
Im Hinblick auf den alttestamentlichen Predigttext für den sechsten Sonntag nach Ostern (Exaudi) hier eine Predigtmeditation von Gerhard von Rad:
Predigtmeditation zu Jeremia 31,31-34
Von Gerhard von Rad
Die fast zu bekannte Perikope von dem neuen Bund steht in dem sogenannten Trostbüchlein für Ephraim, Jer. 30-31. Ephraim, der Rumpf des ehemaligen Nordreiches, ist im Jahre 722 unter den Schlägen der Assyrer zusammengebrochen. Sein Territorium ist in das assyrische Provinzialsystem eingegliedert und mit heidnischen Kolonen besiedelt worden (2.Kön. 17,24ff.). Damit war es nach menschlichem Urteil dem gemeindlichen Tod ausgeliefert; die Heilsgeschichte schien über ihm still zu stehen. Ungefähr 100 Jahre später, nachdem inzwischen der gemeindliche Ablösungs- und Auflösungsprozeß unaufhaltsam fortgeschritten war, richtete Jeremia an dieses von Israel abgerissene und tote Gebiet eine umfassende Heilsbotschaft, deren letztes Wort unsere Perikope ist. „Deus promittit rursus fore unum corpus“ (Calvin z.St.). Schon dieser Tatbestand wäre vom Ausleger allseitig zu bedenken, denn die christliche Gemeinde — gerade sofern sie sich als ein solches Ephraim erkennen muß — darf glauben, daß solches im Alten Bund uns zum Vorbild (als Typos) geschehen sei (1.Kor. 10,11).
Das alte Israel wußte sich im Bunde mit Gott. Das war keine religiöse Idee, sondern eine sehr bedrängende und beglückende Wirklichkeit. Israel hat sich in diesem Verhältnis der Nähe zu Gott einfach vorgefunden; in den Geboten Gottes war ein Hoheitsrecht Gottes über diesem Volk ausgerufen, eine Lebensgemeinschaft mit Gott war ihm angeboten, denn nach dem Zeugnis des Alten Testaments hatte der Gehorsam den Geboten gegenüber die Verheißung des Lebens schlechthin (5.Mose 30,15ff.).
Das baalti in V. 32 zu emendieren ist unnötig („obwohl ich ihr Herr geworden war“ vielleicht sogar: „mich ihnen angetraut habe“). Ja, Gott hat die Gemeinde des alten Bundes „bei der Hand genommen“. Der Ausdruck ist auffallend herzlich (ähnlich Hos. 11,1-4); er schließt die Vorstellung von einer geradezu väterlichen Führung und Geduld mit ein: wie Kinder hat Gott das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens über die Abgründe, Gefahren und Anfechtungen der Wüstenwanderung in die Freiheit seines Herrschaftsbereiches geführt. Aber sie haben den Bund gebrochen (das hemmah steht betont vor dem Verbum: an Gott hat’s nicht gelegen; vgl. Mi. 6,3 ff.). So zeigt die Geschichte des alten Bundes wirklich etwas wie ein Scheitern des göttlichen Heilsplanes: Israel ist an Gott und seinen Geboten durch eigene Schuld gescheitert.
Daß der Bund gebrochen sei, war den Hörern des Propheten gewiß eine aufregende Neuigkeit! Inwiefern er gebrochen wurde, ist nicht ausgeführt; die Tatsache wird vom Propheten als evident vorausgesetzt. Wollte man diese Frage beantwortet haben, so wäre die Auskunft, die die Propheten geben, eine ziemlich eindeutige: Mit der Staatenbildung, also nach der Richterzeit, fing Israel an, sich von den alten patriarchalischen Ordnungen zu lösen. Als Staat mit einem König begann es mehr und mehr nach dem Gesetz der Staatsräson zu handeln; es begann in seinem politischen Handeln sich von taktischen Gesichtspunkten leiten zu lassen und auf dem Gebiet des Militärischen von der Ordnung des „heiligen Krieges“ zu lösen (Rosse und Streitwagen!); und in seinem politischen Sicherheitsverlangen fing es an, sich auf irdische Machtfaktoren (Bündnisse!) statt auf Gott allein zu verlassen. In gleicher Weise entzog sich Israel auf dem Gebiet der inneren Ordnungen den göttlichen Geboten. Mit der Staatenbildung setzte ein großer Prozeß der Emanzipation ein.
