oszillierenden Erregung, deren Wahrheit doch nur die eines Monologs und seiner allenfalls greifbaren Inhalte sein konnte.
Hier erschraken einige von uns: nachdem sie mit allen Anderen die verschiedenen Kelche dieser Theologie bis auf die letzten Tropfen ausgetrunken hatten. Hier meinten sie (etwa von der Mitte des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts an) nicht mehr mitzukommen. War uns der fromme Mensch, war uns die Religion, von deren Geschichte und Gegenwart wir auf der Universität so viel Herrliches [5] gehört und nachher selbst noch zu sagen versucht hatten, in unserer eigenen Person problematisch geworden? War es die Begegnung mit dem durch Kutter und Ragaz interpretierten Sozialismus, der uns die Augen dafür öffnete, daß Gott auch noch ganz anders als in dem dumpfen Gehäuse des christlich-religiösen Selbstbewußtseins Gott sein und als solcher handeln und reden möchte? War es der eben damals im Verhältnis zu der vorangegangenen langen Friedenszeit unserer Jugend so plötzlich verfinsterte Weltaspekt, der uns darauf aufmerksam werden ließ, daß des Menschen Not zu groß sein möchte, als daß ihm der Verweis auf seine religiöse Möglichkeit ein trostvolles und Weisung gebendes Wort sein könnte? War es – dies hat für mich persönlich eine entscheidende Rolle gespielt – das Versagen gerade der Ethik der damals modernen Theologie beim Ausbruch des ersten Weltkrieges, das uns auch an ihrer Exegese, Historik und Dogmatik irre werden ließ? Oder war es positiv die merkwürdigerweise erst damals richtig aktuell werdende Blumhardt-Botschaft vom Reiche Gottes, waren es Kierkegaard, Dostojewski, Overbeck, gelesen als Kommentare zu jener Botschaft, durch die wir uns zur Ausschau und Ausfahrt nach neuen Ufern aufgefordert fanden? Oder nun doch – und gründlicher als das alles die Entdeckung, daß das Thema der Bibel – der kritischen und der gläubigen Exegese, von der wir herkamen, zuwider – bestimmt nicht des Menschen Religion und religiöse Moral, bestimmt nicht seine eigene heimliche Göttlichkeit sein möchte, sondern – das war der rocher de bronze (eherner Fels), auf den wir zunächst stießen – die Göttlichkeit Gottes und nun eben: Gottes Göttlichkeit, Gottes Eigenständigkeit und Eigenart nicht nur dem natürlichen, sondern auch dem geistigen Kosmos gegenüber, Gottes schlechthin einzigartige Existenz, Macht und Initiative vor allem in seinem Verhältnis zum Menschen. So und nur so meinten wir die Stimme des Alten und des Neuen Testamentes verstehen, von da und nur von da aus meinten wir fortan Theologen und insbesondere Prediger, ministri Verbi Divini (Diener des Wortes Gottes) sein zu können.
Hatten wir recht oder unrecht? Wir hatten schon recht: Man lese die «Glaubenslehren» von Troeltsch und Stephan! Man lese auch eine in ihrer Art so gediegene Dogmatik wie die von Lüdemann oder auch die von Seeberg! Wenn das keine Sackgassen waren! Nicht irgendeine weitere Verschiebung innerhalb der überkommenen [6] Fragestellung, wie sie zuletzt etwa von Wobbermin, von Schaeder, von Otto versucht wurden, sondern genau diese radikale Wendung war damals zweifellos fällig. Das Schiff drohte auf Sand zu fahren; der Moment war da, das Steuer eben in diesem Winkel von 180 Graden herumzuwerfen. Und es sei im Blick auf das, was nachher zu sagen ist, gleich vorausgeschickt: «Was vergangen, kehrt nicht wieder.»[1] Darum konnte es sich auch später, darum kann es sich auch beute nicht handeln, jene Wendung zu verleugnen oder rückgängig zu machen. Wohl ging es nachher und geht es heute um eine «Retraktation». Eben eine echte Retraktation besteht aber keineswegs in einem nachträglichen Rückzug, sondern in einem neuen Ansatz und Angriff, in welchem das zuvor Gesagte erst recht, nur nun eben besser, zu sagen ist. War das, was wir damals entdeckt zu haben meinten und vorbrachten, kein letztes, sondern ein retraktationsbedürftiges, so war es doch ein wahres Wort, das als solches stehenbleiben muß, an dem es noch heute kein Vorbeikommen gibt, das vielmehr die Voraussetzung dessen bildet, was heute weiter zu bedenken ist. Wer jene frühere Wendung nicht mitgemacht haben, wem es etwa noch immer nicht eindrücklich geworden sein sollte, daß Gott Gott ist, der würde, was nun als wahres Wort von seiner Menschlichkeit weiter zu sagen ist, sicher auch nicht in Sicht bekommen. Aber eben im Blick auf jene Wendung von damals hätte wohl gesungen werden können: «Siehst du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen.» Es muß nun ebenso offen festgestellt werden, daß wir damals – auch gegenüber der Theologie, von der wir herkamen und von der wir uns abzusetzen hatten – doch nur beschränkt im Recht waren. Beschränkt schon in dem Sinne, wie eben alle vorwiegend kritisch-polemischen Bewegungen, Haltungen und Positionen als solche, wie sinnvoll sie immer sein mögen, nur beschränkt im Recht zu sein pflegen!
Was sind da für Formulierungen teils übernommen, teils neu erfunden worden! Allen voran – «und wie sie schmetterte, da sangen es tausend Stimmen nach im Feld»[2] – das berühmte «senkrecht von oben» hereinbrechende totaliter aliter (ganz Andere) und der nicht weniger berühmte «unendliche qualitative Unterschied» zwischen Gott und Mensch, der Hohlraum, der mathematische Punkt und die Tangente, in der sie sich allein berühren sollten, die kühne Versicherung, daß es in der Bibel überhaupt nur ein theolo-[7]gisches Interesse gäbe, nämlich das an Gott, daß da nur ein Weg sichtbar sei, nämlich der von oben nach unten, nur eine Botschaft vernehmbar, nämlich die von einer nach vorwärts und rückwärts unvermittelten Vergebung der Sünden, während das Problem der Ethik schon als solches mit des Menschen Krankheit zum Tode identisch sei, die Anschauung von der Erlösung, die darin bestehe, daß die Kreatürlichkeit der Kreatur aufgehoben, daß das Diesseits vom Jenseits verschlungen werde, dementsprechend die Aufforderung zum Glauben als zu einem Sprung in den Abgrund und dergleichen mehr! Alles, wie gut es auch gemeint sein und wieviel auch dran sein mochte, doch ein bißchen arg unmenschlich und teilweise auch schon wieder – nur nun eben nach der andern Seite – häretisierend gesagt! Wie wurde da aufgeräumt und eben fast nur aufgeräumt! Wie wurde da alles, was auch nur von ferne nach Mystik und Moral, nach Pietismus und Romantik oder gar nach Idealismus schmeckte, verdächtigt und unter scharfe Verbote oder doch in die Klammer von faktisch prohibitiv klingenden Vorbehalten gestellt! Wie wurde da so spöttisch gelacht, wo doch gerade nur wehmütig und freundlich hätte gelächelt werden dürfen! Mochte das Ganze der Nachricht von einer enormen Hinrichtung nicht öfters ähnlicher sehen als der Botschaft von der Auferstehung, auf die es doch abzielte? War der Eindruck mancher Zeitgenossen ganz unbegründet, hier möchte alles darauf hinauslaufen, Schleiermacher zur Abwechslung von den Füßen auf den Kopf zu stellen, das heißt Gott zur Abwechslung auf Kosten des Menschen groß zu machen; hier möchte also im Grunde nicht allzu viel gewonnen, hier möchte vielleicht letztlich doch nur ein neuer Titanismus am Werke sein? War es nur Verstocktheit, wenn neben den Vielen, die ein Stück weit befreit aufhorchten und mitgingen, nun doch so viele Andere es vorzogen, verblüfft oder auch – wie damals Harnack! – zornig über solche Neuerung ihre Köpfe zu schütteln? Ob sich darin nicht vielleicht doch die dunkle Ahnung ankündigte, daß in dem Religionismus, der Anthropozentrik, dem mißlichen Humanismus jener Theologie der Vorzeit etwas Unaufgebbares im Spiel gewesen sein möchte: in aller unverkennbaren Anfechtbarkeit, ja Verkehrtheit ihrer Konzeption eben die Menschlichkeit Gottes, die in der Art, wie wir – versunken in den Anblick des gewaltigen Aufmarsches von Leviathan und Behemoth [8] im Hiobbuch – seine Göttlichkeit auf den Leuchter erhoben nicht eben zu ihrem Rechte kam?
