
1937 hielt Dietrich Bonhoeffer im Predigerseminar Finkenwalde folgende Judas-Predigt:
Predigt zu Matthäus 26,45b-50, Finkenwalde, Sonntag Judica, 14. März 1937
Von Dietrich Bonhoeffer
Siehe, die Stunde ist hier, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät! Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, der Zwölfe einer, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohenpriestern und Ältesten des Volks. Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s; den greifet! Und alsbald trat er zu Jesu und sprach: Gegrüßet seist du, Rabbi! und küßte ihn. Jesus aber sprach zu ihm: Mein Freund, warum bist du gekommen? da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesum und griffen ihn. (Matthäus 26, 45b-50)
Ein Geheimnis hatte Jesus seinen Jüngern bis zum letzten Abendmahl verborgen. Zwar hatte er sie nicht im Unklaren gelassen über seinen Leidensweg. Zwar hatte er ihnen dreimal bezeugt, daß des Menschen Sohn überantwortet werden muß in die Hände der Sünder. Aber das tiefste Geheimnis hatte er ihnen noch nicht offenbart. Erst in der Stunde letzter Gemeinschaft beim heiligen Abendmahl konnte er es ihnen sagen: Des Menschen Sohn wird überantwortet in die Hände der Sünder – durch Verrat. Einer unter euch wird mich verraten.
Die Feinde allein können keine Macht über ihn gewinnen. Es gehört ein Freund dazu, ein nächster Freund, der ihn preisgibt, ein Jünger, der ihn verrät. Nicht von außen geschieht das Furchtbarste, sondern von innen. Der Weg Jesu nach Golgatha nimmt seinen Anfang mit Jüngerverrat. Die einen schlafen jenen unbegreiflichen Schlaf in Gethsemane, einer verrät ihn, zum Schluß „verließen ihn alle Jünger und flohen“.
Die Nacht von Gethsemane vollendet sich. „Siehe, die Stunde ist hier“ – jene Stunde, die Jesus vorhergesagt hatte, von der die Jünger seit langem wußten, und vor deren Eintreten sie bebten, jene Stunde, auf die sich Jesus so ganz bereitet und für die die Jünger so ganz und gar unbereitet waren, die Stunde, die nun mit keinem Mittel der Welt mehr hinauszuschieben war – „Siehe, die Stunde ist hier, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird“.
„Überantwortet“ sagt Jesus, das heißt, es ist nicht die Welt, die über ihn Macht gewinnt, sondern jetzt wird Jesus von den Seinen selbst ausgeliefert, preisgegeben, aufgegeben. Der Schutz wird ihm aufgesagt. Man will sich nicht weiter mit ihm belasten: Laßt ihn den Andern. Das ist es, Jesus wird weggeworfen, die schützenden Hände der Freunde sinken. Mögen nun die Hände der Sünder mit ihm tun, was sie wollen. Mögen sie ihn antasten, deren unheilige Hände ihn nie berühren durften. Mögen sie mit ihm spielen, ihn [ver]spotten und schlagen. Wir können nichts mehr daran ändern. Das heißt Jesus überantworten: nicht mehr für ihn eintreten, ihn dem Spott und der Macht der Öffentlichkeit preisgeben, die Welt mit ihm umgehen lassen nach ihrem Mutwillen, nicht mehr zu ihm stehen. Jesus wird von den Seinen der Welt ausgeliefert. Das ist sein Tod.
Jesus weiß, was ihm bevorsteht. In Festigkeit und Entschlossenheit ruft er seine Jünger auf: „Stehet auf, laßt uns gehen.“ Oftmals hatten die drohenden Feinde vor ihm zurückweichen müssen, er war frei durch ihre Mitte hindurchgeschritten, ihre Hände sanken. Damals war seine Stunde noch nicht gekommen. Jetzt ist die Stunde hier. Jetzt geht er ihr in freiem Entschluß entgegen. Und damit kein Zweifel mehr sei, damit es unzweideutig klar sei, daß die Stunde da ist, in der er überantwortet wird, sagt er: „Siehe, er ist da, der mich verrät.“ Kein Blick fällt auf die große Schar, die heranzieht, auf die Schwerter und Stangen der Feinde. Die hätten keine Macht! Jesu Blick trifft allein den, der diese Stunde der Finsternis heraufgeführt hat. Auch seine Jünger sollen wissen, wo der Feind steht. Einen Augenblick liegt alles, liegt Heils- und Weltgeschichte in den Händen des einen – des Verräters. Siehe, er ist da, der mich verrät – und in der Nacht erkennen die Jünger schaudernd in ihm – Judas, den Jünger, den Bruder, den Freund. Schaudernd – denn als Jesus am Abend derselben Nacht zu ihnen gesagt hatte: Einer von euch wird mich verraten, hatte keiner gewagt, den andern zu beschuldigen. Keiner konnte diese Tat dem andern zutrauen. Darum mußte ein jeder fragen: Herr, bin ich’s? Herr, bin ich’s? Eher noch war das eigene Herz solcher Tat fähig, als der andere, der Bruder.
