Joseph Wittigs „Die Erlösten“ von 1922: „Der Katholik treibt sich sein Leben lang in den Grenzgebieten des Reiches Gottes herum und fühlt sich stets von Strafen für Grenzüberschreitungen bedroht.“

S 168
Joseph Wittig (1879-1949)

Nachdem Joseph Wittig 1922 mit seinem Hochland-Essay „Die Erlösten“ die katholische Sündenlehre bzw. Beichtpraxis heftig kritisiert hatte, wurden im Juni 1925 sechs seiner Schriften in Rom auf den Index gesetzt. Da sich Wittig zudem weigerte, das Tridentinische Glaubensbekenntnis und den Antimodernisteneid zu wiederholen, wurde er schließlich am 12. Juni 1926 exkommuniziert. Damit war die akademische Laufbahn Wittigs beendet. Fortan wirkte er als religiöser Schriftsteller, dessen Werke in evangelischen Verlagen veröffentlicht wurden. Über seine Erfahrungen mit der akademischen Lehre schreibt er in „Die Erlösten“:

Die Erlösten

Von Joseph Wittig

Das war eine helle Lust in der Schulklasse, die wegen der beschränkten Raumverhältnisse der alten Schlegler Schule hinterm Dorf in einem früheren Pferdestalle eingerichtet war! Ich glau­be, die Pferdekrippen standen noch da, wenigstens im Vorraum. Sicher weiß ich, daß es noch stark nach der früheren Verwendung des weiten Gewölbes roch. So etwas zieht in die Mauern ein und bleibt darin wie die Erbsünde in der Menschennatur. Wir großen Jungen empfunden es als eine außerordentliche Bevorzugung vor den anderen Schülern, daß wir nicht mehr in die eigentliche Schule gehen mußten. Die weißgetünchten Klassen, der gelbe Schrank, der storch­beinige Katheder, der umzäunte Schulhof, das war uns seit langem zuwider. Jetzt hatten wir eine Noteinrichtung, die uns viel vertraulicher vorkam; wir hatten einen Hof ohne Zaun, wir hatten freies Gelände; wir gingen nun ordentlich gern in die Schule. Ich glaube aber, daß ich mit dem allen noch nicht den tiefsten Grund unseres Glückes genannt habe, ja daß sich dieser Grund ohne eingehende psychologische Erörterungen überhaupt nicht nennen läßt. Es war irgend etwas anders geworden in unserem Leben. Wir waren neue Menschen geworden.

Die Osterzeit war nahe. Auch die Osterferien. Es kam jetzt darauf an, daß wir nach den Oster­ferien in der Schulmesse ein rechtes Osterlied singen könnten. Darum übte der Lehrer stun­denlang mit uns das Lied ein: ‚Getröst, getröst, wir sind erlöst! Die Hölle ward zu schanden.‘ Ein schönes Lied. Echter Osterjubel. Aber nur für Menschen, welche die ganze Trostlosigkeit des Unerlöstseins, die ganze Macht der Hölle, die ganze Finsternis und Qual eines sündigen Herzens, den schweren Druck und die harten Fesseln des inneren Lebens erfahren haben.

Wir Jungen brauchten keinen Trost. Wenn nur erst die Stunde vorüber war und die Pause be­gonnen hatte, dann war uns Pferdestall, Hof und freies Feld Trost genug. Es ging uns so wie wohl den meisten katholischen Christen, welche die Lehre von der Erlösung zwar als Kate­chismuskapitel und Predigtthema gelernt haben, aber weder in ihrem äußeren noch in ihrem inneren Leben etwas davon spüren. Nur wenn wir an der alten Schule Vorbeizogen und an ihren Fenstern die anderen Kinder sahen, fanden wir eine passende Verwendung für jenes Osterlied und sangen: ‚Getröst, getröst, wir sind erlöst!‘

Das war häßlich, aber es war nun einmal so. Und wenn einer früge: ‚Wo blieb denn der Lehrer mit dem spanischen Rohr?‘, so müßte ich widerfragen: ,Hätte uns der Lehrer mit dem spani­schen Rohr den richtigen Begriff von dem Geheimnis der Erlösung beigebracht?‘ Oder ich müßte sagen: ,Wer in diesem Punkte ohne Sünde ist, d. h. wer selber den richtigen, stets lebendigen Glauben an das Erlöstsein hat, der greife nach dem spanischen Rohr und haue die Jungen!‘

Ich selbst war leider unter jenen Jungen, die das entheiligte Osterlied am lautesten heraus­schrien, so laut, daß das Gellen davon in meiner Seele [2] blieb. Schon auf dem langen, einsa­men Heimwege nach unserer Kolonie, nachdem ich mich von der Horde der Dorfjungen ge­trennt hatte, klang es wie toll um mich herum: ,Getröst, getröst, erlöst, erlöst.‘ Schwerbela­dene Wagen fuhren an mir vorbei, und die Fuhrknechte schlugen fluchend auf die Pferde ein. Ein vagabundierender Handwerksbursche schlich an der Straßenseite herbei, die Hände vor dem rauhen Märzwind in den heruntergerissenen Jackentaschen beugend, die Füße in ganz zerrissenen Schuhen.

Eine alte Weberin schleppte in ihrem Buckelkorb den gewaltigen Knäuel Kettengarn mitsamt den vielen Zaspeln Schußgarn heim. Und zuguterletzt brachten sie noch ein krankes Kind gefahren: sie wollten wohl zum Silberberger Doktor oder zum Eckersdorfer Schäfer. Da verloren die Klänge um mich ihren Übermut und formten sich zu der Frage: ,Was heißt denn das: ,Wir sind erlöst?‘‘

Wir Katholiken, auch schon die katholischen Dorfschuljungen, sind so geschult, daß wir auf alle Fragen eine wenigstens uns selbst beruhigende Antwort geben können. Unser Glaube stimmt, das wissen wir. Also muß auch, so meinen wir, jede Erklärung stimmen, wenn sie nur den Glauben bejaht. Wehe dem, der eine solche Erklärung in Zweifel ziehen wollte! Er könnte tausendmal gläubiger sein als wir, er geriete doch in den Verdacht der Ungläubigkeit. Reli­gionsunterricht und Predigt, die alle möglichen Einwürfe erörtern und immer sieghaft erledi­gen, als ob nun jetzt nur noch ein ganz blöder oder verstockter Mensch etwas dagegen haben könnte, gewöhnen uns daran, jeden Erklärungsversuch oder jede Erklärungsmöglichkeit schon für eine befriedigende, zwingende Erklärung zu halten. Mit solcher Sicherheit beantwortete ich mir damals die Frage nach der Erlösung.

Ich dachte mir das Heidentum möglichst finster und greulich, voller Angst alle Menschen, Blut und Mord allüberall, glühende Moloche so zahlreich wie bei uns die Kalköfen und Ziegelbrennereien, Mütter, die in Prozessionen ihre Kinder zu diesen abscheulichen, wie eiserne Ofen eingeheizten Götzen tragen und ihnen in den Rachen werfen, auf allen Wegen und hinter jedem Busch ausgesetzte Säuglinge, Greuel jeglicher Art, Fläche und Lästerungen, unheimliche Gewalten in jedem Winkel und jedem Graben, Teufel, umhergehend wie brül­lende Löwen, Zauber und Besessenheit, nirgendwo ein ruhiger; und zufriedener Herz, nirgendwo ein andächtiges Gebet, nirgendwo ein frohes Lachen, nirgendwo Liebe.

Das war ja nun freilich in unserer katholischen Grafschaft alles ganz anders, besonders im Auge des Dorfschuljungen. Kinderaugen sehen überall nur das Gute. Dem Kinde muß man erst sagen, was schlecht ist, und erst von da an sieht es das Schlechte. Daher kam es, daß ich alles, was die Großen taten, für sehr vorzüglich und bewundernswert hielt. Das Fluchen zum Beispiel erschien mir als ein Zeichen ganz hervorragender Männlichkeit, und ich bedauerte die geistlichen Herren, daß sie ihres Standes wegen nie so ganz von Herzen fluchen dürften. Eine klug ausgedachte Lüge erschien mir mehr wie ein Triumph menschlicher Intelligenz als wie [3] ein Unheil, das nach Erlösung geschrien hätte. Alle anderen Spuren des Heidentums waren aber verschwunden, seitdem das Kreuz von den Kirchtürmen herab leuchtete: Ich konnte an das Dogma von der Erlösung glauben.

Und es ging doch immer ein Zug von Freude und Überzeugung durch die Dorfleute, wenn sie bei jeder Kreuzwegstation sprachen: ,Wir beten dich an, Herr Jesu Christ, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst!‘ Auf Bibelbildern sah man auch, wie bei der Flucht Jesu nach Ägypten und bei den Wanderungen der Apostel durch die heidnischen Länder die Götzenbilder reihenweise niederstürzten, als sei das Evangelium wie eine Sense für Marmorstatuen gewesen.

,Die ganze Welt erlöst‘… Ja, wir wußten es ja aus Schule und Predigt, daß die katholische Kirche über die ganze Welt reicht. ,Katholisch heißt: über die ganze Welt.‘ Und überall so siegreich, wie Pfarrer und Kaplan auf der Dorfkanzel. Nur die ganz Verstockten, Hartnäcki­gen und Blöden widerstehen ihr noch. Sonst ist die ganze Welt so erlöst wie die Grafschaft Glatz. Vielleicht eben gerade mit Ausnahme der Neger und Chinesen, unter denen aber die wunderbarsten Bekehrungen nur so an der Tagesordnung waren. Unser Kindheit-Jesu-Verein liefert ja das Geld dazu: Wir bezahlen monatlich fünf Pfennige dafür.

Somit war also alles in schönster Ordnung: ‚Wir sind erlöst!‘ Aber war auch alles wahr? Wie kann man nur so fragen, da es doch die katholische Lehre von der Erlösung so eindrucksvoll bestätigt! Ich glaubte es einstweilen, glaubte an die Dunkelzeichnung des Heidentums und an das lichte Bild des Christentums, an den Sturz böser Götzen – daß die schönen Marmorstatuen so zertrümmert wurden, hat meinem jungen Bildhauerherzen freilich immer Beschwerden gemacht – und an die Herrschaft der seligmachenden Kirche Christi auf der ganzen Erde. Und am Karfreitag betete ich inniger denn je: ,Wir beten dich an, Herr Jesu Christ, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst!‘

Als uns erst gar zu Pfingsten gesagt wurde, welch herrliche Gaben der Hl. Geist auf die Erde gebracht hat: Weisheit, Verstand, Einsicht, Klugheit, Gottesfurcht, Wissenschaft – im ganzen sieben, tatsächlich aber noch viel mehr – da hatte ich eine große Freude. Ich selbst hatte zwar noch keine einzige von den sieben Gaben, aber ich dachte auch nicht so sehr an mich. Leuch­teten sie doch dem jungen Herrn Kaplan, der sie uns erklärte, alle aus dem Gesicht. Da waren sie also; auch die Lehrer besaßen sie. Das genügte.