Wo lagen wir eigentlich unsererseits schief? Wo hatte und hat also die neue Wendung einzusetzen? Der scharfsinnige Freund vom andern Ufer hat bekanntlich den Finger darauf gelegt, daß damals fast nur mit dem Begriff der Diastase, nur selten und gelegentlich auch mit dem komplementären Begriff der Analogie gearbeitet worden sei. Das wird wohl stimmen. Aber war dieses Formale nicht doch nur ein Symptom eines tiefer sitzenden sachlichen Schadens unseres damaligen Denkens und Redens? Ich meine: er bestand darin, daß wir eben dort Unrecht hatten, wo wir Recht hatten, daß wir nämlich eben die uns und dann auch Andere so aufregende neue Erkenntnis der Göttlichkeit Gottes zunächst lange nicht sorgfältig und vollständig genug zu vollziehen wußten. Es war wohl gut und an der Zeit, auf sie zurückzukommen und sie mit großer Macht geltend zu machen. Aber im besonderen Meister Calvin hat uns dabei wohl nicht nur gute Weisung gegeben. Daß wir gelehrt hätten Gott sei Alles, der Mensch nichts, war zwar eine freie Erfindung der damals Verblüfften oder Zornigen. So schlimm war es ja nun auch wieder nicht. Es sind sogar schon damals gelegentlich gewisse Lobgesänge auf den Humanismus – den platonischen insbesondere, von dem ja auch Calvin herkam – angestimmt worden. Es ist aber wahr: Uns faszinierte damals zunächst das Bild und der Begriff eines «ganz Anderen», das wir nun doch nicht unbesehen mit der Göttlichkeit dessen hätten identifizieren dürfen, der in der Bibel Jahve-Kyrios heißt – das in der Isolierung, Abstraktion und Verabsolutierung, in der wir es betrachteten und dem Menschen, diesem elenden Tropf, gegenüberstellten – um nicht zu sagen: um die Ohren schlugen – mit der Göttlichkeit des Gottes der Philosophen immer noch oder schon wieder größere Ähnlichkeit hatte als mit der des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Drohte da nicht doch wieder ein Gußbild zu entstehen? Wie – das war damals die Sorge und der Einwand von Leonhard Ragaz – wenn das Ende des Liedes von der Majestät Gottes eine neue Bestätigung der Hoffnungslosigkeit alles menschlichen Tuns, eben damit eine neue Rechtfertigung der Autonomie des Menschen und also des Säkularismus im Sinne der lutherischen Lehre von den zwei Reichen sein sollte? Bewahre! So meinten und wollten [9] wir es nicht. Aber schien es uns nicht doch ein Stück weit zu entgehen, daß die Göttlichkeit des lebendigen Gottes – und mit ihm wollten wir es doch zu tun haben – ihren Sinn und ihre Kraft nur im Kontext seiner Geschichte und seines Dialogs mit dem Menschen und also in seinem Zusammensein mit diesem hat? Jawohl – und das ist der Punkt, hinter den es kein Zurückgehen mehr geben darf: es geht um Gottes souverän in ihm selbst begründetes und allein durch ihn selbst bestimmtes, begrenztes, geordnetes Zusammensein mit dem Menschen. So und nicht anders ist es in jenem Kontext Ereignis und erkennbar. Es geht aber um Gottes Zusammensein mit dem Menschen. Wer Gott, und was er in seiner Göttlichkeit ist, das erweist und offenbart er nicht im leeren Raum eines göttlichen Fürsichseins, sondern authentisch gerade darin, daß er als des Menschen (freilich schlechthin überlegener) Partner existiert, redet und handelt. Der das tut, ist der lebendige Gott. Und die Freiheit, in der er das tut, ist seine Göttlichkeit. Sie ist die Divinität, die als solche auch den Charakter von Humanität hat. In dieser und nur in dieser Form war und ist der Satz von der Göttlichkeit Gottes jener Theologie der Vorzeit entgegenzustellen: in positiver Aufnahme, nicht in unbesonnener Verwerfung der particula veri (des Stückchens Wahrheit), die man ihr, auch wenn man ihre Schwäche bis auf den Boden durchschaut, unmöglich absprechen kann. Eben Gottes recht verstandene Göttlichkeit schließt ein: seine Menschlichkeit.
II.
