
Von Martin Buber
I. Ein Bibelkurs soll zum biblischen Text hinführen, nicht über den Text weg. Es kommt erstlich — und letztlich — darauf an, verstehen zu lehren was dasteht. Und dazu muß man selber das, was dasteht, ernst nehmen. In seinem Wortlaut, in seinem Sinngehalt, in seinen Zusammenhängen.
II. Mit einem noch so schwer zu erfassenden Wortlaut muß man bis aufs äußerste ringen, ehe man sich, mit der Melancholie eines unvermeidlichen Verzichts im Herzen, entschließt, auch nur einen einzigen Vokal anders zu lesen als er dasteht, das heißt: sich und den andern einzugestehen, daß man hier den Zugang zum Text nicht hat und nicht erarbeiten kann. Nichts billiger, als den Text für irrig zu halten und zu vermeinen, man könne hinter ihn und so zu einem richtigen gelangen! Man soll sich aber klarmachen, daß der für die uns vorliegende Textgestalt Verantwortliche nicht weniger Hebräisch konnte als unsereiner. Was er mit dem was dasteht meinte, wie er es verstand, das zu erfassen ist unsre Aufgabe; hinter ihn gelangen zu wollen ist eine aussichtslose Selbst-[311]täuschung, denn auch da, wo etwa die alten Übertragungen in einer andern Lesung als die masoretische übereinstimmen, können wir nicht ermitteln, ob man nicht damals schon sich ein Überschweres zu erleichtern versuchte. Der »feste Buchstab« ist, wie problematisch er auch erscheinen mag, eine strenge Wirklichkeit, daneben alles andere Schein.
III. Dieser so — bis auf jene Grenzfälle, wo einem die Untreue schmerzhaft aufgenötigt wird — anzunehmende Wortlaut aber muß eben als die zulängliche wort- hafte Gestalt seines Sinns verstanden werden. Es kann sich hier nicht um einen Inhalt handeln, der diese Form bekommen hat, aber auch eine andre vertrüge, um ein Was, das von diesem Wie abgelöst und einem andern verbunden werden könnte, um etwas, das »man auch anders sagen kann«. Man kann es nicht anders sagen, ohne daß es etwas anderes wird! Und wenn es etwas anderes wird, dann eben etwas ganz anderes, einer andern Ordnung Angehöriges, etwas — Unbiblisches. Das biblische Wort ist nirgends bloßer »Ausdruck« für ein geistiges oder seelisches Anliegen, sei es »ethischer«, sei es »religiöser« Art, oder für einen geschichtlichen oder sagenhaften Sachgehalt, sondern es ist überliefertes Wort, das einst gesprochen worden und dann in seiner Gesprochenheit überliefert worden ist: einst gesprochen als Botschaft, als Gesetzspruch, als Weissagung, als Gebet, als Bericht, als Belehrung, als Bekenntnis, als Dialog, so dem organischen Gedächt-[312]nis der Geschlechter anvertraut und darin bewahrt und stets neu in lebendiger Rede erhalten, ohne Aufzeichnung oder neben der Aufzeichnung, und auch noch nachdem alles aufgezeichnet war aus der Schrift immer wieder in der Gesprochenheit erstehend. Die Prägung dieses Wortes ist sein Wesen selber, seine einmalige Beschaffenheit, auszuschmelzen ist es nicht; sein Rhythmus ist die notwendige Form, in der es sich dem Volksgedächtnis zugeteilt und auferlegt hat; seine Lautwiederholungen sind gestiftete Bezüge zwischen Stelle und Stelle; auch wo es zu spielen scheint, zielt es, — »Wortspiel« ist hier Worternst, der tiefe Ernst der Wortwelt selbst.