Neue Fragen tauchten erst in der Adventszeit auf. Sommers über gab es zu viel schöne Dinge auf der Erde. Aber wenn der Schnee kommt, kommen auch wieder die Gedanken. Wir lernten die Geschichte von der Verkündigung Mariens und wie der Engel sprach: ,Er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden.‘ Glücklicherweise gab uns gerade der Lehrer die Bibelstunde, nicht der geistliche Herr, den wir nie fragen mochten, ja [4] zu fragen ganz für ausgeschlos­sen, unnötig, lächerlich fanden, da er ja doch alles gut, alles vollständig, alles unfehlbar sagte. Den Lehrer hielten wir zwar auch für unfehlbar, aber er schnupfte, war also menschlichen Dingen zugänglich. Als er uns von dem großen Glück der Erlösung sprach und immer wieder das Wort des Engels einfließen ließ: ‚Er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden,‘ hob mein ‚Nebenmann‘, der kleine Roter Heinrich, die Hand und fragte: ,Da können wir also nicht mehr sündigen?‘ Er fragte beinahe im Tone des Bedauerns; denn er stellte sich das Sündigen nach der Schulzeit sehr schön vor. Der Lehrer war eine Zeitlang ganz still und dachte nach. Dann stellte er die Gegenfrage: ‚Kann ich dich aus dem Gefängnis erlösen, wenn du noch nicht darin warst, Roter Heinrich?‘ Mein anderer Nachbar, der Beyer Paul, der mich unterdes angestoßen und mir mit einem Seitenblick auf den Lehrer zugeflüstert hatte: ,Du, da weß’s ne!‘, sprang jetzt auf und rief: ‚Der Roter Heinrich hat schon oft gesündigt, er tut bloß so.‘ Damit war leider der theologische Diskurs gestört; der Beyer Paul bekam erst zwei auf die Hände, und der Lehrer konnte uns nun ungestört das ,Resümee‘ der Verhandlungen mitteilen: ‚Jesus hat uns von der Sünde erlöst, indem er uns die Möglichkeit gab, durch das Sakrament der Taufe und der Buße Verzeihung unserer begangenen Sünden zu erlangen.‘

Besonders glücklich waren wir über diese Erklärung nicht. Beyer Paul, der sich noch die Hände rieb, murmelte: ‚Hätte er uns lieber vom Beichten erlöst!‘

Diese Plänkelei in der Schule war nun ja ganz gewiß sehr unbedeutend für die Geschichte der Theologie. Aber unbemerkt von Lehrer und Schülern waren uralte, unzufriedene, verrottete Fragen aus den Tiefen der Menschheit aufgestiegen und waren durch den einstigen Pferde-stall geschlichen und hatten dämonisch gelacht, daß sie nicht beantwortet werden konnten.

Auf dem Nachhausewege ging ein heftiger Dezembersturm. Die Dämonen hatten von allen Jungen mich ausgewählt, um mit mir den langen, einsamen Weg zu gehen. Und sie sprachen zu mir: ‚Die Menschen glauben, daß sie von der Sünde erlöst sind, aber sie sündigen doch sehr viel; sie müssen ja sooft zur Beichte gehen. Sie sündigen gern, aber beichten gehen sie nicht gern. Sie möchten gar nicht gern so erlöst sein. Nein, der Heiland hat es nicht fertig gebracht, sein Volk zu erlösen von seinen Sünden! Die Sünde hat er nicht beseitigt, er hat nur ein neues Leiden gebracht, nämlich das Beichten.‘

Ich antwortete: ‚Aber wenn ich beichte und dann gleich sterbe, dann bin ich von der Sünde erlöst für alle Ewigkeit!‘

,Ja: wenn, wenn!‘ riefen die Dämonen. »Wenn du tausend mal tausend Taler hättest, wärest du ein Millionär.‘

Da kam der Heiland einher, so von der Seite, daß ich ihn nicht gerade sah, aber doch wußte, daß er bei mir war. Ich flehte ihn an: ‚Sage mir: Bin ich erlöst?‘ [5]

‚Vertrau auf mich!‘ antwortete er mir.

Der Dezembersturm hörte auf zu heulen. Über den schwarzen Wolken war der Himmel und im Himmel ,sein Volk‘, die Erlösten Jesu Christi.

Aber da drüben am Busch, da wühlte der Sturm noch. Da stand der Baum, an dem sich der alte Zobel erhängt hatte. Der war auch katholisch gewesen und war sogar alle Sonntage in die Kirche gegangen. Als er sich aufhing, war auch ein so starker Sturm ausgebrochen wie immer, wenn sich einer erhängt. Nun zischte er von drüben herüber: ,Siehst du, siehst du!‘

Warum hat Jesus nicht die ganze Welt erlöst? Da beten doch die alten Frauen beim Kreuzwe­ge falsch! Sie lügen, denn sie glauben selber nicht, daß der alte Zobel erlöst ist, während gera­de der ungläubige Riedel Heinrich immer von dem alten Zobel sagt: ,Der ist gut aufgehoben!‘

Was ist das für ein Widerspruch: Die Ungläubigen glauben, hoffen und segnen, die Gläubigen haben Angst und sagen: ,Wer sich erhängt, kommt in die Hölle, auch wenn er alle Sonntage in die Kirche ging!‘

Nun denkt euch ja nicht, daß ich jetzt jahrelang mit gesenktem Kopfe einherging und über die Erlösung nachgrübelte! Die gesunde Natur hat mich immer wieder von ungesunden Proble­men der Übernatur befreit. Sie war meine Erlöserin für diese Erde. Da gerade der Weidler Guste vorüberging, dessen Vater von meiner Mutter verlangt hatte, daß sie uns strafen sollte, weil wir auf seine Jungen mit Steinen geworfen hatten, pfiff ich ihm ganz leise nach – ganz leise, denn er war viel älter und stärker als ich:

,Guste, Puste, Tentafoß,
Gieh ei de Schule on larn der wos!
Larn der erscht die Nose wescha,
Ebste konnst de Jompfer kessa!‘

Alle diese Dinge kamen mir wieder ein, als ich in meinen Studentenjahren das Kolleg über Dogmatik hören mußte. Wenn schon der Pfarrer und der Kaplan auf der Dorfkanzel den Ein­druck unüberwindlicher Sieghaftigkeit machen, so solltet ihr erst einmal einen Dogmatikpro­fessor auf dem Katheder der Universität sehen! Da gibt es überhaupt nichts mehr von Bedeu­tung außer ihm. Siegessicherer war selbst Alexander der Große nicht. Während Pfarrer und Kaplan wenigstens wirklich kämpfen, laut rufen, daß ein etwa anwesender Gegner schon vor der Stimme kapitulieren muß, mutig und trotzig nach allen Seiten sich wendend, die Brust vorstreckend wie ein Winkelried, mit den Armen fechtend gegen alle Feinde und die ganz böse Welt, die unterdessen noch ganz friedlich in dem schönen Sonntagsmorgenschlafe liegt oder eben den Sonntagsbraten in die Pfanne legt oder beim ersten Pfeiflein die Morgen­zeitung liest, begnügt sich der Dogmatikprofessor mit der Ruhe des obersten Kommandos. Er weiß, daß er recht hat. Er läßt seine Autoritäten aufmarschieren: Moses und [6] die Propheten – sie haben schon ganz genau so gelehrt wie er – Christus und die Apostel – kein Zweifel, daß sie sich seiner Meinung anschließen –; und dann die Kirchenväter – sie folgen dem kommandie­renden Dogmatiker blindlings –; die Konzilien – trotz allein Widerstreit mußten sie immer am Schluß sagen, was der Dogmatiker für recht hält, und wenn er einmal sich von den verdamm­ten Ketzern zu sehr umdrängt sieht, tritt er unbesiegt hinter den eisenfesten Turm des unfehl­baren kirchlichen Lehramtes. Und er weiß: er braucht nur die Augen ein wenig zum Himmel zu erheben, und wenn sie auch nur zur Decke des Hörsaals reichen, so sieht er den Himmel geöffnet, und sein spekulativer Blick geht ins Unendliche. Und wenn auch das irdische Leben manchmal ganz anders ist, als man denkt, so ist doch das überirdische Leben ganz genau so, wie es sich der Dogmatiker denkt. Kein Wunder, daß wir Studenten von vornherein geneigt waren, uns ihm unbedingt zu unterwerfen. Und einige kamen nicht erst ins Kolleg, indem sie sagten: ‚Er hat ja doch recht.‘

Wir hatten schon die Lehre von Gott dem Einen und Gott dem Dreifaltigen gehört: Es waren Stunden voll tiefer Erbauung und freudiger Zustimmung gewesen. Auch die Lehre von der Schöpfung und Weltregierung, das Lieblingsgebiet meiner theologischen Veranlagung: Was gibt es für ein schöneres Thema als Natur und Menschheit, Vorsehung Gottes und das Ge­heim­nis von der unmittelbaren Mitwirkung Gottes bei allem, was geschieht, oder als die Engelwelt, zu der ja auch der treueste Gefährte meines Lebens, mein Schutzengel, gehört! Nun kam die Lehre von der Erlösung. Sie sollte die ganze Zeit von Herbstsemesteranfang bis Weihnachten beanspruchen. Da konnte ich ja endlich genug davon hören.

‚Du,‘ sagte ich meinem Freunde, ‚wenn er uns wieder weiß machen will, daß uns Christus von den Sünden erlöst hat, dann gehe ich nicht mehr ins Kolleg. Denn das ist nicht wahr. Ich bin gar nicht erlöst von meinen Sünden. Ich habe von Jahr zu Jahr gehofft, daß ich sie los werde. Ich habe gar keine Freude mehr gehabt an meiner schönen Jugend. Fortwährend mußte ich mich mit den Sünden plagen. Das nenne ich keine Erlösung.‘

,Du mußt halt deine Sünden beichten,« sagte mein wohlgefestigter Freund. Ach, ich ging ja alle Wochen zur hl. Beicht. Aber die Sünden gingen zu dem einen Beichtstuhlgitter hinein und zu dem anderen kamen sie wieder heraus, zunächst mit der schuldlosen Miene unver­schuldeter Anlage, dann mit dem verführerischen Gesicht der Versuchung, endlich mit dem Rachen des Löwen, von dem der hl. Petrus schon sagte, daß er ,suchet, wen er verschlinge‘. Kamen zum anderen Gitter wieder heraus, selbst in dem sehr kunstreich eingerichteten Beichtstuhl der Klosterkapelle, wo die Gitter mit Falltüren verschließbar waren, die sich abwechselnd vor dem einen und dann vor dem anderen Gitter herunterschieben ließen. [7]

Wieder sagte mein zum Frieden geneigter Freund: ,Beichte nur gut bis zur Sterbestunde, dann bist du für alle Ewigkeit erlöst von allen Sünden!‘ ,Ja,‘ warf ich ein, ,dann kommt noch das Fegfeuer, oder vielmehr, dann werden erst meine Beichten nach den abertausend Vorbedin­gungen der Gültigkeit untersucht, und schließlich heißt es noch: „Bedaure!“‘

Und wenn schon immer alles auf die Ewigkeit geschoben wird! Da können uns die Theologen alles weiß machen, wenn man sie nicht schon auf der Erde dafür fassen kann. Es ist gar zu bequem, fragende und tragende Menschen auf die Ewigkeit zu vertrösten. Das hat der Heiland nie getan, sonst wären ihm alle Apostel davongelaufen außer etwa dem Johannes, den der Heiland so liebte, daß er auch auf der Erde schon seine Freude hatte.

‚Da mußt du halt ein Johannes werden,‘ schlug der Freund ein.