Woher wissen wir das? Von woher ist dieser Satz erlaubt und geboten? Er ist ein christologischer, vielmehr: ein von der Christologie her begründeter und zu entfaltender Satz. Die Notwendigkeit einer zweiten nach jener ersten Wendung hätte sich erübrigt, wenn wir damals zum vornherein die Geistesgegenwart besessen hätten, den ganzen unvermeidlich gewordenen Gegenwurf eben von da aus und so unter besserer, genauerer Voraussetzung des zentralen und ganzen Zeugnisses der Heiligen Schrift zu wagen. Eben in Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, haben wir es ja gewiß nicht abstrakt mit dem Menschen zu tun: nicht mit dem Menschen, der in seinem bißchen Religion und religiöser Moral ohne [10] Gott sich selber Genüge zu tun und also sich selber Gott zu sein vermöchte – aber nun eben auch nicht abstrakt mit Gott: nicht mit einem vom Menschen in seiner Göttlichkeit nur geschiedenen, ihm nur eben fernen und fremden und also nicht-menschlichen, wenn nicht gar un-menschlichen Gott. In Jesus Christus ist wie keine Verschlossenheit vom Menschen her nach oben so auch keine von Gott her nach unten. Eben in ihm handelt es sich vielmehr um die Geschichte, um den Dialog, in welchem Gott und der Mensch zusammentreffen und zusammen sind, um die Wirklichkeit des von ihnen beiderseitig geschlossenen, gehaltenen und vollendeten Bundes. Eben in seiner einen Person ist ja Jesus Christus ebenso als wahrer Gott des Menschen, wie als wahrer Mensch Gottes getreuer Partner, ebenso der zur Gemeinschaft mit dem Menschen erniedrigte Herr wie der in die Gemeinschaft mit Gott erhobene Knecht, ebenso das aus dem höchsten, lichtesten Jenseits gesprochene wie das im tiefsten, dunkelsten Diesseits vernommene Wort: beides unverworren, aber auch unzertrennt, ganz das Eine und ganz das Andere. So, in dieser Einheit ist Jesus Christus der Mittler, der Versöhner zwischen Gott und den Menschen. So tritt er vor den Menschen, Glauben, Liebe und Hoffnung heischend und erweckend, für Gott ein – und stellvertretend, genugtuend, fürbittend vor Gott für die Menschen. So bezeugt und verbürgt er dem Menschen Gottes freie Gnade, bezeugt und verbürgt er aber auch Gott des Menschen freie Dankbarkeit. So richtet er in seiner Person das Recht Gottes gegenüber dem Menschen auf, so aber auch das Recht des Menschen vor Gott. So ist er in seiner Person der Bund in seiner Fülle, das nahe herbeigekommene Himmelreich, in welchem Gott redet und der Mensch hört, Gott gibt und der Mensch empfängt, Gott befiehlt und der Mensch gehorcht, Gottes Ehre in der Höhe – aber auch aus der Höhe in die Tiefe – leuchtet und Friede auf Erden Ereignis wird unter den Menschen seines Wohlgefallens. Und eben so, als dieser Mittler und Versöhner zwischen Gott und dem Menschen ist Jesus Christus auch ihrer beider Offenbarer. Wer und was Gott und wer und was der Mensch in Wahrheit ist, das haben wir nicht frei schweifend zu erforschen und zu konstruieren, sondern dort abzulesen, wo ihrer beider Wahrheit wohnt: in der in Jesus Christus sich kundgebenden Fülle ihres Zusammenseins, ihres Bundes. [11]
Wer und was Gott ist, gerade das ist es im besonderen, was wir in der notwendig gewordenen neuen Wendung evangelisch-theologischen Denkens und Redens im Rückblick auf jene frühere genauer und besser zu erkennen haben. Wer und was Gott in Jesus Christus ist? muß aber die Frage lauten, wenn wir hier heute zu einer besseren Antwort vorstoßen wollen.
Und nun ist zweifellos Gottes Göttlichkeit das Erste und Grundlegende, was uns im Blick auf die uns in der Heiligen Schrift bezeugte Existenz Jesu Christi in die Augen springt. Und darin besteht Gottes Göttlichkeit in Jesus Christus, daß Gott selbst in ihm souverän redendes und handelndes Subjekt ist: Er ist der Freie, in dem alle Freiheit ihren Grund, ihren Sinn, ihr Urbild hat. Er ist der Initiant, Stifter, Erhalter und Erfüller des Bundes, er der souveräne Herr der erstaunlichen Situation, in der er vom Menschen nicht nur unterschieden, sondern mit ihm eins wird und ist: Er, der ja auch der Schöpfer dieses seines Partners ist, Er, durch dessen Treue ja auch die Gegentreue dieses seines Partners erweckt und Ereignis wird. Die alte reformierte Christologie hat das in ihrer Lehre von der «hypostatischen Union» besonders klar herausgearbeitet: Gott sitzt im Regimente. Daß er redet, gibt, befiehlt, das geht in der Existenz Jesu Christi schlechterdings voran – daß der Mensch hört, empfängt, gehorcht, das kann und darf diesem Ersten nur folgen. Des Menschen Freiheit ist in Jesus Christus ganz eingeschlossen in die Freiheit Gottes. Ohne Gottes Herablassung käme es da zu keiner Erhebung des Menschen. Als der Sohn Gottes und nicht anders ist Jesus Christus auch der Menschensohn. Diese Folge ist unumkehrbar. Gottes Independenz, Allmacht und Ewigkeit, Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit und also Gottes Göttlichkeit ist in ihrer ursprünglichen und eigentlichen Gestalt die Kraft dieser in der Existenz Jesu Christi wirksamen und sichtbaren Folge, Überordnung und Unterordnung. Sie ist also keine allgemeine, begrifflich zu errechnende, sie ist diese konkrete Göttlichkeit: wirklich und erkennbar in dem der Existenz Jesu Christi eigentümlichen, in jener Folge begründeten Gefälle. Aber hier ist noch Konkreteres zu sehen. Gottes hohe Freiheit ist in Jesus Christus seine Freiheit zur Liebe. Eben das göttliche Vermögen, das sich in seiner Existenz in jener Über- und Unterordnung auswirkt und darstellt, ist offenbar auch Gottes Vermögen, sich [12] herabzuneigen sich einem Anderen und dieses Andere sich selbst – sei es denn: in jener unumkehrbaren Folge, aber in ihr ganz real – zuzuordnen, mit ihm zusammen zu sein. Eben in jener Folge entsteht und besteht ja in Jesus Christus höchste Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen. Es ist also Gottes Göttlichkeit gerade kein Gefängnis, in welchem er nur in sich und für sich zu existieren vermöchte. Sie ist vielmehr seine Freiheit, in sich und für sich, aber auch mit uns und für uns zu sein, sich zu behaupten, aber auch sich hinzugeben, wie ganz erhaben, so auch ganz gering zu sein, allmächtig nicht nur, sondern auch allmächtige Barmherzigkeit, Herr nicht nur, sondern auch Knecht, Richter nicht nur, sondern auch selber der Gerichtete, des Menschen ewiger König, aber auch sein Bruder in der Zeit. Das alles, ohne seiner Göttlichkeit auch nur im geringsten verlustig zu gehen! Das alles vielmehr gerade in höchster Bewährung und Kundgebung seiner Göttlichkeit! Der das alles tut und also offenbar tun kann, der und kein Anderer ist der lebendige Gott. So beschaffen ist seine Göttlichkeit: die Göttlichkeit des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. In Jesus Christus ist sie so wirksam und erkennbar. Ist er das Wort der Wahrheit, dann ist gerade die Wahrheit Gottes diese und keine andere.