„Und als er noch redete, siehe, da kam Judas der Zwölfe einer, und mit ihm eine große Schar, mit Schwertern und mit Stangen.“ Jetzt sehen wir nur noch zwei, um die es hier geht. Die Jünger und die Häscher treten zurück, sie beide tun ihr Werk schlecht. Nur zwei tun ihr Werk so, wie sie es tun mußten, Jesus und Judas. Wer ist Judas? das ist die Frage. Es ist eine der ganz alten und grüblerischen Fragen der Christenheit. Halten wir uns zunächst an das, was der Evangelist uns selbst dazu sagt: Judas, der Zwölfe einer. – Ob wir etwas spüren von dem Grauen, mit dem der Evangelist dieses kleine Satzteilchen geschrieben hat? Judas, der Zwölfe einer – was war hier mehr zu sagen? und war hiermit nicht auch wirklich alles gesagt? das ganze dunkle Geheimnis des Judas und zugleich das tiefste Entsetzen vor seiner Tat. Judas, der Zwölfe einer, das heißt doch: es war unmöglich, daß dies geschah, es war ganz unmöglich, und es geschah doch. Nein, hier ist nichts mehr zu erklären und zu verstehen. Es ist ganz und gar unerklärlich, unbegreiflich, es bleibt ganz und gar Rätsel – und doch geschah die Tat. Judas, der Zwölfe einer, das heißt ja nicht nur: er war einer, der Tag und Nacht um Jesus war, einer, der Jesus nachgefolgt war, der es sich etwas hatte kosten lassen, der alles verlassen hatte, um mit Jesus zu sein, ein Bruder, ein Freund, ein Vertrauter des Petrus, des Johannes, des Herren selbst. Es hieß ja noch etwas viel Unbegreiflicheres: Jesus selbst hatte Judas berufen und erwählt! Das ist das eigentliche Geheimnis, denn Jesus wußte, wer ihn verraten würde, von Anfang an. Bei Johannes sagt Jesus: Habe ich nicht euch Zwölf erwählt, und euer einer ist der Teufel. Judas der Zwölfe einer – dabei muß ja nun der Leser nicht nur auf Judas, sondern vielmehr in großer Bestürzung auf den Herren schauen, der ihn erwählte. Und die er erwählte, die hat er geliebt. Er hat ihnen Anteil gegeben an seinem ganzen Leben, an dem Geheimnis seiner Person, er hat sie in gleicher Weise ausgesandt zur Predigt des Evangeliums. Er hat ihnen die Vollmacht der Teufelaustreibung und Heilung gegeben – und Judas war mitten unter ihnen. Nirgends eine Andeutung davon, daß Jesus den Judas im Geheimen gehaßt hätte. Nein, Judas schien durch sein Amt, den Beutel der Jünger zu verwalten, noch ausgezeichnet vor den andern. Zwar sagt Johannes einmal, Judas sei ein Dieb gewesen. Aber sollte das nicht nur eine dunkle Andeutung dafür sein, daß Judas ein Dieb war an Jesus, daß er Jesus stahl, was ihm nicht zukam und es der Welt preisgab? Und sind nicht auch die 30 Silberlinge nur ein Zeichen dafür, wie gemein und gering die Gabe der Welt ist für den, der die Gabe Jesu kennt? Und doch wußte Jesus von Anfang an, wer ihn verraten würde! Ja, Johannes weiß noch von einem überaus geheimnisvollen Zeichen der Verbundenheit Jesu mit Judas zu berichten. In der Nacht des Abendmahls reicht Jesus dem Judas einen eingetauchten Bissen, und mit diesem Zeichen höchster Gemeinschaft fährt der Satan in Judas. Darauf spricht Jesus halb bittend, halb befehlend zu Judas: Was du tust, das tue bald. Kein anderer begriff, was hier vorging. Es blieb alles zwischen Jesus und Judas.
Judas, der Zwölfe einer, von Jesus erwählt, von Jesus in seine Gemeinschaft gezogen, geliebt – heißt dies, daß Jesus auch seinem Verräter seine ganze Liebe zeigen und erweisen will? Heißt es, daß er auch wissen soll, daß es an Jesus im Grunde gar nichts zu verraten gibt? Heißt es auch dies, daß Jesus in tiefer Liebe den Willen Gottes liebt, der sich in seinem Leidensweg vollzieht, daß er auch den liebt, durch dessen Verrat der Weg frei wird, ja, der nun Jesu Geschick für einen Augenblick in seiner Hand trägt? Heißt es, daß er ihn liebt als den Vollstrecker des göttlichen Willens und doch weiß: Wehe dem, durch welchen es geschieht? Es ist ein großes, unerforschliches Geheimnis – Judas, der Zwölfe einer.