,Da mußt du halt!‘ sagte ich nun wirklich verärgert. ‚Wenn es von mir abhängig ist, dann ist es keine Erlösung durch Jesus Christus, sondern durch mich selbst. Da mußt du halt! Wenn ich nicht kann!‘

Da legte sich wieder fast unsichtbar, fast unmerkbar eine Hand auf meine Schulter, und es war, als spräche der Heiland wieder zu mir: ‚Vertraue!‘

Als ich nun ruhig zu werden begann, fing auch mein Freund an, von der Bedeutung der Sünde im Leben des katholischen Menschen zu sprechen. Er gestand mir zu, daß wenigstens in den Jahren unserer Jugend das religiöse Leben fast nur Kampf und Quälerei sei: Gottesfrieden nur am Sonnabend nachmittag und Sonntag, von der Beicht an bis einige Stunden nach der hl. Kommunion, ein anstrengender Weg von Beicht bis zur Sünde, von Sünde zur Beicht, ein qualvoller Wechsel von Wiederherstellung und Verfall, Verfall und -Wiederherstellung. Der Katholik treibt sich sein Leben lang – solang damals schon unser Leben war – in den Grenz­gebieten des Reiches Gottes herum und fühlt sich stets von Strafen für Grenzüberschreitungen bedroht. Er hat gar keine Zeit, etwas nach der Mitte des Gottesreiches zu wandern, wo es eigentlich erst schön zu werden beginnt. Er muß fortwährend an der Grenze Grenzverlet­zungsprozesse mit seiner Seele, mit seinem Beichtvater, mit seinem Herrgott durchfechten. Er lernt die Geographie des Gottesreiches auswendig, nämlich die Dogmatik; er studiert das Jus des Gottesreiches, nämlich die Moral. Er weiß genau, wieviel Gramm Brot er essen darf, ohne das Fastengebot zu verletzen. Er schließt ziemlich viel Verträge ab mit seinem Gott: Gegen die und die Leistung erwartet er, freilich in aller Demut und mit dem Zugeständnis jedes Man­gels eines Rechtsanspruches, ganz bestimmte Leistungen von seiten Gottes. Er liebt Gott, aber immer aus der Ferne, von der Grenze her, wo er diese Liebe mit jeder Minute verlieren kann. Mehr noch fürchtet er Gott, freilich auch aus der Ferne, in der er doch manchmal denkt, schon etwas riskieren zu dürfen. Gegen das Land in der Mitte, gegen das Land der heiligen Mystik, hat er sogar ein starkes Mißtrauen. [8] Es läßt sich dogmatisch und juristisch nicht scharf genug erfassen und ist im ganzen zu unwissenschaftlich, so unwissenschaftlich, daß sogar der sehr reichlich angefüllte theologische Stundenplan nicht einmal den Namen davon nennt. Das religiöse Leben wird dem jungen Katholiken ja freilich eingeübt. Aber es sind eben nur Ein­übungen, Ausbildung der Technik, religiöses Leben nach bestimmtem Schema und unter mannigfaltigem sanftem Zwange. Auch da muß alles erkämpft werden. Wenig davon, daß das Joch Christi süß und seine Bürde leicht sei. Wenig von der Freiheit der Kinder Gottes. Acht Seligkeiten hat der Heiland verkündet, aber keine ist zu schmecken. Die einzige Ausnahme davon ist das süße Mahl des geliebten Meisters – wenn einer wirklich schon so weit ist, ohne Angst an diese Tafel der Liebe zu gehen, ohne die blutroten Worte zu sehen: ‚Wer unwürdig von diesem Brote ißt oder den Kelch des Herrn trinkt, der wird schuldig des Leibes und Blu­tes des Herrn.‘ Eine Unsumme von seelischer Kraft geht auf den Krieg und auf die beständige, angstvolle Wachsamkeit darauf. Und doch bleibt unendlich viel positive Arbeit zu leisten. Sie wird geleistet, aber es ist Kriegsware, ein Wort, das wir damals freilich noch nicht in der Be­deutung gänzlicher Minderwertigkeit verstanden.

,Vielleicht läßt sich hieraus die Inferiorität der Katholiken auf allen Gebieten erklären,‘ meinte ein Student aus dem zweiten Semester, mußte sich aber das Wort Inferiorität von meinem für die katholische Ehre lebenden und sterbenden Freund gehörig verweisen lassen: ,Die Katholiken sind nicht inferior, sie verwenden nur einen größeren Teil ihrer Kräfte auf ewige Dinge.‘

‚Nun,‘ sagte ich, dem dritten Studenten ein wenig beipflichtend, ‚ich hatte jedenfalls aufmerk­samer und kräftiger studieren können, wenn ich von der verdammten Sünde erlöst wäre. Schon das lange Warten am Beichtstuhl im Dom! Ich mußte als Gymnasiast diese Zeit ausnut­zen, indem ich Horazoden dabei lernte.‘

,Na, hör’ mal, mein Lieber, das ist aber auch eine Art …!‘ Und meines Freundes Antlitz wurde aufrichtig trüb.

Unterdessen hatten wir den Hörsaal erreicht, und es dauerte nicht lange, da kam der freund­liche Professor, der auf seinem Antlitz nicht nur die ganze Fülle irdischer Seligkeit, sondern auch schon einen deutlichen Schimmer überirdischen Glückes trug. Von diesem Manne hätte man sagen können, er sehe genau so aus, als sei er wirklich von allem Leid, allein Irrtum, allem Kampf erlöst, wofern er nicht überhaupt von Anfang an im Status naturae purae geblie­ben war.

Nein, meinte er: Mit einem schallen Mißton habe die geoffenbarte und von ihm tradierte Schöpfungslehre abgeschlossen: mit der Erbsünde. Jetzt kamen wir zu einem Kapitel, in dem die Geigen wieder gestimmt würden, so daß einmal das ewige Lied leidlich harmonisch aus­falle: zum Kapitel von der Erlösung.

‚Ja,‘ dachte ich, ‚das Geigestimmen merke ich deutlich in mir. Aber [9] wenn die E-Saite rich­tig gespannt ist, rutscht mir schon wieder der Wirbel von der A-Saite, und während ich am Wirbel der unzerreißbaren D-Saite drehe, platzt mir die hochgespannte E-Saite.‘

Jede Religion sei im Grunde genommen Erlösungsreligion, versuchte Befreiung von Leid, also entweder Befreiung von bösen Dämonen, wie der Animismus, oder von der Materie, vom physischen Leben, wie der Buddhismus, Neuplatonismus und Gnostizisimus, oder von dunk­len Schickungen Gottes, wie die Religion Jobs und der Psalmen. Ganz einzigartig aber sei die Erlösungslehre Christi: Befreiung von der Sünde als Ursache des Leids und als einer wider­göttlichen Macht.

‚Da haben wir’s,‘ stieß ich meinen Nachbarn an, und es kam mir ein ganz trostloses Bild: Ich sah die Christenheit in tausendmal mehr Gelegenheiten und Versuchungen zur Sünde als die heidnische Menschheit. Die große, fast unübersehbare Reihe kirchlicher Vorschriften, jede einzelne noch durch die kasuistische Moral in mehrere drehend Gelegenheiten gespalten! Nur das pharisäische Judentum erschien mir mit seinen ebenso zahlreichen Gesetzesvorschriften als ein noch viel dichteres Netz. ,Das Gesetz gebiert die Sünde,‘ hatte schon Paulus gesagt. Je mehr Gesetze, desto mehr Gelegenheiten zur Sünde, also auch desto mehr Sünden.

Ach, ich möchte einmal zählen können die Sünden eines Jahres der vorchristlichen Welt und die Sünden eines Jahres der heutigen christlichen Welt! Wie ein Messer schnitt mir’s ins Herz, als mir wieder die Worte ankamen: ,Wir beten dich an, Herr Jesus Christ, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Weit erlöst.‘

‚Die Erlösung ist ein Geheimnis,‘ hieß es weiter.

‚Ja, das stimmt,‘ sagte ich meinem Freunde, ,man kriegt es kaum heraus, daß man erlöst ist!‘

,Sie ist eine geheimnisvolle Rettung der sonst unrettbar verlorenen Menschheit von einer geheimnisvollen Verschuldung durch eine geheimnisvolle, unser Denken übersteigende Wiedergutmachung.‘

Viel mehr wird von dem eigentlichen Wesen der Erlösung in der Erlösungslehre nicht gesagt. Den breitesten Raum nimmt darin die Lehre von dem Apparat der Erlösung ein: von der Per­son des Erlösers, von seiner Mittlerschaft, seiner stellvertretenden Genugtuung und seinen drei Ämtern, endlich von der Mutter des Erlösers. Die Funktion dieses Apparates wird aber ganz ins Jenseits verlegt. Dort werden wir endlich erlöst sein, wenn es uns nicht daneben geht. Ob auch die Erde etwas davon hat, ob sie von einem erlösten Volke bewohnt sein wird, ob die Macht der Sünde auf Erden gebrochen wird, ob die Erlösung irgendwelche statistisch oder wenigstens gefühlsmäßig feststellbare Folgen hat, das wurde nicht erörtert.

Sind die Hoffnungen erfüllt, die sich an das große, schöne Wort knüpften: ,Er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden?‘

O ihr Dogmatiker, zeigt mir das erlöste Volk! Ihr präsentiert euch zunächst selbst und sagen ,Wir sind überzeugt, daß wir erlöst sind.‘ Ich [10] will’s euch glauben, daß euch keine Schuld und Fehle mehr drückt. Ihr seid ja immer etwas Besonderes. Aber das Volk!

Ihr weiset hin auf die abertausend Heiligen, welche die Erde bewohnt haben und nun im Him­mel eine herrliche Volksgemeinschaft bilden. Aber Volk nennt man doch etwas, was auf Erden ist. ,Mein Volk‘ will ich erlöst sehen; wenigstens soweit es sich zum Volke Christi zu ,seinem Volke‘ rechnet! Könnet ihr eure Erlösungslehre nicht so verkünden, daß das katholi­sche Volk wirklich sich von der Sünde erlöst fühlt, daß es wirklich sieht, daß die Sünde über­wunden ist, daß es wirklich nicht mehr zu fürchten braucht, das es aufjubeln kann in der Erlö­sung?

Aber ihr schrecket ja selber das Volk mit der Hölle und sagt ihm, daß niemand vor ihr sicher sei. Ihr stellt unzählige Bedingungen auf, ehe ein Mensch teilhaftig wird der von euch gepre­digten Erlösung. Wer euch hört oder eure Bücher liest, beginnt bei dem einen Kapitel zu hof­fen, beim anderen muß er wieder zittern. Was ist das für eine Erlösung?

Seht doch einmal nach in den Schatzkammern unserer heiligen katholischen Kirche! Da ist gewiß noch manches vorhanden, was das Volk erfreuen kann. Da ist sicher eine wahre Erlö­sung. Manche von euch haben sich in der Tür verirrt und sind statt in die Schatzkammer vielmehr in die Folterkammer geraten. Und was ihr dort gefunden, das habt ihr den jungen Geistlichen als Erlösungsmittel mitgegeben. Es sind aber nur Zuchtmittel.