Eben im Blick auf Jesus Christus ist nun aber auch darüber entschieden, daß Gottes Göttlichkeit seine Menschlichkeit nicht aus-, sondern in sich schließt. Wenn doch Calvin zu dieser Stelle in seiner Christologie, seiner Gotteslehre, seiner Prädestinationslehre und dann folgerichtig auch in seiner Ethik energischer weitergemacht hätte! Sein Genf wäre dann nicht eine so düstere Angelegenheit geworden. Seine Briefe hätten dann nicht so viel Bitterkeit enthalten. Es wäre dann nicht so naheliegend, einen Heinrich Pestalozzi und unter seinen Zeitgenossen einen Sebastian Castellio gegen ihn auszuspielen. Wie sollte Gottes Göttlichkeit seine Menschlichkeit ausschließen, da sie ja Gottes Freiheit zur Liebe und also sein Vermögen ist, nicht nur in der Höhe, sondern auch in der Tiefe, nicht nur groß, sondern auch klein, nicht nur in und für sich, sondern auch mit einem von ihm verschiedenen Anderen zu sein, diesem Anderen sich selbst hinzugeben, da in ihr also zur Gemeinschaft mit dem Menschen Raum genug ist? Und eben: Gott hat und behält ja auch in seinem Verhältnis zu diesem Anderen – es ist ja sein Werk! – die [13]) unbedingte Priorität; sein ist und bleibt ja das erste und entscheidende Wort, seine die Initiative, seine die Führung. Wie könnten wir es gerade im Blick auf Jesus Christus, in welchem wir den Menschen in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen finden, anders sehen und sagen? Nein, Gott bedarf keines Ausschlusses der Menschlichkeit, keiner Nicht-Menschlichkeit oder gar Unmenschlichkeit, um wahrhaft Gott zu sein. Wir dürfen und müssen aber weiter sehen und feststellen, daß seine Göttlichkeit Menschlichkeit vielmehr in sich schließt. Nicht die fatale lutherische Lehre von den beiden Naturen und ihren Idiomen, wohl aber ihr wesentliches Anliegen ist hier nicht abzuweisen, sondern aufzunehmen. Es wäre eines falschen Gottes falsche Göttlichkeit, in und mit der uns nicht sofort auch seine Menschlichkeit begegnete. Solche falsche Göttlichkeiten sind in Jesus Christus ein für allemal zum Spott gemacht. In ihm ist ein für allemal darüber entschieden, daß Gott nicht ohne den Menschen ist. Nicht als ob Gott eines Anderen und insbesondere des Menschen bedürfte, um als sein Partner wahrhaft Gott zu sein. «Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst? und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?» Wie sollte Gott sich nicht auch als die ewige Liebe selber genügen können? Er in seinem Leben als Vater, Sohn und Heiliger Geist wäre auch ohne den Menschen, ja auch ohne den ganzen geschaffenen Kosmos wahrlich kein einsamer, kein egoistischer Gott. Und er muß erst recht nicht für den Menschen, er könnte – man denkt sogar: er müßte vielmehr gegen ihn sein. Aber das ist das Geheimnis, in welchem er uns in der Existenz Jesu Christi begegnet: er will in seiner Freiheit tatsächlich nicht ohne den Menschen, sondern mit ihm, und in derselben Freiheit nicht gegen, sondern ohne und gegen sein Verdienst für ihn – er will faktisch des Menschen Partner und allmächtiger Erbarmer und Heiland sein. Er erwählt es, sein die Höhe und Ferne, aber auch die Tiefe und Nähe umfassendes Vermögen gerade ihm zugute kommen zu lassen, in dem durch seine Göttlichkeit gesicherten Raum gerade mit ihm Gemeinschaft zu halten. Er entscheidet sich, gerade ihn zu lieben, gerade sein Gott, sein Herr, sein Erbarmer, sein Erhalter und Erretter zum ewigen Leben zu sein, gerade nach seinem Lob und Dienst zu begehren. In diesem göttlich freien Wollen und Wählen, in dieser souveränen Entscheidung (die Alten sagten: in diesem seinem Dekret) ist Gott [14] menschlich. Seine freie Bejahung des Menschen, seine freie Teilnahme an ihm, sein freies Eintreten für ihn – das ist Gottes Menschlichkeit. Wir erkennen sie genau dort, wo wir auch und zuerst seine Göttlichkeit erkennen. Ist es nämlich nicht so, daß in Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, gerade echte Göttlichkeit auch echte Menschlichkeit in sich schließt? Da ist ja der Vater, der sich seines verlorenen Sohnes – der König, der sich seines zahlungsunfähigen Schuldners – der Samariter, der sich des unter die Räuber Gefallenen erbarmt, sich seiner in ebenso unerwarteter wie großzügiger und durchgreifender Tat seines Erbarmens annimmt. Und das ist die Tat des Erbarmens, auf die alle diese Gleichnisse als Gleichnisse des Himmelreiches hinweisen: da ist Einer – eben der, der in diesen Gleichnissen redet! – der sich die Schwachheit und Verkehrtheit, die Ratlosigkeit und das Elend des ihn umgebenden Menschenvolkes zu Herzen gehen läßt, der dieses Menschenvolk, wie es ist, nicht verachtet, sondern unbegreiflicherweise hochachtet, der es in sein Herz hineinnimmt, sich selbst an seine Stelle setzt, den überlegenen Willen Gottes, dem er sich ganz unterordnet, darin erkennt, daß er sich selbst für dieses Menschenvolk dahinzugeben hat und seine Ehre darin sucht, eben dies zu tun. Im Spiegel dieser Menschlichkeit Jesu Christi offenbart sich die in seiner Göttlichkeit eingeschlossene Menschlichkeit Gottes. So wie er ist Gott. So bejaht er den Menschen. So nimmt er Anteil an ihm. So setzt er sich selbst für ihn ein. Der Gott Schleiermachers kann sich nicht erbarmen. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kann und tut es. Ist Jesus Christus das Wort der Wahrheit, der «Spiegel des väterlichen Herzens Gottes» dann ist Nietzsches Satz, der Mensch sei etwas, was überwunden werden muß, eine freche Lüge; dann ist gerade die Wahrheit Gottes diese und keine andere – mit Titus 3,4 zu reden: seine Menschenfreundlichkeit.
III.
Wir hätten aber diese Erkenntnis noch nicht richtig vollzogen, wir wären ihrer jedenfalls noch nicht sicher, wenn uns ihr Inhalt nicht in den Linien anschaulich wäre, denen alles christliche Denken und Reden von da aus zu folgen hat. Der Satz über Gottes Menschlich-[15]keit, das Immanuel!, zu dem wir von der christologischen Mitte her zunächst vorgestoßen sind, kann nicht ohne die weittragendsten Konsequenzen sein. Sie ergeben sich daraus, daß wir nach der Entsprechung – hier dürfte der Begriff der Analogie in sein Recht treten – unseres Denkens und Redens zu der Menschlichkeit Gottes gefragt sind. Nicht die Fülle dieser Konsequenzen, aber die grundsätzlichsten und wichtigsten unter ihnen sollen jetzt noch andeutend sichtbar gemacht werden.
Daraus, daß Gott in dem nun umschriebenen Sinn menschlich ist, folgt zunächst eine ganz bestimmte Auszeichnung des Menschen als solchen: eines jeden Wesens, das Menschenantlitz trägt – des ganzen Bestandes derjenigen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die dem Menschen teils gemeinsam mit andern Geschöpfen, teils im Unterschied zu ihnen eigentümlich sind – und schließlich des menschlichen Werkes und seiner Hervorbringungen. Mit einer optimistischen Beurteilung des Menschen hat die Anerkennung dieser seiner Auszeichnung nichts zu tun. Sie kommt ihm zu, weil er das Wesen ist, das Gott zu seinem Bundespartner erheben wollte, nicht anders. Aber eben weil Gott in diesem Sinne menschlich ist, kommt sie ihm tatsächlich zu und darf sie ihm durch kein noch so begründetes pessimistisches Urteil abgesprochen werden.
Wir haben jedes menschliche Wesen, auch das uns fremdartigste, verruchteste oder elendeste, darauf anzusehen und haben unter der Voraussetzung mit ihm umzugehen, daß auf Grund des ewigen Willensentscheides Gottes Jesus Christus auch sein Bruder, Gott selbst auch sein Vater ist. Wenn der Andere das schon weiß, dann haben wir ihn eben darin zu bestärken. Weiß er es noch nicht oder nicht mehr, so ist es unsere Sache, ihm dieses Wissen zu übermitteln. Es gibt von der Erkenntnis der Menschlichkeit Gottes her keine andere Einstellung zu irgendeinem Mitmenschen als diese. Sie ist identisch mit der praktischen Anerkennung seines Menschenrechtes und seiner Menschenwürde. Verweigerten wir sie ihm, so würden wir eben damit auch unsererseits darauf verzichten, Jesus Christus zum Bruder und Gott zum Vater zu haben.
