
Von Abraham Joshua Heschel
Ehrfurcht ist ein Weg, mit dem Geheimnis der ganzen Wirklichkeit in Übereinstimmung zu stehen. Die Ehrfurcht, die wir in der Gegenwart eines Menschen empfinden oder doch empfinden sollten, ist die plötzliche Erkenntnis der Gottesebenbildlichkeit, die in seinem Sein verborgen ist. Nicht nur der Mensch, auch unbeseelte Dinge stehen in Beziehung zum Schöpfer. Das Geheimnis jeden Seins ist die göttliche Fürsorge und Teilnahme, die es umgibt. In jedem Geschehen steht etwas Heiliges auf dem Spiel.
Ehrfurcht ist ein intuitives Wissen um die kreatürliche Würde aller Dinge und um ihren Wert für Gott; die Gewißheit, daß die Dinge nicht nur sind, was sie sind, sondern daß sie, wie entfernt auch immer, Bürge sind für etwas Absolutes. Ehrfurcht ist ein Gefühl für die Transzendenz, für den überall gegenwärtigen Hinweis auf Ihn, der hinter allen Dingen steht. Sie ist eine Einsicht, die man besser durch Verhaltensweisen zeigen kann als durch Worte. Je eifriger wir bemüht sind, sie in Worte zu fassen, desto weniger bleibt davon übrig.
Ziel der Ehrfurcht ist zu erkennen, daß das Leben sich unter weiten Horizonten abspielt, Horizonten, die über die Reichweite eines Einzellebens ebenso hinausgehen wie über das Leben eines Volkes, einer Generation oder eines Zeitalters. Ehrfurcht befähigt uns, Hinweise auf das Göttliche in der Welt wahrzunehmen, in kleinen Dingen den Anfang einer unendlichen Bedeutung zu spüren, Endgültiges im Alltäglichen und Gewöhnlichen zu fühlen, im Sturm des Vorübergehenden die Dinge des Ewigen zu erfahren.
Wenn wir ein Objekt analysieren oder werten, so beurteilen wir es von einem bestimmten Gesichtspunkt aus. Der Psychologe, der Volkswirtschaftler, der Chemiker – sie wenden ihre Aufmerksamkeit unterschiedlichen Aspekten des gleichen Objektes zu. Unserem Geist sind Grenzen gesetzt, so daß wir nie drei Seiten eines Gebäudes gleichzeitig wahrnehmen können. Gefährlich wird es, wenn wir, völlig befangen in einer Perspektive, einen Teil für das Ganze halten. Im Zwielicht solcher Perspektive wird selbst die Teilsicht verzerrt. Was wir durch Analyse nicht verstehen können, dessen werden wir durch Ehrfurcht gewahr. Wenn wir »stillstehen und betrachten«, werden wir das erkennen und bezeugen, was sich jeder Analyse entzieht.
Wissen wird genährt durch Neugier. Weisheit wird genährt durch Ehrfurcht. Wahre Weisheit ist Teilhabe an der Weisheit Gottes. Manche Menschen mögen »ein ungewöhnliches Maß an gesundem Menschenverstand« für Weisheit halten. Für uns ist Weisheit die Fähigkeit, alle Dinge vom Standpunkt Gottes aus zu sehen, sie ist Mitfühlen mit der leidenschaftlichen Anteilnahme Gottes und völlige Einigung des eigenen Willens mit dem Willen Gottes. »So spricht der Herr: ›Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit! Der Starke rühme sich nicht seiner Stärke! Nicht rühme der Reiche sich seines Reichtums! Sondern wer sich rühmt, der rühme sich, daß er Mich kennt und versteht, daß Ich der Herr bin, der Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn daran habe Ich Gefallen, spricht der Herr‹« (Jer 9,22-23).
Wenn ein Mensch sich dessen bewußt wird, daß Gott »der große Herrscher ist, Fels und Fundament aller Welten, vor dem alles, was existiert, wie nichts ist, wie gesagt ist: alle Bewohner der Erde sind wie nichts« (Dan 4,32)[1], dann wird er überwältigt sein vom Gefühl für die Heiligkeit Gottes. Solche Ehrfurcht spiegelt sich wider in der Mahnung des Propheten: »Kriech in die Felsenhöhlen! Verbirg dich im Staub vor dem Schrecken des Herrn, vor dem Glanz seiner Majestät« (Jes 2,10).
Bei Maimonides (Führer der Verwirrten) finden wir klassisch ausgedrückt, was Sinn und Verhaltensweise der Ehrfurcht ist:
Wenn ein Mensch sich in der Gegenwart eines großen Königs befindet, so wird er nicht sich setzen, sich bewegen und benehmen, als wäre er allein im eigenen Haus; er wird im Audienzsaal des Königs nicht in der gleichen saloppen Weise reden, wie er es daheim im Familienkreis oder bei seinen Verwandten tut. Darum wird jeder, der eifrig nach menschlicher Vollkommenheit strebt und ein echter Gottesmensch sein will, sich der Tatsache bewußt sein, daß der große König, der ihn ständig schützt und ihm nahe ist, mächtiger ist als irgendein menschliches Wesen, und sei es David oder Salomo. Dieser König und ständige Wächter ist der Geist, der auf uns ausgegossen ist als das Band zwischen uns und Gott. Ebenso wie wir Ihn in jenem Licht schauen, das Er über uns ausgießt-, wie gesagt ist: »In Deinem Licht sehen wir das Licht« (Ps 36,10) – so blickt Gott in dem nämlichen Licht auf uns nieder. Seinetwegen ist Gott ständig mit uns und schaut auf uns nieder. »Kann sich einer so heimlich verbergen, daß Ich ihn nicht sähe?« (Jer 23,24).
Quelle: Abraham Joshua Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, übersetzt von Ida Maria Solltmann, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1980, S. 58f.
[1] Sohar I, 11b.