O bitte, macht die Gnadenkammern auf! Dort müssen noch die Lehren verborgen sein, die einst das urchristliche Volk so froh machten. Wie die Jungen sich freuen und aufjauchzen, wenn sie im Frühjahr das erste Bad nehmen, so freuten sich die Christen, die von ihrem Bischof an das Ufer des Flusses, an den Strand des Meeres zum Taufbad geführt wurden. Sie fühlten eine wunderbare Veränderung ihres ganzen Wesens. Die Christen aus den Heiden wußten sich nun frei von der Gewalt der Dämonen von denen sie bisher ihr ganzes Leben umdräut sahen; die Christen aus den Juden freuten sich der Freiheit von den abertausend Fesseln des alttestamentlichen Gesetzes, freuten sich einer wahrhaftigen, im ganzen Leben spürbaren Freiheit der Kinder Gottes. Das war eine Freude, das war Erlösung!

Und jetzt schreckt ihr uns mit Teufel und Hölle, und eure Brüder, die Moraltheologen und Kirchenrechtler, binden uns – alles im Namen Christi, der uns wahrhaft frei gemacht – mit unendlich vielen Geboten und Gesetzen, machen den Beichtstuhl, die Stätte der Liebe und der Erlösung, zu einem Orte, vor dem ihr euch – gesteht es nur! – selber fürchtet. Ihr habt mit allem recht, ich kann euch gar nicht widerlegen, aber sucht doch noch einmal nach: Ihr müßt noch etwas finden, was das Evangelium wieder zu einer Frohbotschaft macht! Was ihr sagt, ist alles wahr, aber es muß noch etwas sein, was es auch froh machen kann.

Gewiß, wir haben noch ein zahlreiches Volk, das euch die Worte nachspricht: ‚Wir sind erlöst,‘ – viele Frauen, nicht viele Männer, nicht viele [11] Männer in der Vollkraft des Lebens, in der Blüte ihrer Wissenschaft. Und dieses Volk bleibt seinen Lehren treu, auch wenn es schwer leidet unter Zweifel und Angst. Aber ihr sollt einmal sehen, wie herrlich und stark dieses Volk wird, wenn ihr es zu einem Volke der Erlösten machen könnet, zu einem Volke freier Kinder Gottes! Es wird dann, ungehemmt und unbelastet, seine Kräfte entwi­ckeln und eine Arbeit leisten für Erde und Himmel, eine Kultur entwickeln, wie ihr sie heute mit euren schönsten Worten nicht zu schildern vermögen Die katholische Erde wird es sein, die man vom Himmel nur durch die Zeit unterscheiden kann.

***

So ähnlich habe ich gedacht, als ich das Kolleg über die Erlösungslehre hörte und als ich dann als junger Priester vor das Volk hintrat und es liebte aus meinem ganzen Herzen, als ich die Gnaden- und Zuchtmittel der Kirche in ihrer Wirksamkeit aus unmittelbarer Nähe beobachten konnte, als mir die ganze Sündennot, Gewissensqual und Gesetzeslast des katholischen Vol­kes auf das eigene Herz gelegt wurden. Zwölftausend Mitglieder gehörten zu unserer Gemein­de; zweitausend davon beteiligten sich am kirchlichen Leben und nahmen die Erlösungsmittel an, die wir ihnen zu bieten hatten. Waren die anderen achttausend lauter böse Menschen? Ich lernte viele von ihnen kennen und fand keinen einzigen bösen Menschen darunter. Ich fragte sie, warum sie der Kirche entfremdet seien: Alle gaben der Kirche die Schuld; sie waren den Erlösungsmitteln entflohen, mit denen wir sie erlösen wollten. Eine verweigerte Lossprechung oder die Furcht vor der Verweigerung, disziplinäre Eingriffe in ihre Herzensangelegenheiten und ihre ehelichen Verhältnisse, Abneigung gegen das Klerikale an ihrer Priesterschaft – und so ging die traurige Litanei der Gründe weiter. Sie glaubten an Christus und wollten auch zur Gemeinschaft der Katholiken gehören, wollten aber der Kirche keine Gewalt mehr lassen in den Angelegenheiten, in denen sie meinten, selber urteilen und entscheiden zu müssen. Und wenn ich vom ewigen Heile ihrer Seele sprach, antworteten sie: ‚Gott wird uns nicht verlas­sen, wenn wir nicht anders können.‘ Sie waren alle tiefernst bei diesen Erörterungen. Sie waren fast alle tieftraurig darüber, daß die Verhältnisse so lagen. Ich auch. Erst wenn ich dann wieder unter den ,Treuen‘ arbeitete, vermochte ich jene Kirchenfremden ein wenig zu verges­sen. Aber nur immer bitt zur nächsten Kreuzwegandacht, wenn es hieß: ‚Wir beten dich an, Herr Jesus Christ, denn durch dein hl. Kreuz hast du die ganze Welt erlöst.‘

Aber auch bei der Arbeit unter den ,Treuen‘ zwang sich mir oft die Frage auf: ,Ist das Erlö­sung?‘ Diese Herzensangst, mit der die Leute beichteten! Diese Unsicherheit, ob sie ihren Vorsatz auch nur drei, vier Tage halten wurden! Und das Leben mit seiner Gewalt und seinen ungeschriebenen Gesetzen erwies sich doch immer stärker als alle Vorsätze. Nur wenn das Leben noch nicht so stark entwickelt war: bei Kindern und bei schwächlich veranlagten Personen, oder wenn es eingeschränkt war, wie [12] bei Kranken, oder wenn es von allein. seine Forderungen einstellte: bei den lieben, guten, alten Leuten, dann war etwas zu machen, ohne daß Heroismus geübt wurde. Auch einige von den gesunden, mannbaren Menschen unterwarfen sich den Forderungen der Religion, aber unter schwerem Ringen, so daß alle Wahrheit von dem Worte gewichen schien: ,Mein Joch ist süß und meine Bürde ist leicht.‘ Sie rangen nicht wie Erlöste, sondern wie solche, die sich selbst erlösen müssen. Hat Christus nur die Möglichkeit gebracht, daß sich Heroen erlösen können von der Sünde, oder ist er der Erlö­ser aller Menschen, auch der willensschwachen, schwer belasteten?

Es war damals eine Zeit, in der man außerordentlich viel auf Willenspflege gab. Denk wohl gepflegten und geübten Willen schrieb man Wunderdinge zu. Der Pädagoge Foerster schrieb Bücher über Willenspflege und Selbsterziehung, die von der katholischen Welt wie Evange­lien aufgenommen werden. Es war aber auch eine Lust, zu beobachten, wie diese Willenspfle­ge vorzüglich in den Schulen, aber auch im Beichtstuhl wirkte. Eine wirkliche Erlösung schien gekommen zu sein. Gleichen Schritt hielt aber das Wachstum der Selbstverant­wortlich­keit: ‚Wenn ich es kann, und ich habe es erfahren, daß mein Wille die Gewalt hat, es zu kön­nen, dann bin ich ganz, und gar verantwortlich.‘ Man machte sich und andere verantwortlich für alles, was geschah, und sprach nur in einigen wenigen Fällen von ,höherer Gewalt‘. Und doch brach der Wille nach einiger Zeit wieder zusammen vor Überanstrengung, vor Über­wachsamkeit! Da war das Elend desto größer, denn das unterdes angewöhnte Gefühl der Verantwortlichkeit blieb: der Verantwortlichkeit nicht nur für die Gesinnung, in der etwas geschehen war, sondern auch für das, was geschehen war. Vorbei war Hoffnung und Vertrau­en, es war ja letzten Endes nur Hoffnung und Vertrauen auf sich selbst gewesen.

Da studierte ich mit vielem Fleiß die Geschichte des Pelagianismus und Augustinismus, also jenes großen Streites um den Anteil Gottes und den Anteil der Menschen an den menschli­chen Handlungen und Geschehnissen, studierte die Bücher des hl. Augustin und kam zu der Überzeugung: Die Erlösung besteht darin, daß man guten Willen hat, nicht den heroisch starken Willen, sondern den einfachen, menschlich schlichten, aber auf Gott gerichteten guten Willen; alles andere tut die Gnade Gottes, die uns Christus als Gottes Sohn und unser Mit­mensch verdient hat; sogar den guten Willen gibt sie uns; und wenn bei gutem Willen eine Tat passiert, die sonst alle Kennzeichen der Sünde an sich hat, so stört diese Tat die Erlösung nicht, und wenn man es glaubt, kann sie auch den inneren Frieden nicht stören.

Ich nahm wieder die Bücher der Dogmatiker in die Hände und suchte, was eigentlich das Wesen der Tat sei, und fand – freilich an versteckter Stelle und ganz in Engdruck, daß eine menschliche Handlung, auch eine sündhafte, ihrem Wesen nach ein ganz geheimnisvolles Zusammenwirken Gottes und des Menschen, vor allem aber Gottes, sei, daß sie in ihrem eigentlichen [13] Sein nicht böse, sondern ganz neutral, ja als Produkt der mitwirkenden Tätigkeit Gottes sogar wirklich gut sei, daß sie nur sündhaft werde durch eine sündhafte Gesinnung des Menschen, daß also nur dann eine Sünde geschehe, wenn die Gesinnung nicht gut ist. Für alles andere übernimmt Gott die Verantwortung. Der Mensch braucht nur guten Willen zu haben, mag nun geschehen, was da wolle, mag es auch aussehen wie Sünde!

Hörst du den Gesang der Weihnachtsengel: ,Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Men­schen auf Erden, die eines guten Willens sind‘? Das war die Erfüllung des prophetischen Engelwortes: ,Er wird sein Volk erlösen Von seinen Sünden.‘

Aber wird dies nicht von allen katholischen Priestern verkündet? Warum wirkt es nicht wahr­haft erlösend auf alle katholischen Menschen? Ach, es ist, als ob man nicht genug ernst mache mit dieser Verkündigung! Sie wird verkündigt, aber es wird durch andere Verkündigung, hin­ter der sie stark zurücktritt, der Eindruck erweckt, als ob doch noch tausend andere Dinge notwendig wären, nicht nur der schlichte, einfache gute Wille, wenigstens daß dem guten Willen auch die Tat annähernd entsprechen müsse.

Ich schrieb diese Dinge nieder und gab sie meinen Freunden und Bekannten zu lesen. Nur denen, die sich nach Erlösung von der Sünde sehnten. Da hättet ihr sehen sollen, was da für ein Sturm entstand: der Freude und des heftigsten Widerspruches. ,Ich komme mir jetzt wie erlöst vor,‘ sagten dankbar die einen, die meisten! Das ist Lutheranismus, Quietismus, das ist eine Gefährdung unserer ganzen Pädagogik!‘ riefen die anderen, beruhigten sich aber, als ich ihnen die katholische Dogmatik aufschlug. Ich selbst war, indem ich nach dieser alten Erkenntnis zu leben versuchte, so glücklich, daß ich vor lauter Glück kaum glauben konnte, daß ich recht habe, und beschloß, demütig weiter zu fragen und zu beobachten und zu erleben.

Die sogenannten menschlichen Handlungen und Geschehnisse sind zum überwiegenden Teile Gotteswerk, auch jene, welche durch sündhafte Absicht des Menschen den Charakter der Sünde und des Verbrechens erlangen.