Die dem Menschen als solchem von der Menschlichkeit Gottes her zukommende Auszeichnung erstreckt sich aber auch auf alles das, [16] womit der Mensch von Gott, seinem Schöpfer, als Mensch begabt und ausgerüstet ist. Diese Gabe, seine Humanität, ist durch des Menschen Sündenfall nicht ausgelöscht und auch in ihrer Güte nicht gemindert. Nicht weil er kraft seiner Humanität solchen Vorzug verdiente, ist der Mensch der zum Umgang mit Gott Erwählte. Er ist es allein durch Gottes Gnade. Er ist es aber als der nun eben von Gott so Begabte: in seiner besonderen Leiblichkeit, in der er freilich mit Pflanze und Tier auch noch genug gemein hat, und als vernünftig denkendes, wollendes, sprechendes, als zu eigener Verantwortung und spontaner Entscheidung bestimmtes, vor allem als von Haus aus mitmenschlich konstituiertes, verbundenes und verpflichtetes Wesen. Ihn als dieses Wesen in seiner besonderen Totalität meint, liebt und ruft Gott. Er als dieses Wesen, in Aktivierung dieser seiner besonderen Natur darf und soll ihn loben, seiner Gnade in Dankbarkeit dienstbar sein. Es ginge nicht an, seine Humanität, die Gabe Gottes, die ihn als dieses Wesen kennzeichnet, auch nur teilweise zu verdächtigen, gering zu schätzen oder gar schlecht zu machen. Wir können Gott nur in den von ihm bestimmten Grenzen des Menschlichen begegnen. Aber eben in diesen Grenzen dürfen wir ihm begegnen. Er verwirft das Menschliche nicht, im Gegenteil! Daran haben wir uns zu halten.
Die Auszeichnung des Menschen geht aber noch weiter. Sie erstreckt sich doch wohl auch auf das in jener Begabung begründete besondere menschliche Wirken: auf das, was man die menschliche Kultur in ihren höheren und auch niedereren Sparten zu nennen pflegt. Wir sind als Schaffende wie als Nutznießer, jedenfalls als für sie Verantwortliche alle an ihr beteiligt. Wir können ihr gegenüber gar keine Abstinenz üben, auch wenn wir es schon wollten. Wir sollen das aber auch nicht wollen. Ein Jeder von uns hat seinen Ort und seine Funktion in ihrer Geschichte. Gewiß ist hier zu bedenken, daß der Gebrauch der guten Gabe Gottes und also das menschliche Werk und seine großen und kleinen Ergebnisse durch des Menschen verkehrte Einstellung zu Gott, zu seinem Nächsten und zu sich selbst aufs schwerste kompromittiert sind. Die Kultur redet in Geschichte und Gegenwart wahrhaftig deutlich auch davon, daß der Mensch nicht gut, sondern weithin geradezu ein Ungeheuer ist. Man wird aber, auch wenn man gerade in dieser Hinsicht der tiefsinnigste Skeptiker [17] wäre, angesichts der auch dem nicht-guten, ja ungeheuerlichen Menschen zugewendeten Menschlichkeit Gottes nicht sagen dürfen, daß die Kultur nur davon redet. Was ist sie an sich anderes als der Versuch des Menschen, Mensch zu sein und also die gute Gabe seiner Humanität zu Ehren zu ziehen und ins Werk zu setzen? Daß er in diesem Versuch immer wieder scheitert, ja, das Gegenteil erreicht, ist eine Sache für sich, die aber daran nichts ändert, daß dieser Versuch unvermeidlich ist – vor allem nichts daran, daß ja eben der als Schaffender oder als Nutznießer irgendwie an diesem Versuch beteiligte Mensch das Gott interessierende Wesen ist – nichts schließlich auch daran, daß es Gott als dem Schöpfer und Herrn des Menschen unbenommen bleibt, es auch im menschlichen Wirken und in dessen Ergebnissen, ihrer Problematik ungeachtet, je und je auch zu Gleichnissen seines eigenen ewig guten Wollens und Tuns kommen zu lassen, denen gegenüber dann erst recht keine hochmütige Enthaltsamkeit, sondern Ehrfurcht, Freude und Dankbarkeit am Platz sein dürften.
Wir haben als zweite Konsequenz festzustellen, daß insbesondere der theologischen Kultur – neben Pyramidenbau, vor- und nachkantischer Philosophie, klassischer Dichtung, Sozialismus und theoretischer und praktischer Atomphysik gibt es ja auch das! – durch die Menschlichkeit Gottes ein ganz bestimmtes Thema vorgegeben ist. Sie hat sich, da Gott in seiner Göttlichkeit menschlich ist, weder mit Gott an sich, noch mit dem Menschen an sich, sondern mit dem dem Menschen begegnenden Gott und mit dem Gott begegnenden Menschen zu beschäftigen: mit ihrer Zwiesprache und Geschichte, in der ihre Gemeinschaft Ereignis wird und zu ihrem Ziele kommt. Eben darum kann sie nur im Blick auf Jesus Christus und von ihm her denken und reden. Sie kann ihn nicht auf den Plan führen. Sie kann auch jene Zwiesprache, Geschichte und Gemeinschaft nicht vollziehen. Sie hat keine Verfügung darüber. Sie ist angewiesen auf die Heilige Schrift, laut derer der Bund in vollem Vollzug ist und in der er, in der Jesus Christus sich selbst bezeugt. Sie hört dieses Zeugnis. Sie vertraut ihm, sie läßt sich an ihm genügen. So empfing sie in allen Jahrhunderten, so empfängt sie auch heute ihren Gegenstand, ihr Thema und mit ihr die Anleitung zu der ihr angemessenen [18] wissenschaftlichen und praktischen Sachlichkeit. Darin besteht die Sachlichkeit, die die Theologie in ihrer Exegese, in ihrer Erforschung, Darstellung und Deutung der christlichen Geschichte und Gegenwart, in ihrer Dogmatik und Ethik, in ihrer Predigt, Unterweisung und Seelsorge zu bewähren hat: daß sie, ohne sich nach rechts oder nach links in die Irre locken zu lassen, jenen Verkehr – den Verkehr Gottes mit dem Menschen, in welchem es zum Verkehr des Menschen mit Gott kommt – zu sehen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen versucht: das Wort und die Tat der Gnade Gottes und das Wort und die Tat der durch sie herausgeforderten, erweckten und genährten menschlieben Dankbarkeit – das Erste nicht ohne das Zweite und das Zweite nicht ohne das Erste, beide in ihrer eben durch die in der Göttlichkeit und so in der Menschlichkeit Gottes vorgegebenen Folge, Unterschiedenheit und Einheit. Wo sie sich an dieses Thema hält, da ist sie auch in ihrer bescheidensten Gestalt gute – sagen wir für einmal: kultivierte Theologie.