Dieser von Gott mit Israel geschlossene Bund ist also gelöst und zunichte geworden. Aber „nach dieser Zeit“ will Gottes Gnade einen neuen Bund schließen. Ein Bund inauguriert ein Gemeinschaftsverhältnis, das auf ganz bestimmten Lebensordnungen steht. So ist nun die erste Frage eben die nach den Lebensordnungen dieses neuen Bundes. Offenbar sind es durchaus die alten, es ist Gottes Gesetz. Und wie könnten sie auch andere sein? Gottes heiliger Wille war doch nicht ein willkürliches Angebot unter vielen möglichen. Und wie könnte ein feierlich dem Menschen von Gott zugesprochener Wille hinfallen und liquidiert werden? Es ist von entscheidender Wichtigkeit, daß der Ausleger klar sieht: die Lebensordnungen des neuen Bundes sind genau dieselben wie die des alten. „Videmus ergo Deum ab initio sic loquutum esse, ne syllabum quidem postea mutaverit, quantum attinet ad doctrinae summam“ (Calvin z.St.). (Und das ist einer der Gründe, weshalb das für die christliche Gemeinde schlechterdings unaufgebbar ist!) Was aber ist dann neu an diesem Bund?
„Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben.“
Neu ist offenbar die Art der Aneignung. Der Wille Gottes an den Menschen war im alten Bund auf die steinernen Tafeln geschrieben. Er traf den von Gott abgefallenen Menschen von außen als ein fremder Wille und mußte ihn ins Gericht führen. So sprach Israel am Sinai: „Laß Gott nicht mit uns reden, wir möchten sonst sterben“ (2.Mose 20,19). Gott wird sein Gebot dem Menschen in Herz und Willen legen, so daß der Mensch Gottes Willen mit dem seinigen geeint im Herzen trägt.
Diese Stelle ist der Ausgangspunkt klassischer Fehlauslegungen gewesen. Die Entgegensetzung: hie äußerlicher Buchstabengehorsam, hie Gesinnung ist ganz schief. Daß Gottes Wille zu erfüllen ist von ganzem Herzen, von allem Vermögen (5.Mose 6,5), das wußte auch das alte Israel. Noch weniger freilich geht es um eine Heiligsprechung des innersten Seelischen, des Besten im Menschen, des Naiven und Unmittelbaren als des Gegenpols zum Gesetz. „Takt, Gewissen, der Sinn für das Gute, der dunkle Drang des sich des rechten Weges bewußten Menschen, das Feingefühl der Seele für ihre Aufgabe, das zum Sein gewordene Soll, die mit allem Guten unmittelbar und unbewußt eins gewordene Persönlichkeit“ (Niebergall z.St.). — Etwas anders verhält es sich mit der Parole des reinen Idealismus: „Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron“ (Schiller: Die Ideale). Hier wird der Preis ja nicht so billig gegeben, auch besteht zweifellos ein geistesgeschichtlicher Zusammenhang mit der Botschaft des Evangeliums. Aber es ist hier nun doch in exemplarischer Weise das Evangelium in Gesetz verkehrt. Und ist es denn überhaupt eine Möglichkeit für den Menschen, dies, was Gott zu wirken verheißen hat, als eine allgemeine Wahrheit auszurufen?
Hinter der ganzen Perikope steht unausgesprochen die Überzeugung, daß es außerhalb des Vermögens des Menschen liegt, sich zur Erfüllung des Gotteswillens selbst zu bereiten und tüchtig zu machen (Jer. 13,23!). Die Initiative (und das ganze Handeln!) geht ausschließlich von Gott aus. Es handelt sich um eine Gabe und nicht um das Ergebnis irgendeines menschlichen Strebens, und wäre es das frömmste und lauterste. Dieses Geschehen bedeutet 1. eine totale Erneuerung des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Und 2. ist es ein eschatologisches Geschehen.