Nicht der Mensch allein, sondern Gott bestimmt, ob die Handlung geschehen soll; der Mensch bestimmt bloß den Charakter der Handlung. Mensch und Gott sind Konkurrenten bei der Hand­lung. Gott ist dabei der bestimmendere. Daher sprechen die Dogmatiker von dem ,Concursus divinus‘. Es dürfen also die Menschen nie bereuen, daß eine Handlung geschehen ist, sondern nur, daß. sie dabei nicht die rechte Gesinnung, den ,guten Willen‘ hatten. Und da die gläubigen Menschen meist guten Willen haben, wenn auch recht schwachen, ist es töricht und ein Zeichen mangelnden Glaubens, daß sie sich so ängstigen: Gott übernimmt alles Ge­schehen auf seine Verantwortung. Und wenn der Mensch dabei guten Willen, nur den einfa­chen, schlichten, aber ehrlichen guten Willen hatte, braucht er sich nicht verantwortlich zu fühlen, braucht er nicht zu bereuen und sich zu ängstigen.

Aber das wollen sich die Menschen nicht sagen lassen. Ihr Glaube ist zu gering und ihre Einbildung zu groß: Sie selber wollen die Bestimmer [14] und die verantwortlichen Leiter ihrer Geschehnisse sein. Darum hören sie zwar den Engelgesang vom Frieden und guten Willen, weil er einen melodiösen Klang hat, aber sie glauben nicht an seine Wahrheit und Wirklichkeit. Sie wollen sich plagen und schinden und quälen, weil sie Gott nicht den Anteil an den Geschehnissen zusprechen wollen, den er nun einmal hat, und weil sie sich mit dem eigenen Anteil, dem guten oder bösen Willen, nicht zufrieden geben wollen.

Sobald aber jemand unerschütterlich glaubt, daß bei gutem Willen nie eine wirkliche Sünde werden kann, dann ist er erlöst von seinen Sünden, denn mit der Gnade Gottes wird er immer guten Willen haben. Sein guter Wille muß so ehrlich gut sein, wie der böse Wille ehrlich böse ist. Dann braucht er seine Kraft nicht zu verschwenden an dem vergeblichen Kampfe gegen Geschehnisse, die nun einmal nach Gottes Ratschluß über ihn kommen, braucht sich nicht zu verzehren in fruchtloser Reue. Dann kann er froh und immer jung an den großen Aufgaben arbeiten, die ihm Gott auf dem Erdreiche und im Gottesreiche zugedacht hat.

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Da habe ich beobachtet und gehorcht, ob es solche Katholiken gebe. Es gibt solche, es gibt viele. Es gibt ein Volk der Erlösten auf dieser Erde. Und dieses Volk hat auch seine Priester, welche diese Erlösung des durch Christi Blut geheiligten und bei aller natürlichen Schwäche wunderbar gestärkten guten Willens verkündigen.

Ich ging durch einen frischen, sonnigen Herbstmorgen mit einem solchen Priester über das Gebirg. Es war Sonnabend vor dem 18. Sonntage nach Pfingsten, aber es war selber Sonntag. Eine Feierlichkeit ohnegleichen lag über den Höhen und dehnte sich bis ins tiefste Tal hinab; Feierlichkeit, aber frohe, lebendige, nicht starre. Jedes Blättlein an den herbstbunten Bäumen bewegte sich; jedes Gräslein neigte und wiegte sich. Und die Vögel flogen, sprangen, hüpften, von Baum zu Baum, von Ast zu Ast, von Ästlein zu Ästlein. Die Tiere des Waldes, die Käfer, die Mücken – überall eine harmlose, schuldlose Fröhlichkeit. Es war keine Sünde in der gan­zen Natur. Alles folgte glückselig dem Gesetz, der Natur, und das Glück des Herbstes war so groß wie das Glück des Frühlings.

,Du,‘ sagte ich dem priesterlichen Freunde, ,warum muß der Mensch allein von allen Ge­schöpfen in schmerzhaftem Zwiespalt mit seiner Natur leben und die Sünde durch eine Welt tragen, die von Sünde nichts weiß, – da doch Christi Blut allen Schaden gut gemacht?‘

,Sieh dort die Holzhauer,‘ antwortete der Priester, ,wie sie guter Dinge sind und arbeiten, als wäre es ein Spiel!‘

‚Meinst du, sie hätten keine Sünde?‘

‚Es sind gläubige Leute und sie haben guten Willen. Sie fluchen und wettern manchmal; seiner hat auch ein uneheliches Kind: Er konnte das Mädchen nicht heiraten, obwohl es für ihn wie bestimmt war. Einer ist [15] so rachsüchtig und jähzornig von Natur, daß er sich einmal nicht helfen konnte und seines Nachbars Haus anzündete.‘

Da läutete die Wandlungsglocke von einem Dorf im anderen Tal herüber. Die Holzhauer grif­fen nach ihren Mützen und blieben still dastehen. Auch wir unterbrachen das Gespräch. Es war ein Friede Gottes mit den Menschen.

Dann sprachen wir weiter. Ich weiß nicht mehr, was davon der eine und was der andere gesagt hat. Aber es war ungefähr folgendes:

,Manche denken, es müsse in der katholischen Kirche immer alles am Schnürchen gehen; es müsse eine Kirche von fertigen oder beinahe fertigen Heiligen sein. Aber die katholische Kir­che hat selbst ausdrücklich diese Kirchenidee verworfen. Es bildeten sich Kirchen, die sich selbst ,Kirche der Reinen‘ nannten und jeden Sünder ausstießen. Die große katholische Kirche hat diese falschen Kirchen gebannt. Sie selbst wollte eine Kirche der Christgläubigen sein, auch der sündigen Christgläubigen.

Der andere Priester sagte: ‚Wer die Sünder ausschließt, weiß nicht, was die Sünde für ein tiefes Geheimnis ist. Die beiden Holzhauer, von denen ich sprach, haben einen tieferen Glau­ben und eine süßere Liebe zu Jesus Christus als alle im Dorf, denen noch keine schwere­ren Sünden passiert sind.‘

Und auf einmal erhob er seine Stimme und rief: ‚Du, ich liebe die Sünder in meinem Dorfe tausendmal mehr als alle Gerechtem!‘

Dann sprachen wir von der leidenschaftlichen Liebe Jesu zu den Sündern. Und daß jemand gesagt haben soll: ‚Es führen viele Wege zu Gott, einer auch durch die Sünde, und das ist vielleicht gar der kürzeste.‘ Wie ist man kalt gegen Gott, wenn einem schon längere Zeit keine Sünde passiert ist! Man geht am Kreuze Christi vorüber, wie an einem historischen Denkmal. Pharisäerhaftigkeit breitet sich über die ganze Seele. Mein Gott! Ist nicht etwa gar die Sünde notwendig, um überhaupt Gottes göttlichste Eigenschaft zu erfahren, die Barmherzigkeit? Ah so! Da Christus die inkarnierte Barmherzigkeit Gottes war, so wurde er von den Gerechten nicht erkannt, sondern von den Sündern. Er ging an den Gerechten vorüber und suchte die Sünder. Der Gerechte küßte ihn nicht, aber das sündige Weib hörte nicht auf, seine Füße zu küssen und mit ihren Tränen zu waschen.

‚Da möchte man ja beinahe sagen: Es ist gut und notwendig, daß es Sünden gibt, und es wäre bedauerlich, wenn uns Christus so von der Sünde erlöst hätte, daß gar keine Sünde mehr mög­lich wäre.‘

‚Darum hat er uns auch nicht so erlöst. Er hat uns die Sünde gelassen, aber die Barmherzig­keit Gottes dazugestellt. Wer dem dürstenden Wanderer seine Fähigkeit zum Durste nehmen wür­de, der machte ihn ärmer an Freuden; das nahe Murmeln eines Waldquells würde ihn nicht mehr beglücken. Wer ihn beglücken will, muß ihm den Durst lassen und einen Krug kühlen Wassers vor ihn hinstellen.‘ So sprach der andere.

‚Du sagst ganz Wunderbares von der Sünde,‘ unterbrach ich ihn, ,und [16] ich verstehe, warum du die Sünder liebst. Aber die Sünde ist doch eine verwerfliche Sache; Gott kann sie nicht wollen. Er wollte das Gebot und kann nicht zugleich die Verletzung seines Gebotes wollen.‘

,Woher weißt du, daß er das Gebot wollte? Er wollte die Wahrheit, er wollte die Reinheit, wollte die Menschen, wollte ihre Liebe. Deshalb gab er das Gebot, damit ihm die Menschen durch den Gehorsam ihre Liebe beweisen könnten. Aber die Liebe der Menschen war zu schwach und bestand diese Probe nicht. Darum sandte er ihnen seine Barmherzigkeit. Da wurde die Liebe der Menschen groß, erfüllte nun auch die Gebote und ging noch weit darüber hinaus. Sieh, dies ist die Erlösung der Menschheit aus dem Zustand zu geringer Liebe in den Zustand großer Liebe. Wer die gekreuzigte Barmherzigkeit in Glauben und Vertrauen erfaßt, der hat die große Liebe, der empfängt den „guten Willen“, der ist erlöst.‘

Ich hatte noch viele Einwendungen, aber noch nicht in der Form geprägter Worte, sondern noch ganz formlos, mehr wie eine geheime Angst, wie einen unklaren Druck in der Seele. Aber wir waren unterdes im Pfarrdorf angekommen und der Sonnabend brachte dem heim­kehrenden Pfarrer eine ganze Reihe seelsorglicher Arbeiten, so daß wir nicht mehr viel mit­einander reden konnten.

Am Sonntag las ich die hl. Messe in der Pfarrkirche und ging dann in die Predigt des Pfarrers. Muß ja gestehen, daß ich über Nacht das Gespräch vom Sonnabendmorgen so ziemlich ver­gessen hatte. So ist es: Manchmal packen uns religiöse Probleme mit aller Gewalt, erregen uns, erschüttern uns, und es ist uns, als könnten wir keine Stunde mehr leben, ohne eine Antwort gefunden zu haben, keinen Tag mehr, ohne hinauszuziehen und der ganzen Welt die neue Erkenntnis zu predigen. Ach, drei Stunden später ist es wieder ganz still in uns; die Erde dreht sich weiter, die Kirche bleibt bestehen und sendet ihre unsichtbaren Segnungen aus.

Ich fühlte mich mit Gott so ziemlich im Frieden und saß in der Pfarrerbank, als ob es für mich weiter keine religiösen Probleme gebe, ja fast so, als ob ich sagen wollte: ,Ich danke dir, o Gott, daß ich – daß ich so bin, wie ich bin.‘

Da hob die Predigt an:

,Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. So lesen wir im Evangelium des hl. Matthäus, im 9. Kapitel, im 3. Vers.‘

Ich mußte unwillkürlich an den Pferdestall in Schlegel denken und an das geschändete Oster­lied: ,Getröst, getröst! Wir sind erlöst.‘ Wie damals, so hatte ich auch jetzt fast gar kein Be­dürfnis nach Trost. Denn ich hatte gut ausgeschlafen, und Pfarrers Schwester hatte mir nach der Messe einen famosen Kaffee vorgesetzt. Außerdem stand ich noch in den allerersten Tagen meiner Ferien. Deshalb wandte ich meine Augen zu den Leuten in den Kirchenbänken. Saßen dort nicht auch die drei Holzhauer aus dem Walde? Der Flucher, der Brandstifter und der Vater des unehelichen Kindes? Na, das ist doch ein starkes Stück, so mitten unter [17] den Leuten zu sitzen, die doch alle wissen, was vorgekommen! Aber die anderen Männer saßen ruhig neben den drei und machten Gesichter, aus denen man vorläufig gar nichts herauslesen konnte außer etwa, daß sie meinten: ‚Ich hab ja auch schon manches gezimmert, aber es ist nicht herausgekommen.‘

Den Vorspruch hörten die Leute noch nicht recht. Der kommt immer zu schnell. Da ist das Gehör noch nicht recht eingestellt. Das wußte auch der Pfarrer, und er las zur weiteren Ein­richtung der Gehörfunktion das Evangelium vom Gichtbrüchigen vor. Kühn dann das Buch, und damit die Leute wüßten, daß noch weiter nichts Wichtiges vorgekommen, sagte er: ,Dies sind die Worte des heutigen sonntäglichen Evangeliums.‘

Das konnte aber so nicht weiter gehen. Aufrecken müssen die Leute ihre starken Nacken und ihre dicken Köpfe! Wach müssen sie werden! Als ob im Wald der angesagte Baum mit sei­nem Wipfel zu tauschen, mit seinen Ästen zu knistern, mit seinem Stamme zu knacken begän­ne. Der Pfarrer sprach:

‚Meine lieben Christen: Es kommt manchmal einer von euch wochentags in die Kirche. Da sieht er sich überall um und blickt auch auf die Kanzel.‘

Die Köpfe begannen sich von unten nach oben zu bewegen. Hier und da schielte auch schon ein Auge nach oben.