Aber es ist ja auch ein Geheimnis von der Seite des Judas her. Was will Judas bei Jesus? Es muß dieses sein, daß der Böse vom Unschuldigen, vom Reinen nicht loskommt. Er haßt ihn, und indem er doch nicht von ihm lassen kann, liebt er ihn eben auch mit der dunklen, leidenschaftlichen Liebe, mit der auch der Böse, der Teufel, noch um seinen Ursprung in Gott, im Reinen weiß. Der Böse will der Jünger des Guten sein. Der Böse ist der leidenschaftlichste Jünger des Guten – bis er ihn verrät. Der Böse weiß, daß er Gott dienen muß, und liebt Gott um seiner Macht willen, die er selbst nicht hat, und hat doch nur den einen Drang, über Gott Macht zu gewinnen. So ist er der Jünger und muß seinen Herrn doch verraten. Jesus erwählt den Judas, Judas kann nicht von Jesus lassen. Jesus und Judas gehören zusammen von Anfang an. Keiner läßt den andern los.
Und nun sehen wir dies an der Geschichte selbst: Jesus und Judas verbunden durch einen Kuß. Hört das Ungeheuerliche: „Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s; den greifet! Und alsbald trat er zu Jesu und sprach: Gegrüßet seist du, Rabbi! und küßte ihn. Jesus aber sprach zu ihm: Mein Freund, warum bist du gekommen? da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesum und griffen ihn.“ Und: „Judas, verrätst du des Menschen Sohn durch einen Kuß?“ Noch einmal packt uns die Frage: Wer ist Judas, der des Menschen Sohn mit einem Kuß verrät? Es ist gewiß oberflächlich zu sagen, der Kuß sei eben die übliche Begrüßungsform gewesen. Dieser Kuß war mehr als das! Dieser Kuß war die Vollendung des Weges des Judas, der tiefste Ausdruck für die Gemeinschaft und für die abgrundtiefe Trennung zwischen Jesus und Judas.
„Mein Freund warum bist du gekommen?“ Hört ihr, wie Jesus den Judas noch liebt, wie er ihn noch in dieser Stunde seinen Freund nennt? Jesus will den Judas noch jetzt nicht loslassen. Er läßt sich von ihm küssen. Er stößt ihn nicht zurück. Nein, Judas muß ihn küssen. Seine Gemeinschaft mit Jesus muß sich vollenden. Warum bist du gekommen? Jesus weiß es wohl, warum Judas gekommen ist und dennoch: Warum bist du gekommen? Und: Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß? Ein letzter Ausdruck der Jüngertreue, vereint mit Verrat. Ein letztes Zeichen der leidenschaftlichen Liebe, gepaart mit dem viel leidenschaftlicheren Haß. Ein letzter Genuß an einer unterwürfigen Geste, im Bewußtsein der Übermacht des davongetragenen Sieges über Jesus. Ein bis ins tiefste hinein entzweites Tun, dieser Judaskuß! Von Christus nicht lassen können, und ihn doch preisgeben. Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß? Wer ist Judas? Sollten wir hier nicht auch des Namens gedenken, den er trug? „Judas“, steht er nicht hier für das im tiefsten entzweite Volk, aus dem Jesus stammte, für das erwählte Volk, das die Verheißung des Messias empfangen hatte und ihn doch verwarf? für das Volk Juda, das den Messias liebte, und doch so nicht lieben konnte? „Judas“ – sein Name heißt verdeutscht „Dank“. War dieser Kuß nicht der Jesus dargebrachte Dank des entzweiten Volkes des Jüngers und doch zugleich die ewige Absage? Wer ist Judas, wer ist der Verräter? Sollten wir angesichts dieser Frage etwas anderes tun können, als mit den Jüngern sprechen: Herr, bin ich’s, bin ich’s?
„Da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesum und griffen ihn.“ „Ich bin’s, ich sollte büßen an Händen und an Füßen, gebunden in der Höll. Die Geißel und die Banden, und was Du ausgestanden, das hat verdienet meine Seel’.“ Laßt uns noch das letzte Ende ansehen! Zu derselben Stunde, als Jesus Christus sein Erlösungsleiden am Kreuz in Golgatha vollbringt, ist Judas hingegangen und hat sich erhängt, hat sich in fruchtloser Reue selbst verdammt. Furchtbare Gemeinschaft!
Die Christenheit hat in Judas immer wieder das dunkle Geheimnis der göttlichen Verwerfung und ewigen Verdammung gesehen. Sie hat mit Schrecken den Ernst und das Gericht Gottes an dem Verräter erkannt und bezeugt. Sie hat aber gerade darum nie mit Stolz und Überheblichkeit auf ihn gesehen, sondern sie hat in Zittern und Erkenntnis der eigenen übergroßen Sünde gesungen: O du armer Judas, was hast du getan! So wollen auch wir heute nichts anderes sagen als dies: O du armer Judas, was hast du getan! und wollen Zuflucht nehmen zu dem, der um unserer aller Sünde willen am Kreuz gehangen und uns die Erlösung vollbracht hat, und wollen beten:
O hilf Christe, Gottes Sohn
Durch dein bitter Leiden
Daß wir dir stets untertan
All’ Untugend meiden.
Deinen Tod und sein Ursach’
Fruchtbarlich bedenken
Dafür, wiewohl arm und schwach,
Dir Dankopfer schenken. Amen.