
Reinhold Schneider Plädoyee gegen die Selbsttötung zeigt zugleich sein beeindruckendes Einfühlungsvermögen in deren Motive. Kein Wunder, hatte sich der 19jährige Schneider 1922 in der Nachfolge seines Vaters an einer eigenen Selbsttötung versucht:
Über den Selbstmord (1947)
Von Reinhold Schneider
Dulden muß der Mensch
Sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft:
Reif sein ist alles.
Shakespeare, König Lear V,2
Der Selbstmord scheint eine Handlung letzter persönlicher Freiheit zu sein, die dem Menschen nicht genommen werden kann. Er verfügt über sein Leben; er gibt, wie ein Jüngling in einem Romane Dostojewskijs einmal sagt, »seine Eintrittskarte zurück«. Aber schon die Wendung von der Eintrittskarte läßt uns stocken. Hat sie der Mensch denn bezahlt? Und von wem hat er sie empfangen? Ist das Leben eine Veranstaltung, die zu unserem Vergnügen unternommen wurde und die wir verlassen können, wenn es uns beliebt? Und wer hat sie getroffen? Und auf welche Weise wurden wir eingeladen, unter welcher Verpflichtung? Sind wir so ganz ohne Beziehung zu den Teilnehmern, daß wir sie verlassen können, wenn das Spiel uns langweilt oder wir es nicht mehr ertragen?
Alle Fragen des Daseins werden vom Selbstmord aufgeworfen. Es ist ein ungeheurer Vorgang, wenn ein Mensch Hand an sich legt, wenn er die Welt gleichsam aufhebt für sich. Es ist das entsetzlichste Nein, das gesprochen, getan werden kann, eine Empörung gewissermaßen gegen die Ursprünge selbst, gegen Vater und Mutter und die Vorfahren überhaupt, gegen einen jeden Lobpreis des Lebens, eine jede Sorge und Fürsorge, gegen alles, was besteht und was der Mensch bisher getan. Eine schrillere Dissonanz ist nicht denkbar: Dem Orte, wo ein Selbstmord geschah, haftet das Odium des Furchtbar-Unheimlichen an, das Gefühl, daß hier etwas geschehen ist, was niemals hätte geschehen dürfen. Welcher Art auch der Glaube oder Unglaube, die Überzeugung der Menschen sein mögen, sie werden die Scheu vor der Tat und dem Orte schwerlich verlieren. [170]
Die einfachste Entgegnung wäre die: daß der Mensch sich abwendet aus unerträglichem Zwang, zerstörenden Leiden in die Freiheit, den Schlaf, die Leidlosigkeit, das Nichts. Aber wie, wenn diese Worte sehr vorläufig wären, den Worten ähnlich, wie der Satte vom Hungernden, der Behauste vom Flüchtling spricht? Auch im äußersten Falle kommen wir über den Einwand Hamlets – »wenn die Träume nicht wären« – nicht hinaus. Alles, was wir vom Entschluß zum Tode wissen, zu ergründen suchen, was uns die dazu Entschlossenen hinterlassen haben, rührt an das Geheimnis der letzten Sekunde nicht. Erst sie ist ganz ernst. Und eine letzte Sekunde kommt immer, sei sie der Augenblick, wo das Gift der zerbissenen Phiole in den Körper fließt oder die Mündung der Pistole an die Lippen rührt. Was geschieht dann? Was endet? Was beginnt? In welcher ungeheuren Entfernung vom eben noch gesprochenen, geschriebenen, gedachten Wort mag dieses Geheimnis geschehen!
Aber wir haben das Antlitz der Toten, das seine ergreifende Sprache spricht. Der Friede eines Lächelns verklärt sie, das kein lebendes Antlitz verklärt hat. Ist es das Lächeln des Freigewordenen – oder ist es das Zurücksinken der entschwerten Hülle, die nicht mehr von Bedeutung ist? Wenn es aber nur Hülle war, wo ist dann die Person, die den Tod getan, erfahren hat? Und wie hat sie ihn erfahren und angesichts welcher Dimensionen? Der Friede könnte wohl für den Schlaf sprechen; er könnte auch dafür sprechen, daß eine unbegreifliche Macht sich dessen erbarmte, der seine Form zerbrach; daß über dem Schrecken etwas beginnt und dieses andere im Sichtbaren, in den Zügen des Toten, seine Sprache nicht mehr finden kann. Hier hören Schmerzen auf, und es ist wie ein beglückendes Atmen vor dem Einschlafen. Aber der Schlaf und der andere Morgen? Und wer schläft wohl in solchem Frieden ein, der sich nicht beschützt fühlt, der nicht im letzten Versinken ahnt, daß Einer über seinem Schlafe wacht? Das befriedete Antlitz dessen, der Hand an sich gelegt, ist das Rätsel über allen Rätseln; denn das Lebende sinkt schwerlich in [171] das Nichts ohne Grauen; es sinkt befriedet nur in den Abgrund der Liebe.