‚… da kommen ihm plötzlich so Gedanken, und er denkt: Wie mag das sein, wenn man da oben sieht und auf die Leute hinuntersieht?‘

Nickte dort nicht der eine Holzhauer? Nur ein ganz klein wenig. Gott sei Dank, das war die erste Zustimmung zu der Predigt, und wenn die erst einmal da ist, da hat der Pfarrer gewon­nen.

‚Ich will’s euch sagen, wie das ist. Das ist manchmal so, als ob man auf einem hohen Berge stände und sähe die ganze Herde auf der Weide zusammengetrieben. Das ist ein schöner Anblick, denn man sieht die Geschöpfe Gottes, wie sie sind. Aber manche Prediger sind mit einem solchen Anblick nicht zufrieden.‘

,Oder es ist, als ob man in ein Theater käme; die Leute sind neugierig, was ihnen der Pfarrer heute vormachen wird. Das ist schon ein wenig besser.‘

‚Oder: Manchmal sind die Zuhörer so, als ob sie schon zum Jüngsten Gericht versammelt wären. Sie stehen ängstlich oder trotzig unterm Chor, sitzen etwas geduckt in den Bänken, machen Mienen, als ob es gleich regnen werde. Das ist in den Kirchen, in denen dem Volke oft seine Sünden vorgehalten und Tod, Gericht, Fegefeuer und Hölle angedroht werden.‘

,In all diesen Fällen hört man ordentlich, wie die Leute in ihrem Herzen denken: Wenn’s doch bald vorüber wäre!‘

Jetzt senkten sich die Augenlider wieder. Aber die Zustimmung war allgemein.

,Was sollt ihr nun für Gesichter bei der Predigt machen? Ich will’s [18] euch sagen; denn das muß man doch wenigstens wissen, was man für ein Gesicht machen muß. Und wenn erst ein­mal das Gesicht in Ordnung ist, dann fängt auch die Seele an, ordentlich zu werden.‘

Man sah es den Gesichtern wirklich an, wie sie sich mühten, ordentlich auszusehen. Aber sie waren noch unsicher.

,Also wie sollt ihr bei der Predigt sein? – Nicht so, als ob ihr wie eine Herde Vieh hier zusam­mengetrieben wäret. Nicht so, als ob ihr bloß ein Theater erleben wolltet. Auch nicht so, als ob es bald über euch regnen würde, sondern so, als ob ihr – – wirklich eine ganz frohe Bot­schaft, eine ganz freudige Nachricht hören solltet!‘

‚So wie Maria aussah in jener Stunde, von der es heiße: Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Hl. Geiste. So wie die Hirten, als der Engel zu ihnen sprach: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch eine große Freude. So wie die glück­lichen Menschen, welche die Bergpredigt anhörten: Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich; selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen; selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.‘

,Ganz so ist es nämlich heute: Eine wirklich gute Nachricht habe ich euch zu bringen.‘

,Horchet!‘

,Als der Heiland ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: Sei getrost, mein Sohn! Deine Sünden sind dir vergeben!‘

,Aber nein, ihr freut euch ja noch nicht! Ihr denket, das geht euch nicht recht genug an. Der Gichtbrüchige konnte sich ja freuen, aber was habt ihr davon?‘

,Habt ihr nichts davon? Der Gichtbrüchige war krank und wurde gesund. Er konnte sich freu­en. Aber ihr – habt ja diesen Kummer gar nicht. Ihr seid ja alle gesund und kräftig, – ein we­nig müde von der harten Woche, aber doch gesund.‘

,So, so? Trägt nicht jeder von euch sein Päcklein? Ich sehe es ja guten Schultern an! Der eine hat ein Krankes daheim, den andere hat Ärger mit seinem Nachbarn, der Dritte kommt in diesem dürren Herbst mit seinem Gras nicht aus, den Vierten drücken die Schulden; oder viel schlimmer ist es, wenn daheim kein Friede und keine rechte Liede ist, wenn daheim so ein Teufel sitzt und keine Ruhe läßt, oder aber am schlimmsten, wenn einer keinen rechten Frie­den mit seinem Herrgott hat, wenn die Sünde in seinem Herzen ist.‘

,Ich weiß ja, wie ihr oft im stillen saget: Wenn es doch keine Sünde auf der Erde gäbe! Wenn doch nichts, was man tut, Sünde wäre! Wenn ich doch sündigen dürfte ohne Sünde! Ihr sagt so, und ich habe früher oft gedacht: Wer so sagt, der muß ja in die Hölle kommen. Jetzt weiß ich besser, warum ihr so saget; darum, weil der Gedanke an die Sünde euch so schwer drückt, als sei es eine schwere Krankheit.‘ [19]

‚Manche Katholischen machen sich ja nicht soviel daraus. Sie sündigen unbekümmert, so daß man von ihnen das Wort der Schrift sagen kann: Sie trinken die Sünde hinunter wie Wasser. Aber je gewissenhafter und frömmer ein Katholik ist, desto größer wird die Angst und Pein und Plage wegen der Sünde, so daß mir einmal ein Mann sagte: Nein, fromm werden will ich nahe, denn da hat man ja keine Ruhe mehr im Innern; bei jedem Schritt, bei jeder Handbewe­gung, bei jedem Mundaufmachen muß man gleich denken, daß es Sünde sein könnte.‘

,So ähnlich geht es vielen von euch: Viele von euch sind krank an der Sünde. Voll Angst den­ken sie daran, daß sie plötzlich sterben könnten. Voll Schrecken hören: sie die Worte: Beicht, Gericht, ewige Strafe, ewige Höllenpein.‘

,Und die christliche Hoffnung liegt ganz krank in eurer Seele.‘

– – ,Wenn da einer käme und sagte: ‚Für dich gibt es keine Sünde mehr; ich bringe dir ein Mittel: Du kannst fortan tun, was du willst; du wirst es immer nach dem Wohlgefallen Gottes tun!‘

… Die Gefährlichkeit dieser Fragestellung schreckte mich aus meiner frommen Nachfrüh­stücksbehaglichkeit auf; Was ist das für eine kühne Sprache! Aber nein, es ist nur eine ver­gessene Sprache christlicher Tiefgläubigkeit. Hat nicht der heilige Augustinus in dieser Sprache geredet? Das Wort klang mir in der Seele: Ama, et fac quod vis. Habe nur die Liebe, dann kannst du tun, was immer du willst! Wird der Pfarrer auf diese Lösung zusteuern? Er wiederholte zwei-, dreimal: ‚Wenn da keiner käme und reichte uns eine Medizin und spräche: Nimm sie ein, dann kannst du nicht mehr sündigen!‘ …

,Da würden wir voll Dankbarkeit aus die Knie fallen. Aufjubeln würden wir in der neuen Freiheit. Tausendmal mehr würden wir Gott lieben, als wir ihn je geliebt haben. Vor lauter Glück würden wir gar keine Sünde mehr tun.‘

,Christen, das ist die frohe Nachricht, die ich euch bringe. Christus selbst schickt mich. Ich soll euch sagen: Wenn ihr glaubt, könnet ihr nicht mehr sündigen. Wer glaubt, der hat das ewige Leben.‘

Da wurde alles still in der Kirche. Selbst die Stille wurde stiller. Und es schlich ein Dämon durch die Kirche und sprach ganz stille zu den Menschen:

‚Das ist nicht wahr. Ihr seid gelehrt worden, daß auch die Getauften und Glaubenden leicht in schwere Sünde fallen und die ewige Seligkeit verlieren können.‘

Und zum Lehrer sprach der Dämon: ,Der Pfarrer ist ein Ketzer, lehrt wie Luther!‘

Auch ich mußte an Luther denken. Hat dieser nicht vom Glauben gesagt, daß er alle Sünde überwindet? Hat er nicht einem Freunde geschrieben: Pecca fortiter, sed crede fortius! Sün­dige tapfer, aber glaube noch tapferer!? Aber das erschien mir jetzt wie eine, allerdings sehr poltrige [20] und übermütige Nachbildung jenes tiefgläubigen urchristlichen Wortes: Ama, et fac quod vis. Es blieben mir noch Bedenken, ob der Pfarrer gut daran tue, solche Dinge dem theologisch schwerfälligen Volke zu sagen. Aber wir haben ja keine Geheimlehre. Und wehe dem, der dem Volke den tiefsten Trost des Glaubens aus pädagogischen Rücksichten ver­hehlt!

Und es reckte sich überall in der Kirche: ,Wenn doch einer fragen könnte!‘

Der Pfarrer sah den Dämon. Der Dämon frag in seine Seele hinein: ,Ist denn das wirklich wahr?‘

Da hob der Pfarrer seinen Ellbogen, zog die Faust wie einen Hammer an seine linke Wange und schrie: ‚Keine Frage! Christus, der untrügliche Lehrer der Wahrheit, hat es gesagt: Wer glaubt, der hat das ewige Leben – nicht nur eine unsichere Möglichkeit, nicht nur einen An­spruch mit vielen Bedingungen – nein, wer glaubt, der hat das ewige Leben! Wer glaubt, der wird nicht gerichtet!‘

‚O daß man sich wehren muß gegen Christgläubige, wenn man die Worte Christi verkündigt, wie sie sind! Wenn man nicht deuteln will!‘

Der Dämon floh. Demütige Augen begannen zu fragen: ,Wie ist es denn? Wir glauben doch von Herzen, und doch passieren uns alle Tage Sünden!‘

,Ja, es passieren euch Sünden, aber das sind keine Sünden, das ist Gottes heiliger Wille. Wie könnte es Sünde sein, was du mit gläubigem Herzen guten Willens tust? O siehe! Gichtbrü­chig warst du. Da kommt Christus zu dir und spricht: Sei getrost, mein Sohn – nein, ich muß es besser übersetzen: Sei vertrauend, sei glaubend, mein Sohn! Deine Sünden sind dir verge­ben!‘

,Aber doch! Es ist möglich, daß du den Glauben verlierst. Da hebst du deine Hand gegen Gott, da sprichst du das meineidige Wort, da tust du die schlimme Tat, da ist Sünde. O weh! Wenn du da stirbst, da gilt das Wort der Schrift: Wie der Baum fällt, so bleibt er liegen. Und er ist nach der Hölle zu gefallen.‘