1. Entgegen den tausendfältigen Versuchen des Menschen, auf magischem oder mythischem Weg Anschluß an Gott zu gewinnen, besteht unser prophetisches Wort auf der Einkehr des Menschen in den Gehorsam des göttlichen Willens. Aber Gott selbst will den vollkommenen Gehorsam, der den Menschen endlich in Einklang mit seinem Schöpfer bringen wird, wirken. Er will selbst — wie wir auch sagen können — den neuen Menschen schaffen. Es wird das nicht dadurch geschehen, daß der Mensch mit wunderhaften Kräften und Fähigkeiten ausgestattet wird, jedenfalls nicht durch eine Befreiung von den Nöten und Grenzen, die ihn jetzt einengen. In erhabener Einseitigkeit wird die Erneuerung des menschlichen Herzens für vollkommen zureichend zur Heilung des gestörten Gottesverhältnisses gehalten — eben dadurch, daß dem Menschen Gottes Gebot ins Herz geschrieben wird, so daß er ganz von sich aus nichts anderes als Gottes Willen will, leb ist freilich mehr als unser „Herz“; es ist nach alttestamentlicher Vorstellung nicht nur der Sitz des Gefühls, sondern auch des Verstandes und Willenslebens.
Die Voraussetzung dieser Erneuerung von Gott her ist die Sündenvergebung. Man könnte unsere Perikope von Jer. 17,1 her auslegen: In die Herzen ist jetzt die Sünde tief eingeschrieben. Erst wenn diese Beschriftung getilgt ist, kann Gott seinen Willen einschreiben. Die Folge dieser Erneuerung ist das Ende des Lehramtes.
Die Phrase „Jahwe erkennen“ meint durchaus nicht eine Gotteserkenntnis im spekulativ intellektuellen Sinne, jada bedeutet vielmehr ein „Erfahrung haben von, ein vertraut werden mit“, jodea heißt der „Freund“. Auch die Verwendung des Verbums zur Bezeichnung des geschlechtlichen Verkehrs zwischen Mann und Weib ist keineswegs nur ein Euphemismus. So ist mit Recht behauptet worden, daß in dem Wort jada ein Liebeselement mitschwinge (Procksch). Bezeichnend dafür ist die bevorzugte Verwendung des Begriffs der daat elohim (Gottes,,erkenntnis“) als des Inbegriffs des rechten Zugekehrtseins des Menschen zu Gott bei Hosea (2,22; 4,1.6; 5,4; 6,3.6; 3,4). Vgl. zum Ganzen den Artikel ginosko im ThWB von Bultmann.
2. Der neue Bund ist nach dem Zeugnis des Propheten eine Gabe der Endzeit. In Jesus Christus ist er erfüllt (Mk. 14,24; Lk. 22,20). Jesus Christus war der neue Mensch, der Gottes Willen ganz in seinem Willen trug als der Erstgeborene vieler Brüder („Meine Speise ist die, daß ich tue den Willen des, der mich gesandt hat“, Joh. 4,34). Sofern wir Christo angehören, gilt Weissagung auch von uns, sofern wir jetzt schon „gestorben“ und mit ihm „auferstanden“ sind (Kol. 3,1—3). Dieser unser neuer Mensch ist im Glauben jetzt schon vorhanden, aber dieses unser neues Christusleben ist noch „verborgen“, so wie der auferstandene Herr in dieser Weltzeit noch verborgen ist. So stehen wir jetzt eigentümlich zwischen den Bünden, und darin ist alles adventliche Warten begründet.
Sofern unser geistiges Personleben noch dem Fleisch unterworfen ist, bedürfen wir noch des Lehramtes. Doch wird dieses Lehramt auch jetzt schon nie mehr gesetzlich werden dürfen; es grenzt sich immer wieder ein, denn es anerkennt die Freiheit des heiligen Geistes, die jeden zu Belehrenden Gott gegenüber auch wieder mündig macht (2.Kor. 1,24). So ist auch alles Lehramt unter den Christen grundsätzlich immer eggys aphanismou (Hebr. 8,13). Wie könnte diese Gewißheit, würde sie ernster genommen, alles Seufzen der Theologen stillen!
Eine Art Paraphrase unseres Textes findet sich, wie man längst gesehen hat, in Jer. 32,28-41. Sie wäre bei der Auslegung auch zu Hilfe zu nehmen.
Quelle: Gerhard von Rad, Predigtmeditationen, Göttingen 1973, 89-93.