Ob uns der theologische Existentialismus Bultmanns und der Seinen, in dessen Nähe wir uns ja hier befinden, in dieser einer guten Theologie unentbehrlichen Sachlichkeit weiterbringt, wird sich erst zeigen müssen. Noch ist es nämlich nicht am Tage, ob und in welchem Sinne eine echte, konkrete Zwiesprache, Geschichte und Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch auch da im Blickfeld ist, oder ob es sich da nicht doch nur um eine Repristination (in einen früheren Zustand versetzen; Fundamentalismus) der Theologie des einsam über sich selbst (diesmal über seine Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit) reflektierenden, sich selbst aussagenden und explizierenden gläubigen Einzelmenschen handelt. Es erregt Bedenken, daß weder das Volk Israel noch die christliche Gemeinde für diese Theologie bis jetzt konstitutive Bedeutung zu haben scheinen. Und was bedeutet etwa die neuerdings besonders eifrig proklamierte «Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas», solange nicht geklärt und gesichert ist, daß diese Unternehmung im Resultat nicht doch wieder auf den anthropozentrischen Mythus hinauslaufen, gerade jenen Verkehr zwischen Gott und Mensch und damit den Gegenstand der Theologie nicht aufs neue problematisieren wird? Gewiß: der Existentialismus mag uns, indem er uns noch und noch einmal eingeschärft hat, daß man von Gott nicht reden kann, ohne vom Menschen zu reden, noch einmal an die particula veri der älteren [19] Schule erinnert haben. In den alten Irrtum, als ob man vom Menschen reden könne, ohne zuerst, und das sehr konkret, vom lebendigen Gott geredet zu haben, wird er uns hoffentlich nicht zurückführen.
Eine dritte Konsequenz: Gottes Menschlichkeit und ihre Erkenntnis ruft nach einer bestimmten Haltung und Ausrichtung des christlich-theologischen Denkens und Redens. Es kann sich mit seinem Gegenstand nie im leeren Raum, nie in bloßer Theorie beschäftigen. Theologie kann keine in sich ruhenden oder auch bewegten Wahrheiten feststellen, bedenken und zur Sprache bringen: weder eine abstrakte Wahrheit über Gott, noch eine solche über den Menschen, noch auch eine solche über den Verkehr zwischen Gott und Mensch. Sie kann nie monologisch konstatieren, reflektieren, referieren. Beiläufig gesagt: es gibt keine theologische Bildkunst. Gerade die Menschlichkeit Gottes läßt sich, weil sie ein Geschehen ist, nicht bildlich fixieren. Die Grundform der Theologie ist in Entsprechung zu ihrem Gegenstand das Gebet und die Predigt. Sie kann selber nur dialogisch sein. Ihre äußere Voraussetzung und Veranlassung besteht darin, daß eben jener Verkehr zwischen Gott und Mensch zwar alle Menschen angeht, indem in ihm, nämlich in Jesus Christus, ihrer Aller eigenste Sache verhandelt, über ihrer Aller Leben und Tod entschieden wird, daß sie darum Alle um ihn wissen müßten, um selber dazu Stellung und daran Anteil zu nehmen – daß da aber Viele, viel zu Viele sind, die noch nicht oder nicht mehr oder nicht recht darum wissen – irgendwie gilt das alles sogar von jedem Menschen! – daß es also nötig und geboten ist, ihnen zu verkündigen, zuzurufen, mitzuteilen: tua res agitur (es geht um deine Sache)! Christliches Denken kreist wie um Gottes Wort vom Friedensbunde, so um den Menschen, der dies Wort so oder so nicht oder nicht recht vernommen, dem es darum durchaus gesagt werden muß. Und christliches Reden ist wie Gebet zu Gott, so Anrede an diesen Menschen. Es ist, wie uns die formgeschichtliche Exegese gezeigt hat, schon im Neuen Testament und dort exemplarisch für die ganze der Auferstehung Jesu Christi folgende, seiner unmittelbaren, universalen, abschließenden Offenbarung vorangebende Zeit – Kerygma, Heroldsruf, Botschaft, die nicht zu irgendeinem frei schweifenden Spekulieren, sondern zu dem besonderen Nachdenken des Glaubens und des Gehorsams einladet [20] und auffordert, in welchem der Mensch aus dem bloßen «Interesse» des Zuschauers hinübertritt in das echte Inter-Esse, in welchem er wie in der Gottheit Jesu Christi seinen eigenen Gott, so auch in seiner Menschheit sich selber erkennt: sich selber unter Gottes Gericht und Gnade, sich selber als Empfänger seiner Verheißung und seines Gebotes, in welchem er also selber, mit seinem eigenen Verstand, Willen und Gemüt in das Geschehen jenes Verkehrs eintritt. Daß ihm dies widerfahre, das kann ihm das theologische Denken und Reden zwar nicht verschaffen – eben darum kann es nicht nur den Charakter der Anrede, muß es auch den Charakter des Gebetes haben! – Dazu kann es ihm aber dienlich, und eben auf diese Dienlichkeit muß es darum, der Menschlichkeit Gottes selbst entsprechend, ausgerichtet sein. Fehlt ihm diese praktische Ausrichtung, so bedeutete das, daß es nicht nur aus seiner Rolle, sondern aus seiner Art fiele, sich selber preisgäbe, daß es, wie «christlich» seine Inhalte immer sein möchten, zu einem profanen Denken und Reden würde.
Die Frage der Sprache, in der da im besonderen Blick auf die sogenannten «Draußenstehenden» zu sprechen ist, ist so brennend ernst nicht, wie es heute von verschiedenen Seiten behauptet wird. Zunächst darum nicht, weil, wieder von der Menschlichkeit Gottes her gedacht, mit real «Draußenstehenden», mit einer «mündig gewordenen Welt» seriöser Weise gar nicht gerechnet werden kann, sondern nur mit einer solchen, die sich für mündig hält (und tagtäglich beweist, daß sie gerade das nicht ist) – weil es, von dorther gedacht, nur solche geben kann, die sich selber noch nicht als «Drinnenstehende» begriffen und ergriffen haben – und weil in diesem letzteren Sinne auch der überzeugteste Christ sich selber immer aufs neue als einen «Draußenstehenden» erkennen muß und wird.
So dürfte es denn auch keine besondere Sprache für Drinnen- und für Draußenstehende geben. Weltmenschen unserer Zeit sind beide, sind wir alle. Ein bißchen «nicht-religiöse» Straßen-, Zeitungs-, Literatur- und, wenns hoch kommt, Philosophensprache mag also, wenn es um die Anrede geht, gelegentlich wohl am Platze sein. Ein Gegenstand besonderer Sorge sollte das aber auf keinen Fall werden. Ein bißchen Sprache Kanaans, ein bißchen «Offenbarungspositivismus» kann nämlich in der Anrede an uns alle auch eine gute Sache sein und wird nach meiner Erfahrung, mit der ich gewiß nicht allein stehe, [21] nicht immer, aber oft gerade von den seltsamsten Fremdlingen besser verstanden, als wenn man ihnen – als «Jesuit im Gütterli» sicher keine sympathische Figur! – mit irgendeinem augenblicklich modernen Kauderwelsch entgegenkommen zu müssen meint. Eine befremdliche Neuigkeit ist ja das, was wir ihnen – und zuerst uns selbst – zu sagen haben, auf jeden Fall. Sehen wir zu, daß es die große Neuigkeit – die Botschaft von der ewigen Liebe Gottes, gerichtet an uns Menschen, wie wir zu allen Zeiten waren, sind und sein werden wirklich ist, dann werden wir von ihnen, was sie auch damit anfangen oder nicht anfangen mögen, bestimmt sehr wohl verstanden werden. Wer das Herz wirklich bei Gott und eben darum wirklich bei den Menschen hat, der darf vertrauen, daß das Wort Gottes, das er zu bezeugen versucht, nicht leer zurückkommen wird.