‚Kann das sein? Kann das Gott dulden, da Jesu Blut für deine Seele geflossen ist? Es kann sein, muß ich mit meinem Verstande sagen. Es kann nicht sein, muß ich mit allem sagen, was ich von Gott weiß, mit meiner Hoffnung und meiner Liebe. O sehet, wenn ein solcher nur einmal noch das Auge zu Gott erhebt, wenn er im Schreck des Todes nur das eine Wort sagt: „Herr, sei mir armen Sünder gnädig!“ da freuen sich die Engel, da spricht Christus: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“‘

Da kam der Dämon wieder und flüsterte den Leuten in die Seele: Da brauchtet ihr ja gar nicht mehr zu beichten. Er will das Beichten abschaffen. Er ist zu faul zum Beichthören.‘

Und zum Lehrer sprach er: »Den müßten wir bei der bischöflichen Behörde anzeigen.‘ [21]

,Was?‘ rief erzürnt der Pfarrer, ,ihr denkt, dann wäre das Beichten nicht mehr nötig? Hat nicht Christus, als er die Aussätzigen geheilt hatte, zu ihnen gesprochen: „Zeiget euch den Prie­stern“? Sehet, durch eure Sünde habt ihr nicht nur die Liebe Gottes verletzt, sondern auch die Gemeinschaft mit den Christgläubigen gestört. Darum müsset ihr durch die Beicht vor allem Volke zeigen, daß ihr reumütig seid und Frieden haben wollt mit Gott und seiner heiligen Kir­che. Die Beicht gehört zur Versöhnung wie der Friedensschluß zum Frieden. Und bedeutet es doch recht: Wer einmal richtig glaubt, so daß der Glaube wie ein himmlisches Feuer in ihm brennt, dem entzündet sieh auch die Liebe, dem kommt alles auf einmal, auch die willige Be­reitschaft und der Wunsch und der Vorsatz, das Sakrament der Buße zu empfangen.‘

Ich hatte am liebsten auf die Kanzel hinaufgefragt: Warum sprichst du nicht gleich, wie ande­re Priester, von der ,vollkommenen Liebesreue mit dem Vorsatz zu beichten‘? Aber ich wußte schon die Antwort: Weil Christus nur vom Glauben gesprochen hat und weil das Volk vor den schweren theologischen Ausdeutungen zurückschreckt!

,Aha!‘ flüsterte der Dämon, ,da tut der Glaube doch nicht alles; man muß also glauben und beichten, und noch tausenderlei. Jetzt flickt er wieder mein zerrissenes Netz!‘

Der Pfarrer beachtete den Dämon nicht mehr. Er sah, wie die drei Holzhauer mit großen, vertrauenden Augen auf ihn blickten, und sprach nunmehr wie zu ihnen ganz allein:

,Glaubt nur! Sorget nur für den Glauben! Denkt gar nicht an die Beicht, wenn ihr davor Angst habt! Denkt nur an den Glauben! Der Glaube wird euch richtig führen. Seht, da ist mancher, der sich sträubt, dem Priester seine Sünden zu sagen. Da kommt der Glaube, drängt ihn ein wenig im Herzen, nimmt ihn leise bei der Hand und – hast du nicht gesehen? – kniet er auch schon am Beichtstuhlgitter, und nach einer Viertelstunde ist alles Schwere vorbei.‘

Die drei Holzhauer nickten mit dem Kopfe. Sie konnten nicht anders, erschraken aber wie in einem Traum und sahen sich um, ob es jemand merkt habe.

Der Dämon aber tröstete sich: ,Zwischen Glauben und Beichten geht es doch nicht so schnell. Da habe ich Zeit zum Fange.‘

Der Pfarrer hatte sich schon um einen schönen Übergang zum ,Amen‘ umgesehen, da stieg ein wenig von dem Brodem der letzten Hoffnungen des Dämonen in seine Nase. Gleich machte er halt auf seinem schnellen Laufe zum Amen und rief über die ganze Kirche:

,Ja! Viele Katholiken, die meisten Katholiken denken, daß sie erst bis zur nächsten Beicht warten müssen, ehe sie von der Sünde frei werden könnten. Das ist ein schwerer Irrtum! Das ist schlimmer als alle Ketzerei! Das ist eine Lästerung des Glaubens und eine Verleugnung seiner Kraft. Der Teufel sagt das, damit ihr in Verzweiflung geartet und nach der ersten Sünde auch die zweite nicht mehr scheut. Was habe ich euch gesagt? [22] Sobald ein armer Sünder wieder seinen Blick zum Erlöser erhebt, dann ist die Sünde weg, meilenweit weg, so weit wie der Schnee von den Feldern im August, so weit wie die Hölle vom Herrgott, ewig weit …‘

Nun wollte er rasch sagen: ,Amen.‘ Da traf sein Blick das Bild der Muttergottes. Heute ist Mariä Namen, kam ihm bei. Eigentlich hatte er davon predigen wollen. Den schönsten Namen Mariens hatte er erklären wollen: ,Immaculata‘. Rasch band er sein Schifflein vom Pfahl des Amens noch einmal los und steuerte mit geschicktem Ruderschlag auf Maria zu. Der Dämon aber verschwand geschwind, denn er bekommt immer noch Kopfschmerzen, wenn er auch nur die Ferse Mariens merkt.

,Seht dort Maria, die Mutter aller Gläubigen! Da hat ja jemand einen Blumenkranz um ihr Bild geschlungen. Das ist recht am Namenstag Mariens. O Maria, o Immaculata! Unbe­fleck­te! Meine ganze Predigt lege ich dir zu Füßen. Von dir lehrt die hl. Kirche, daß du durch ein besonderes Privileg allzeit von Sünde rein geblieben bist. Immaculta! Jetzt erkenne ich, daß auch wir ein ähnliches Privileg haben. Unser Glaube an deinen Sohn ist es. Er macht uns rein und heilig, wie du es bist. Jetzt finde ich das rechte Wort zum Schluß: Wie du, Maria, wollen wie glaubet; wie du, Maria, wollen wir rein sein von Sünde; wie du, Maria, wollen wir jubeln, daß die Erlösung wahrhaftig gekommen ist: Magnifikat! Hoch preise meine Seele den Herrn, und mein Geist frohlocke in Gott, meiner Erlösung, denn er hat Großes getan, der Herr, der da mächtig ist und dessen Name heilig! Amen.‘

***

Als ich einige Wochen später nach Breslau zurückkam, ging ich in die Bibliothek dorthin zu den Schränken, in denen die Werke der Kirchenväter stehen. Ich wollte meinen Glauben an die Erlösung befestigen. Da sah ich wieder, wie stark der Glaube des Urchristentums an die Erlösung gewesen ist. Immer wieder schimmert er sternhell, leuchtet er sonnenhell aus den uralten Zeiten. Manch einem bat er geradezu die Augen geblendet, so daß sie gar nicht mehr das ewig dunkle Reich der Hölle sahen, daß sie in übergroßen Hoffnung glaubten, es werde einmal eine Zeit kommen, in der alle Kreaturen zu ihrem Schöpfer zurückkehren. Selbst Luzifer werde erlöst werden. Das war Origenes, das waren viele seiner Schüler. Selbst der gute hl. Bischof Gregor von Nyssa hatte den Glauben an die Apokatastasis, d. h. an die Wie­derherstellung aller sündigen Kreatur in Gottes ewiger Liebe. Diesen Überschwang der Hoff­nung mußte die Kirche freilich verwerfen. Dass Wort Jesu Christi vom Feuer, das nie erlischt, leitete sie dabei. Aber unbezweifelt blieb in der großen Gemeinschaft der Christenheit der Glaube, daß die Taufe alle zum ewigen Leben führe, die der Gemeinschaft der Getauften treu bleiben. Große Kirchenlehrer wie Ambrosius und Hieronymus verkündeten ganz ausschließ­lich ihre Hoffnung, daß die ewige Hölle nur den Ungetauften vorbehalten sei, daß dagegen die treuen Christen bald nach dem Tode in das Warteland ins Paradieses eingehen, daß aber [23] auch die in Sünden gestorbenen Christen, die zunächst mit den Ungläubigen die Feuerbuße erleiden, doch am Tage des Jüngsten Gerichtes das Begnadigungsdekret erlangen und in den Himmel eingehen dürfen. O saget nicht, das sei unkatholische Lehre, saget lieber: Wie wun­derbar groß war diese Hoffnung auf die Kraft der Taufe und auf die Größe der Barmherzigkeit des unendlich Barmherzigen! Hieronymus und wohl auch Ambrosius wollten nicht Entschei­dungen treffen, die dem ewigen Ratschluß Gottes überlassen bleiben müssen. Sie wollten nur hoffen. Und Hieronymus sagt ausdrücklich, man müsse es Gott überlassen, welcher wisse, wen, wie und wie lange er richten müsse. In den folgenden Jahrhunderten trat aber der Gedan­ke an Gericht und Hölle ganz stark in das Glaubensbewußtsein der Gläubigen, so stark, daß der Glaube an die bis ins Jenseits reichende Kraft der hl. Taufe oft darunter litt. Da begann die große Angst und Qual der katholischen Menschen. Viele wurden krank dabei, manche warfen den ganzen Glauben von sich. Und allbekannt ist ja, daß sogar die Glaubensspaltung in unse­rem Vaterlande in einer solchen angstvollen Stunde geboren ward. Und dort hatte sich der Glaube erhalten, daß es ein Mittel geben müsse, mit einer gewissen Sicherheit der Hölle zu entrinnen. Es verbreitete sieh die Meinung, daß, wer das Skapulier trüge, vor der Hölle be­schützt bliebe. Und diese Meinung hat sich in frommen Kreisen bis heute erhalten und wird pietätvoll geschützt. Damit ist dem denkenden Katholiken der Schluß nahegelegt, daß das, was man von dem Sakramentale erhoffen darf, doch viel sicherer von dem Sakrament erhofft werden muß, von dem großen Sakrament der Taufe. Siehst du Christi Wort von neuem auf­leuchten: ‚Wer glaubt und sich taufen läßt, der hat das ewige Leben?‘

Wer der Überzeugung ist, daß der quälende Kampf mit der Sünde die Kräfte der Katholiken zu stark bindet und nicht frei genug läßt zu freudiger, positiver Arbeit an den Aufgaben der irdischen Kultur und des Gottesreiches, der wird auch mit ernstem Denken lesen, daß manche Mystiker an einen Zustand glaubten, in dem sie nicht mehr sündigen konnten. Mit ritterlicher Kühnheit schritten sie über das Grenzgebiet des Gottesreiches mit seinen vielen Gefahren und Möglichkeiten der Grenzverletzung hinweg in das Gebiet der größeren Liebe und wurden durch diese Kühnheit fern von der Sünde. Wie elend ist dagegen unser Beginnen, daß wir alle Sünde bekämpfen und dann erst mit der Vertiefung der Gotteserkenntnis und der Erhöhung und Verinnerlichung unserer Liebe beginnen wollen! Jener Mystikerglauben ist gewiß falsch formuliert, aber die Methode, die sich darin offenbart, scheint der Prüfung wert zu sein.