Doch wir wissen auch von Gesichtern, auf denen ganz anderes steht; es sind Masken der Schmerzen, einer Not, die das Irdische sprengt. Es mögen Gesichter unter ihnen sein, die wie die aufgebrochene Tiefe selber sind, verletzte, zertrümmerte Gesichter, die doch nur die Andeutung der zertrümmerten Seelen sind. Und wie viele Gesichter müßten wir fragen! Und wer mag sich vermessen, ihren Ausdruck zu deuten und ihnen eine Aussage abzulesen, die den Schleier hebt! Was wir auch sagen und denken mögen vom Geheimnis der letzten Sekunde, es ist alles vorläufig. Wir sollten bekennen: An die letzte Wahrheit und Wirklichkeit reichen wir nicht. Wir wissen nicht einmal, ob die Bezeichnung »Sekunde« noch zutrifft, noch redlich ist. Es könnte auch ein Anfang von Zeitlosigkeit sein, stehenden Schauens, Erfahrens, Leidens, für die wir keine Namen mehr haben. Und wie viele letzte Sekunden dehnen sich gewissermaßen ins Leben zurück! Es ist nicht jede Hand sicher, die sich gegen das eigene Leben erhebt. Das Bewußtsein, einen Frevel zu tun, könnte sie zittern lassen. Könnte nicht plötzlich der Gedanke die Tat durchkreuzen: Du gehst dorthin, wohin Du nicht gerufen bist? Wie wirst Du empfangen? Und die Verzweiflung wird dagegen sprechen: Tue es doch! Und das Widerstreben vor dem Frevel meldet sich wieder. Aber der Abschied ist schon vollzogen, oder die Not, die Schmach wüten an der Tür und können im nächsten Augenblick einbrechen, und die Verzweiflung erzwingt die Tat. In einer entsetzlichen Verwirrung, Erregung geschieht das Ende, und der Unglückliche flieht gleichsam atemlos durchs Ziel. Unsere Sprache hat die Tat ja eindeutig bezeichnet: es ist Mord (das Wort »Freitod« ist nicht wahrhaftig; im Tode ist das Bestimmtsein, das der Freiheit widerspricht). Ist nicht der Leib im ersten, ursprünglichsten Sinne der Bruder, nach dem wir gefragt werden könnten wie Kain? So kann die »letzte Sekunde« zum ungeheuersten Drama werden, in der die Tat vielleicht nur halb gelingt, so daß über den Qualen des verwundeten Bruders Leib das [172] Geheimnis, das im Fluge durcheilt werden sollte, über dem Verblutenden unerbittlich steht wie die Wüstensonne über dem todwunden Soldaten.
Lassen wir uns nicht täuschen mit den Worten unseres Berichts über einen Bezirk, von dem wir nichts in Erfahrung bringen! Der Entschluß zum Tod ist der Entschluß zu einer ehernen Wirklichkeit. Und ob wir nun glauben oder nicht, das eine müßten wir uns doch sagen: Wir haben kein Recht, das andere, zu dem wir uns entschließen, »Schlaf« zu nennen. Schlafen: das heißt wieder erwachen. Wir schlafen nur auf fester Erde, gesichertem Grund. Hier aber heben wir den Grund auf – von nun an wird alles ungewiß, ist Unerhörtes, Unausdenkbares möglich.