IV. »Gesprochen« heißt: in einer bestimmten Situation gesprochen. Das biblische Wort ist auch von den Situationen seiner Gesprochenheit nicht abzulösen, sonst verliert es seine Konkretheit, seine Leiblichkeit. Ein Gebot ist keine Sentenz, sondern eine Anrede; zu Volk gesprochen und von den Volksgeschlechtern je als zu diesem Geschlecht gesprochen gehört, aber nie ins Zeitlose zu heben; macht man es zu einer Sentenz, versetzt man es aus der zweiten in die dritte Person, aus der Verbindlichkeit des Hörens in die Unverbindlichkeit des interessierten Lesens, so nimmt man ihm sein Fleisch und sein Blut. Eine Prophetie ist die Rede eines als beauftragt redenden Menschen zu einer Menschenschar, in einer bestimmten Stunde, in einer bestimmten [313] Lage, deren Folge von der Entscheidung mitabhängt, welche diese Schar auf diese Rede hin in dieser Stunde fassen—oder unterlassen wird; gerade darin, in diesem unverlorenen Atem des entscheidungsmächtigen Augenblicks liegt das Geheimnis der ewigen Geltung künderischen Worts. Die biblischen Geschichten sind nur zum geringen Teil chronikartige Niederschrift, in den meisten lebt noch die aufrufende, zeitenverbindende, vorbildweisende oder warnende Stimme der Erzähler. Mögen manche Psalmen den Charakter liturgischen, einzelne gar litaneiartigen Gedichts tragen, der Grundton bleibt die gelebte Unmittelbarkeit echten Notschreis und Dankjubels, Sprache persönlicher Sprecher, die gerade wenn und weil sie das »Ich« der wirklichen Person meinen, als Chorführer der Gemeinschaft deren Schicksal und deren Heil im Liede sagen. Diese seine situationsgeborene, situationsgerechte Konkretheit muß dem biblischen Text bewahrt werden; man darf ihn nicht als Stücke einer Literatur, man soll ihn stets als Teile eines ungeheuren, vielstimmigen, in einem Urgrund schaffenden und offenbarenden Worts entspringenden, in ihm beterisch mündenden Gespräches lehren. Dafür ist nicht dies das Wichtige, sich von den Historikern sagen zu lassen, wann, wo, unter welchen Umständen dieser oder jener Text entstanden sei; die Historiker, auch die bauenden und deutenden, sind ins Mittelbare gebannt und auf seine Behelfe angewiesen; das Wichtige ist, sich von dem einzelnen Text über seine be-[314]sondere Situationsbindung sagen zu lassen, was er und nur er darüber zu sagen vermag.
V. Biblische Texte sind als Texte der Bibel zu behandeln, das heißt: einer Einheit, die, wenn auch geworden, aus vielen und vielfältigen, ganzen und fragmentarischen Elementen zusammengewachsen, doch eine echte organische Einheit und nur als solche wahrhaft zu begreifen ist. Das bibelstiftende Bewußtsein, das aus der Fülle eines vermutlich weit größeren Schrifttums das aufnahm, was sich in die Einheit fügte, und in den Fassungen, die dieser Genüge taten, ist nicht erst mit der eigentlichen Zusammenstellung des Kanons, sondern schon lange vorher, in allmählichem Zusammenschluß des Zusammengehörigen, wirksam gewesen. Die Kompositionsarbeit war bereits »biblisch«, ehe die erste Vorstellung einer bibelartigen Struktur erwachte; sie ging auf eine jeweilige Zusammenschau der verschiedenen Teile aus, sie stiftete Bezüge zwischen Abschnitt und Abschnitt, zwischen Buch und Buch, sie ließ den tragenden Begriff durch Stelle um Stelle klären, ließ die heimliche Bedeutung eines Vorgangs, die sich in der einen Erzählung nur eben leicht auftat, in einer andern sich voll erschließen, ließ Bild durch Bild und Symbol durch Symbol erleuchten. Manches von dem, was man »Midrasch« nennt, ist schon in der Bibel selbst, in diesen Zeugnissen einer zur biblischen Einheit strebenden Auslese- und Koordinationsarbeit zu finden, deren stärk-[315]stes Werkzeug eine diskret folgerichtige Verwendung von Wiederholungen, Motivworten, Assonanzen war. Wir stehen hier erst am Anfang einer methodischen Erkenntnis. Es gilt den Blick für diese Entsprechungen und Verknüpfungen und überhaupt für die Einheitsfunktion in der Bibel zu schärfen. Dann ergeben sich uns ganz andre Gebilde als die der »Quellenschriften«, auf die die alttestamentliche Wissenschaft der letzten Jahrhunderte den Bau der Schrift zurückzuführen sucht, es ergibt sich größere Verschiedenheit und größere Gemeinsamkeit, und das in seiner Dynamik erkennbare Werden dieser aus jener. Damit soll nicht gesagt sein, daß man sich nicht mit den Thesen der modernen Wissenschaft vertraut machen solle. Man soll es tun; man soll nur auch wissen, was es ist, das man durch sie erfährt. Thesen kommen und gehen; die Texte bleiben.
Quelle: Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin: Schocken 1936, S. 310-315.
[1] Aus dem dritten Rundbrief der von mir geleiteten »Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung« (Anfang 1936). Ich habe hier die Grundsätze zusammengefaßt, die sich mir aus meinen Erfahrungen in einer Reihe von Bibelkursen (für Lehrer, Jugendführer usw., zwischen Frühjahr und Winter 1934 und seit dem Spätherbst 1935, an verschiedenen Orten Deutschlands) ergeben haben.