Eine vierte Konsequenz: Es wird der Sinn und Ton unseres Wortes grundsätzlich ein positiver sein müssen. Verkündigung des Bundes Gottes mit dem Menschen, Anzeige des Ortes, der dem Menschen in diesem Bunde ein für allemal eröffnet und angewiesen ist, Immanuelsbotschaft, Christusbotschaft – das ist die Aufgabe. Es geht in jener Zwiesprache und Begegnung, die unser theologisches Thema ist, um Gottes Gnade und um des Menschen Dankbarkeit. Den in Jesus Christus geschlossenen Abgrund wieder aufzureißen, kann nicht unsere Aufgabe sein. Wohl wahr, und nochmals gesagt: der Mensch ist nicht gut. Gott wendet sich ihm nicht zu, ohne zu seiner Übertretung in unerbittlicher Schärfe Nein zu sagen. So kann es nicht anders sein, als daß auch die Theologie im Rahmen ihres Themas dieses Nein zur Sprache bringen muß – nun aber doch nicht anders denn als das Nein, das Jesus Christus für uns Menschen auf sich genommen hat, damit es uns nicht mehr treffe und damit wir uns nicht mehr darunterstellen möchten. Was in Gottes Menschlichkeit geschieht, ist, indem sie jenes Nein in sich schließt, die Bejahung des Menschen. Die Orientierung unseres Wortes ist damit gegeben. Der Mensch, mit dem wir es in uns selbst und in den Anderen zu tun haben, ist auch als der Rebell, der Faule, der Heuchler, der er ist, das Geschöpf, dem sein Schöpfer treu und nicht untreu ist, mehr noch: das Wesen, das Gott geliebt hat, liebt und lieben wird, für das er in Jesus Christus sich selbst eingesetzt und zum Bürgen gemacht hat, «Jesus ist Sieger!» [22] und «Ihr Menschen seid Gottes!» – diese beiden Blumhardt-Losungen gelten. Und in dieser Auslegung, als Satz trotzig-freudiger Verkündigung mag denn auch gelten: Anima humana naturaliter christiana (Die menschliche Seele ist von Natur aus christlich – Augustin)! Das ist es, was wir den Menschen im Blick auf den Humanismus Gottes ohne Rücksicht auf die mehr oder weniger dichte Gottlosigkeit ihres Humanismus zu bezeugen haben – alles andere nur im Rahmen dieser Aussage und Zusage. Wie ja auch die bittersten Anklagen und die düstersten Gerichtsdrohungen der alttestamentlichen Propheten nur im Zusammenhang der Geschichte des von Jahwe begründeten und aller Untreue Israels zum Trotz treu gehaltenen Bundes laut werden. Wie auch die Bußpredigt des Täufers nur in dem schon nahe herbeigekommenen Himmelreich ihren Grund und Sinn hatte. Wie denn auch gewisse furchtbare Stellen am Ende der Johannes-Apokalypse in deren allerletzten Worten ihren Raum und eben damit ihre Grenze haben: «Amen, ja komm Herr Jesu! Die Gnade des Herrn Jesus sei mit Allen!» Frohe Botschaft verkündigt das Wort Gottes den Armen, Befreiung den Gefangenen, Augenlicht den Blinden, Rechtfertigung und Heiligung und sogar Berufung zum Dienst den groben und den feinen Sündern. Man bedenke, was daraus folgt: Mißverständnisse als solche aufdecken und bloßstellen ist Eines, Verstehen und zum Verstehen anleiten ein Anderes. Und so ist sittlicher Ernst eine lobenswerte Sache, so ist die Gabe eindringender und vielleicht witziger Zeit-, Situations- und Seelenanalyse gewiß eine schöne Gabe.
Die Aufgabe, das Evangelium zum Leuchten zu bringen, ist aber vordringlicher als die, jenen Ernst sichtbar zu machen und diese Gabe spielen zu lassen. Wem diese positive Aufgabe nicht schlechterdings die Hauptaufgabe ist, wer die Menschen vor allem um ihrer Torheit und Bosheit willen anschreien, verblüffen oder auslachen will, der würde besser überhaupt schweigen. Zur Menschlichkeit Gottes gibt es in dieser Hinsicht nur ein Analogon: die aufrichtende, und gerade so, aber auch nur so wirklich richtende Botschaft von der großen Freude, die dem Menschen von Gott bereitet ist und die er seinerseits an Gott haben darf: «All meine Quellen sind in dir!» (Ps. 87, 7).
Also «Allversöhnung?» Ich möchte hier nur drei kurze Bemerkungen machen, aus denen man keine Stellungnahme für oder gegen das, was unter diesem Namen unter uns umgeht, heraushören möchte: [23]
- man möchte sich dem panischen Schrecken, den schon dieses Wort als solches um sich zu verbreiten scheint, jedenfalls nicht hingeben, bevor man sich über seinen allfälligen Sinn oder Unsinn genau verständigt hat,
- man möchte sich durch die Stelle Kol. 1,19, wo es immerhin heißt, daß Gott beschlossen habe, durch seinen Sohn als sein Ebenbild und als den Erstgeborenen der ganzen Schöpfung «Alles (ta pánta) mit sich selbst zu versöhnen» und durch ihre Parallelen immerhin anregen lassen, darüber nachzudenken, ob der Begriff nicht vielleicht auch einen guten Sinn haben könnte, und
- man möchte sich angesichts der «Gefahr», von der man den Begriff noch und noch umwittert sehen mag, einen Augenblick fragen: ob im Ganzen die «Gefahr» des ewig skeptisch-kritischen, immer wieder bedenklich fragenden, weil im Grunde immer noch gesetzlichen und darum in der Hauptsache grämlich düsteren Theologen unter uns nicht vorläufig immer noch drohender ist als die eines unangebracht heiteren Indifferentismus oder gar Antinomismus, dem sich einer bei einem bestimmten Verständnis jenes Begriffs in der Tat ausliefern könnte? Das ist sicher, daß es kein theologisches Recht gibt, der in Jesus Christus erschienenen Menschenfreundlichkeit Gottes unsererseits irgendwelche Grenzen zu setzen. Unsere theologische Plicht ist, sie als immer noch größer zu sehen und zu verstehen, als wir es zuvor getan hatten.