Freilich erwartet dieses Unausdenkbare alle; die sich zu ihm entschließen, gehen nur voraus. Aber das eine ist doch gewiß, daß wir das Leben, die Erde und das etwa mögliche Unausdenkbare nicht geschaffen haben. Und wenn es eine »Sicherheit« gegeben hat auf Erden und Leben und Tun und Leiden bis zu dieser Stunde uns möglich war, so gerade wohl deshalb, weil wir nicht Urheber sind, weil wir nicht tragen und steuern. Wir haben uns Gegebenem hingegeben, mag es in Vertrauen gewesen sein oder in Furcht und Zittern. In einer Wirklichkeit, die um vieles mächtiger war als wir, so rätselhaft sie auch gewesen ist, waren wir eingeschlossen. Nun aber stellen wir uns gegen sie, machen wir mit ihr ein Ende. Wir wagen den Sprung von der Mauer. Wo stürzen wir hin, wer wird uns auffangen? Welcher Macht werden wir, können wir verfallen? Wir sollten die Tatsache ausdenken, daß bisher unser Dasein ein Getragensein war – wenn vielleicht auch ein Getragensein schrecklicher Art – und die andern sich weiter tragen lassen und daß in dieser Wahrheit vom Überantwortetsein doch noch eine Festigkeit, ein Trost möglich ist dem Unausdenkbaren gegenüber. Wo wir unmächtig sind, da ist Ergebung vielleicht die höchste Weisheit. Aber nun geben wir diese Weisheit auf. Wir lösen uns, beginnen zu eilen und wissen nicht wohin. Das Unausdenkbare könnte tragbar sein, wenn wir ihm entgegengeführt [173] werden, wie wir in dieses Leben geführt wurden. Wir aber fordern das Unausdenkbare heraus. Wie wird es antworten? Wir meinen die Brücke zu betreten, die ins Freie führt. Brechen wir nicht vielmehr die Brücke ab, die einzige Möglichkeit des Vertrauens gegenüber dem Unbekannten und Unausweichlichen? Und könnte der Schrecken des Sturms nicht schwerer wiegen als alle Qual der uns noch zugemessenen Zeit? Was uns in der Stunde der Verzweiflung das Herz umengt, daß wir meinen, nicht mehr atmen zu können, das wird morgen ein Traum sein, wie die Not ein Traum wurde für unzählige andere, die sich ergaben: Dann werden wir wieder vor dem Unbegreiflichen stehn, das uns jetzt zu zermalmen droht. Aber wir haben uns nicht dahin gedrängt, die Grenze nicht eigenmächtig überschritten; wir haben die Warnung, die das entsetzliche Wort »Mord« in einem jeden Falle ausspricht, nicht mißachtet. Wie wir dieses Leben nicht gewollt, seinen Anfang nicht getan haben, so haben wir dann auch das Ende nicht heraufgeführt, und um so verwirrender die Ungewißheit ist, um so eher werden wir Fassung und Mut finden in der Ergebung. Wir nehmen an, was über uns beschlossen ist, und lassen uns führen, wo wir nicht führen können. Wir werden dann zum mindesten die Würde des Leidens und den Stolz haben, daß wir aushielten auf einem nicht gewählten Posten. Denn Leben und Sterben sind uns offenbar auferlegt; darin werden sich Gläubige und Ungläubige einig sein.
Ist die Auferlegung sinnlos, so sind wir in Gefahr, von Schrecken zu Schrecken getrieben zu werden. Warum sollen wir auf der Erde dem Leid entfliehen, wenn es möglich ist, daß im Tode und jenseits des Todes uns größeres Leid erwartet? Das Leid der Erde ist uns zum wenigsten bekannt, und für das unbekannte Leiden könnte uns das Bewußtsein stärken, daß wir es nicht gerufen haben und ihm nicht ausweichen konnten. Denn der Schlaf, das Nichts sind unbewiesen. Wenn der »Prinz von Homburg« zweifelt an der Herrlichkeit des Jenseits, weil »das Auge modert, das diese Herrlichkeit erblicken soll«, müßten wir dann nicht auch am [174] Schlafe zweifeln, weil das Auge modert, das sich im Tode schließt? Und wenn das Nichts kommt, wie werden wir es erfahren? Als welche Erfahrung wird es uns zerstören, in der »Sekunde«, die nicht mehr Zeit ist, die Ewigkeit sein könnte? »Schlaf«, auf das Jenseits angewendet, könnte ein lügnerisches Wort sein. Wir haben kein Recht, diesen Zustand ruhenden Lebens jenseits des Todes zu erwarten.
Hat die Auferlegung aber einen Sinn, so könnten wir ihn nur in der Art finden, wie wir sie ertragen. Wir erfüllten ihn nicht, wenn wir auswichen. Offenbar sollen wir etwas leisten. Und selbst wenn dies Geforderte nicht geleistet werden könnte, weil es über unsere Kräfte, ja über unsere Ehre, unsere Würde geht, so ist es doch offenbar, daß ein anderer Tod uns erwartet als der, den wir uns jetzt bereiten wollen. Diesen anderen Tod zu erwarten ist uns offenbar das Schwerste. Wir aber wollen diesen Tod, den Mord, zu dem wir uns entschließen, den anderen wollen wir nicht.