Manche Katholiken kommen ihr ganzes Leben nicht aus jener Peripherie des religiösen Le­bens heraus, kommen nie näher an die Mitte des Landes, wo der Glaube erst schön und süß ist und zu männlicher Freiheit und Kraft gedeiht. Wie gebannt sind sie an den Grenzen, wo die Lohen des unheiligen Feuers noch den ewigen Lichtschein des heiligen Feuers verdunkeln. [24] Das hängt vielleicht damit zusammen, daß die meisten Seelenführer gewissermaßen Spe­zialisten sind aus jenem peripherischen Gebiete, und daß sie die Führung in das Land der tieferen Gotteserkenntnis, der freudigeren Erhebung, der wahren Liebesvereinigung mit Gott anderen überlassen, anderen, die so selten sind; – daß sie es nicht wagen, den Sünder mit einem kühnen Sprunge hinüberzureißen …

Ein Pfarrer hat es gewagt. Es ist ja eine geradezu lächerlich einfache Geschichte, aber unsere Dummheit besteht doch meistens darin, daß wir das Lächerlich-Einfache nicht verstehen, sondern uns mit Höherem befassen. Der Pfarrer hatte einen Schuhmacher in der Gemeinde, den er ganz vergeblich von seinen Sünden und Unarten zu bekehren versuchte. Da kam ihm eine Erleuchtung. Als der alte, fromme Kirchvater die Altarstufen hinabfiel und sieh seine beiden Arme auf einmal für sein ganzes Leben brach, machte er den Schuhmacher zum Kirchvater.

‚Herr Pfarrer, da pass’ ich nicht dazu!‘

‚Warum nicht?‘

‚Weil ich denke: ein richtiger Schuster kommt ohne Sünden nicht aus, und ein Kirchvater darf doch keine haben. Und ich bin eben schon ein alter, schiefgetretener Stiefel.‘

‚Aber Meister! Sie sagen doch zu jedem schiefgetretener Stiefel: Verfluchtes Luder, dich krieg’ ich schon!‘

Der Schuhmacher ließ sich bereden, übernahm den Dienst in Sakristei und Kirche – und wur­de ein ganz gottseliger Mann. Ich fragte ihn einmal, wie er sich das Fluchen, Lügen und Lä­stern abgewöhnt habe. Da meinte er: ‚Man braucht bloß einmal ein bissel in die Liebe Gottes hineingeschmissen zu werden, da brennt’s dann von allein.‘ Und wenn ihn die Leute neckten, so antwortete er: ‚Ich wollte immer ein alter, ehrlicher Sünder bleiben. Aber ich habe Pech gehabt, da bin ich an Gott kleben geblieben.‘ Und ob er denn immer so standhaft wäre, und ob es ihn denn nicht manchmal einen kleinen Kampf koste? ‚Ach, ich hätte ja gern wieder mal mein früheres Luderleben geführt, aber nun habe ich mein altes Leder an Gottes Stiefel ge­flickt, und wenn ich einmal was zusammennähe, da muß die Nacht auch halten.‘

Nun kann man freilich nicht jeden Sünder zum Kirchvater machen, aber man kann ihm, wenn er einige Jahre redlich gekämpft hat, vertrauen und ihm sagen: ‚Jetzt laß das ängstliche Sorgen um die Sünde! Jetzt trete aus den Lehrlingsjahren des religiösen Lebens in die Gesellenjahre über! Hilf mir am Reiche Gottes arbeiten, so fleißig und eifrig, daß die Sünden von allein verschwinden. Sieh, einmal mußt du auch Meister werden!‘

Könnte doch im religiösen Leben eine Karriere mit bestimmtem Avancement eingerichtet werden! Das christliche Altertum hatte etwas Ähnliches: die Stufen des Katechumenats, die Büßerklassen. Auch die Mystiker haben immer wieder versucht, eine Stufenreihe aufzustellen. Da lockte es die Menschen von einer Stufe zur anderen: Größen Rechte, größere Erkenntnisse, größeres Vertrauen! Auch heute ist noch ein solcher Aufbau im [25] katholischen Klerus: Tonsur, vier niedere Weihen, drei höhere Weihen. Aber auch hier ist die lockende, erfreuende Kraft des Aufstiegs in den Charismen beinahe vernichtet: Tonsur und niedere Weiher: werden an einem einzigen Vormittag gespendet. Erst gar bei den Laien! Der Schulbub genießt diesel­ben Charismen wie der katholische Bürgermeister. Es ist ganz leicht zu verstehen, warum in katholischen Laienkreisen so wenig kirchliche und religiöse Freudigkeit herrscht. Wo soll das Streben herkommen? Es gibt freilich innerliche Fortschritte, stufenmäßige Einweihungen in die Geheimnisse Gottes: Vom kleinen Katechismus zum großen, dann zum Gymnasiallehr­buch, dann zum Kompendium der katholischen Dogmatik, dann zur Summa theologica. Aber schon am großen Katechismus hat man keinen rechten Geschmack mehr, weil das Schönste und Wichtigste schon im kleinen Katechismus stand. Es gibt Fortschritt auch auf dem Wege von der Sünde bis zur sittlichen Bewährung. Aber die Laien glauben, immer wieder Anfänger­arbeit leisten zu müssen, und werden selten zum Glauben an sittliche Mannesreife und Mei­sterschaft ermutigt. ‚Mein Beichten war bis jetzt Tantalusarbeit und wird es wohl bleiben, bis die Sterbestunde kommt,‘ so lautet das Urteil eines katholischen Laien. Und ein anderer sagte: ‚Wir haben im Himmel die neun Chöre der seligen Geister, wir haben im Klerus die Hierar­chie – und sind stolz darauf, weil wir die in der Stufenordnung ruhende Kraft kennen –, aber wir Laien sind ein ungeordneter Haufe, darum haben wir so wenig Kraft nach innen, nach außen und nach oben. Glaube nur einer, daß er nunmehr endlich Meister ist, dann wird er sich ohne weiteres meisterlicher betragen.‘

Auch das gehört zur Erlösung. Denn da die Erlösung eben nun kein magischer, sondern ein sittlicher Prozeß ist, muß sie stufenweise geschehen. Wir brauchen Lehrlingsstand, Gesellen­stand, Meisterstand, brauchen Knechtsarbeit, Knappenschaft und Ritterschaft. Alle diese Ordnungen und Kräfte liegen, wenn auch noch keimhaft, im katholischen Wesen. Grabt nur nach in dem reichen Mutterboden der katholischen Kirche! Scheltet nicht andere, wenn die Entwicklung noch nicht weiter ist, wenn sie unterbrochen scheint, denn ihr selber seid ja die Kirche. Entwickelt euch! Ordnet euch zu einem Volke der Erlösten!

Ein Erlebnis des seligen Heinrich Seuse muß Erlebnis jedes reifgewordenen katholischen Mannes werden, sobald eine gehörige Zeit ernster Arbeit, rastlosen Ringens durchschritten ist. Heinrich Seuse hatte mit allen Mitteln um den geistigen Aufstieg seiner Seele, also um die Erlösung, gekämpft. Das 17. Kapitel seines ‚Lebens‘ von ihm selbst geschrieben‘, zählt den ganzen Jammer auf, den sich dieser Mensch angetan hatte um der Erlösung seiner Seele will­len. So sehr hatte er sich gekreuzigt, daß man glauben mischte, die Kreuzigung Christi sei damals nur als Vorbild, nicht als eine wahrhaft stellvertretende Genugtuung aufgefaßt worden. Da ihm, wie er erzählt, diese Kasteiungen ans Leben gingen, sprach sie ihm der Herr ab. Des war seine vermühete Natur so froh, daß er weinte vor Freude, so er hinterher überdachte, was er härtiglich erlitten hatte. Nach kurzen [26] Wochen aber kam ihm ein Bibelwort ein, das ihn beinahe wieder in diesen zerfleischenden Krieg gegen seinen Leib getrieben hätte: ,Ein Kriegsdienst ist des Menschen Leben auf Erden.‘ Da deuchte ihm, wie ein holder Jüngling auf ihn zukam und zwei schöne Ritterschuhe ihm brachte und all die anderen Kleider, welche Rit­ter zu tragen pflegten, und wie er ihm diese Kleider anlegte und sagte: ,Knecht bist du bisher gewesen. Ritter sollst du jetzt sein!‘ ,Waffen!‘ rief da der erstaunte Seuse aus, ,Waffen, o Gott, was ist aus mir geworden! Wie? Ritterschaft ohne Streit?‘ Er solle genug Streit und Ritterar­beit bekommen, bedeutete ihm die Erscheinung.

Das war ein vollständiger Wechsel in Heinrich Seuses Leben. Er hatte sich bisher in sein Klo­ster eingeschlossen oder war vorn Klosterhof kaum fünf Schuh weit gegangen. Jetzt beginnt die Zeit, da er nach außen tätig ist. Er wird wie ein Mann der Welt so frei, tritt predigend vor das Volk, macht weite Reisen im Dienste des Gottesreiches, knüpft Verbindungen an mit aller Welt. Seiner Sünden gedenkt er nicht mehr, denn er hat anderes zu tun. Die Strenge der Asze­se hört auf, dafür aber beginnt die vollkommene ,Gelassenheit‘, diese Mannesreife im religiö­sen Leben, diese wunderbare innere Ruhe, die Erfüllung des vom Weihnachtsengel verkünde­ten Friedens der Menschen auf Erden: ,Also daß ein Mensch stehe in solcher Entwordenheit, wie immer sich Gott gegen ihn erzeige, mit sich selbst oder mir seinen Kreaturen in Liebe und Leid, daß er sich des befleiße, daß er allzeit gleichstehe in einem Aufgeben des Seinen, inwie­fern es menschliche Schwachheit erzeugen mag, und alle in Gottes Lob und Ehre ansehe.‘

Wir haben in der gewaltigen Literatur der Christenheit nur wenige so deutliche Beweise dafür, daß den Getauften schon auf Erden eine wahre Erlösung werde. St. Cyprian, St. Augustin! Die meisten anderen Männer haben dieses Geheimnis mit ins Grab genommen. Was sich sonst in Selbstbiographien besonders von Konvertiten befindet, macht nicht selten zu sehr den Ein­druck von Gefühlseligkeit. Aber was wir haben, das genügt. Jeder erwarte das Jahr der religiö­sen Reise und Ritterschaft. Jeder Priester achte darauf, das: die Schulbubenzeit des katholi­schen Laien einmal ein Ende haben müsse; er anerkenne ausdrücklich ihre Mannesreife, so­bald sie gekommen ist, sporne sie an, nun des Ritterschlags und der Meisterschaft würdig zu sein! Sie müssen als Familienväter, als Beamte, als Politiker, als Arbeitgeber, als Handwerker, als Arbeiter, in jeglicher Stellung gewaltige Aufgaben für das Gottesreich auf Erden, für die katholische Kultur erfüllen, zu denen der Priester nicht berufen ist, zu denen sie aber auch mündig sein müssen. Ein großes Volk der Erlösten muß sein auf dieser Erde, so frei und stolz und schön und rein, daß niemand mehr bleiben will außerhalb dieses Volkes. Die ganze Welt muß es sein. Denn nicht zum Spott soll sein das Wort: ‚Wir beten dich an, Herr Jesus Christ, und benedeien dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst!‘

Quelle: Hochland, 19. Jahrgang, Heft 7 (April 1922), S. 1-26.

Hier der vollständige Text Joseph Wittig, Die Erlösten als pdf.

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