Und nun zum Abschluß noch eine fünfte Konsequenz: In Erkenntnis der Menschlichkeit Gottes ist die Christenheit, ist die Kirche ernst zu nehmen und zu bejahen, hat man sich dankbar zu ihr zu bekennen. Wir haben uns, ein Jeder an seinem Ort, an ihrem Leben zu beteiligen, ihrem Dienst einzugliedern. Es gehört auch zu den Überspitzungen, deren wir uns um 1920 schuldig machten, daß wir die theologische Relevanz der Kirche eigentlich nur in ihrem Charakter als negatives Gegenbild zu dem von uns damals so glücklich wiederentdeckten Reiche Gottes zu sehen vermochten, die Gestalt ihrer Lehre, ihres Gottesdienstes, ihrer rechtlichen Ordnung als «menschlich, allzu menschlich» nur eben «nicht so wichtig» nehmen wollten, allen ihnen zugewandten Ernst oder gar Eifer für überflüssig oder gar schädlich erklärten und bei dem allem der Theorie [24] und Praxis eines geistlichen Freischärlertums und einer esoterischen Gnosis mindestens nahekamen. Es wäre nun angesichts der immer wieder aktuellen römischen Versuchung, aber auch angesichts der im heutigen Deutschland umgehenden und vielleicht eines Tages auch auf unser Gelände übergreifenden ekklesiastischen, konfessionalistischen und überhaupt traditionalistischen, auch klerikalistischen und liturgistischen Restauration und Reaktion gewiß nicht angebracht, den schließlich durch die ganze Bibel hindurchgehenden Ton von dem beim Hause Gottes anhebenden Gericht heute zum Schweigen zu bringen oder auch nur zu dämpfen. Und die ebenfalls biblisch gesicherte Reihenfolge événement-institution umzukehren, war und ist bestimmt kein gutes Unternehmen. Wir hatten und haben aber zu sehen und zu verstehen, daß es bei der Aufrechterhaltung dieser Reihenfolge und bei der Erinnerung an jenes Gericht um eine Vernachlässigung oder gar Aufkündigung unserer Solidarität mit der Kirche auf keinen Fall kommen darf, daß das kirchenkritische Wort nur dann sinnvoll und fruchtbar sein kann, wenn es aus der Einsicht in – ich sage nicht zu viel – die Heilsnotwendigkeit der Existenz und Funktion der Kirche stammt und in der Absicht des Dienstes an ihrer Sammlung, Auferbauung und Sendung gesprochen ist. Die Menschlichkeit Gottes gilt dem alten und dem neuen Israel, dem in seinem und nicht in irgendeinem leeren Raum existierenden Einzelmenschen. Jesus Christus ist das Haupt seines Leibes und nur so auch das seiner Glieder. Das Bekenntnis zu Gottes in ihm geschehenen Werk lautet dahin, daß es pro nobis und nur so auch pro me geschehen ist. Das Unser Vater ist ein Wir-Gebet und nur so auch ein Ich-Gebet. «Wir» sind die Kirche. Die Kirche ist das besondere Menschenvolk, die Gemeinde, nach Calvins Ausdruck die Kompagnie, die durch ein bißchen armselige, aber unüberwindliche, weil durch den Heiligen Geist begründete Erkenntnis des in Jesus Christus offenbaren gnädigen Gottes konstituiert und zu seinem Zeugen in der Welt bestimmt und berufen ist. Und was ist die Existenz dieses besonderen Menschenvolkes anderes als die gewiß überall verwischte und verdunkelte und in ihrer Kontinuität allzu oft unterbrochene Spiegelung der Menschlichkeit Gottes, dessen Zuwendung zu den Menschen nun einmal so weit geht, Einige, Viele von ihnen in vorläufiger Vertretung der Übrigen und als seine Boten an sie zu [25] seiner Anbetung, zu seinem Lob und Dienst aufzurufen und zu erwecken? Wir wären unmenschlich, wo Gott menschlich ist, wir würden uns Jesu Christi selber schämen, wenn wir uns der Kirche schämen wollten. Denn was Jesus Christus für Gott und für uns auf Erden und in der Zeit ist, das ist er als Herr dieser Gemeinde, als König dieses Volkes, als Haupt dieses Leibes und aller seiner Glieder. Er ist es mit und in dieser unansehnlichen, schmerzlich zerrissenen und auch sonst so fragwürdigen Christenheit, mit, unter und in den Christen, die im besonderen zu bewundern oder gar zu lieben es so viel ernstliche Erschwerungen gibt. Er ist es als Versöhner und Erlöser der ganzen Welt, er ist es aber in der wunderlichen Gemeinschaft dieser wunderlichen Heiligen. Sie ist ihm nicht zu gering, sondern in ihrer ganzen Art und Unart lieb und wert genug, ihr seine Bezeugung und so seine Sache in der Welt, ja, sich selbst zu anvertrauen. So groß ist Gottes Menschenfreundlichkeit! Eben darum gibt es keine private Christlichkeit. Eben darum geht es nicht anders, als daß wir diese Gemeinschaft in ihrer Besonderheit ernst nehmen, bejahen, lieben, ihre gewiß menschlichen, allzumenschlichen Bemühungen um bessere Erkenntnis und besseres Bekenntnis, um ihre Versammlungen, um ihre innere Ordnung und um ihre Aufgabe nach außen auch in allen Einzelheiten kritisch, aber ernstlich wichtig nehmen. Eben darum kann auch Theologie nicht auf den privaten Leuchttürmen irgendwelcher bloß persönlicher Entdeckungen und Ansichten getrieben werden, kann sie nur kirchlich sein, das heißt in allen ihren Elementen nur im Zusammenhang des Fragens und Antwortens jener Gemeinschaft und im strengen Dienst ihres Auftrages an alle Menschen ins Werk gesetzt werden. Man muß vielleicht eine schwere Zeit der Kirche selber mitgemacht haben, um zu wissen, daß es Stunden ihrer Arbeit, ihres Kampfes und Leidens gibt, in denen auf irgendein menschliches, sehr menschliches Jota oder Strichlein in ihren Entscheidungen und so auch in ihrem Denken und Reden nicht weniger als alles ankommen kann. Man wird dann vorsichtiger in der Stimmung, in der man da überall nur Adiaphora sehen möchte. In einer wirklich lebendigen Kirche gibt es vielleicht überhaupt keine Adiaphora. Aber wie dem auch sei: unser credo in Spiritum sanctum (ich glaube an den Heiligen Geist) wäre leer, wenn es nicht auch konkret, praktisch und verbindlich in sich schlösse das credo unam, sanctam, [26] catholicam et apostolicam ecclesiam (ich glaube die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche). Wir glauben die Kirche als den Ort, wo in christokratischer Bruderschaft die Krone der Humanität, nämlich des Menschen Mitmenschlichkeit, sichtbar werden darf – und mehr als das: als den Ort, wo Gottes Ehre auf Erden wohnen, wo nämlich die Humanität, die Menschlichkeit Gottes schon in der Zeit und hier auf Erden greifbare Gestalt annehmen will. Hier erkennt man die Menschlichkeit Gottes. Hier freut man sich ihrer. Hier feiert und bezeugt man sie. Hier trotzt man auf den Immanuel, wie es Einer, der gerade im Blick auf die Welt die Last der Kirche nicht von sich werfen, sondern auf sich nehmen und tragen wollte, im Namen aller ihrer Glieder getan hat – Röm. 8,31: «Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?»
Vortrag, gehalten an der Tagung des Schweizerischen Reformierten Pfarrvereins in Aarau am 25. September 1956.
Erschienen in der Reihte Theologische Studien, hrsg. von Karl Barth, Heft 48, Zollikon-Zürich: EVZ 1956.
[1] Karl August Förster, 1784-1841.
[2] Emanuel Geibel, 1815-1884, Ostermorgen.
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