Aber es ist der Charakter unseres Daseins, daß wir das Ungewollte vollziehen müssen, das ungewollte Leben, den ungewollten Tod. Erst mit ihm bestehen wir die Auferlegung ganz. Und im Bestehen ist eine Genugtuung – vielleicht schon eine Verheißung. Es ist der Anfang einer Befreiung darin, vielleicht sogar eines Anspruchs: »Dies alles habe ich erduldet, wie es mir auferlegt war.« Ehre und Würde aber, wie sie unter Menschen gelten, sind schwerlich Worte, die wir in den Tod und »hinüber« nehmen können. Eine Würde schimmert im Ertragen des Untragbaren auf. Von ihr haben – jenseits aller Verheißung – die griechischen Helden gewußt. Ödipus durchlitt die Schmach seines Blutes, die ungewollte Schuld am Tode des Vaters, den entsetzlichen Widerspruch mit sich selbst. Er hätte nicht sein dürfen, aber er trug dieses Sein. Er erduldete das Unwürdige, der Gatte seiner Mutter zu sein. So hatten es die himmlischen Mächte, nicht er gefügt. Er zerstörte die Augen, die den Greuel dieses Lebens gesehen – aber sein Leben nicht. Indem er sich in dies befleckte, widernatürliche Leben ergab, »maßlos duldend« – erlangte er ein Recht. Der vom nicht gewollten Frevel Vertriebene, durch die Fremde Irrende war König; er war König seines Leids. Am Ende nahm die Macht sich seiner an, die über ihm waltete, und hüllte ihn in das Geheimnis wunderbaren Todes. Sein verborgenes Grab aber wurde zum Heiligtum. Es wurde zum Gnadenorte vor den Mauern Athens. Segen ging von diesem verfemten, gescheuten Leben aus, das sich unvorstellbaren Leiden gebeugt. Da es den Tod nicht rief, selbst in der Schande nicht, so neigte sich endlich hernieder die Gnade der unverstandenen Macht.
Dies könnte der Sinn der Schmerzen sein, die uns versuchen, Hand an uns zu legen. Auf diesen Sinn verzichten könnten wir aber nur, wenn wir unumstößlich wüßten, daß das Nichts uns erwartet, ein befriedender Schlaf ohne Träume.
Wenn das Nichts gewiß wäre, dann schiene der Selbstmord möglich, vernünftig. Ist es aber gewiß, so ist das Leben ein Gut über allen Gütern, für das es keine Entschädigung gibt. Dann wäre das elendeste Leben noch kostbar – und wenn es nur einen Blick in die Sonne erlaubt, das Empfinden des Herzschlages, das letzte, von Wehmut verdunkelte Nachleuchten einer Erinnerung – wenn es nichts wäre als die Verzögerung des Sterbens, die Frist vor dem Nichts. Wer leidet, der lebt – und das Leben ist ein Abgrund an Schmerz, aber auch ein Abgrund an Hoffnungen. Verzweiflung ist blind; sie nimmt die Wende nicht wahr, die sich vorbereitet. Wie, wenn die letzte Vorbereitung geschehen wäre einen Augenblick – nach dem letzten Augenblick? Die vielen Sagen, Überlieferungen von Selbstmördern, die als Gespenster wiederkehren, deuten die Ahnung an, daß eine Aufgabe nicht gelöst, eine Möglichkeit nicht ausgeschöpft ist. Die Geister trachten dem versäumten Leben nach und müssen schweifen, bis die eigenmächtig gebrochene Kraft aufgezehrt ist, als ob der Tod die Unglücklichen auf die Erde zurückdränge, an die Stelle ihrer Flucht. Der Tod nimmt die nur an, die er gerufen; den andern ist kein Friede versprochen. [176]
Das eine ist gewiß: der selbstgewählte Tod wühlt Frage um Frage auf; er heißt die ihm Entgegeneilenden schwerlich willkommen. Das Antlitz mag lächeln, der Leib beseligt sein, wenn die Schmerzen verebben. Allein, was sagen die abgelegten Kleider vom Geheimnis, den Erfahrungen dessen, der sie getragen? Doch die eigentliche Not kümmert sich um all diese Fragen nicht: die Schwermut der Jugend will hinunter in den grundlosen Tod; sie ist auf der Erde nie zu Haus gewesen und brennt danach, heimzukehren in uranfängliche Dämmernis. Einmal ist der Vertriebene jeder Herberge müd; es kommt ein Morgen, da er sich nicht mehr erheben wird. Auf diesem letzten Lager seiner Wanderschaft möchte er ruhn wie in Ewigkeit. Der Verfolgte, Verzweifelte sieht sich und die Seinen von allen Seiten umschlossen; er hat an zu viel Türen gebangt, sich erniedrigt, als daß er es noch an einer einzigen versuchen sollte. Vielleicht sind die Elenden schon unterwegs, die ihn und die Seinen voneinander trennen, den von der Not noch einmal geheiligten Lebenszusammenhang zerreißen sollen. Es wird nicht geschehen. Wenn die Verfolger die Türen aufbrechen, so wird man die Gehetzten vereinigt finden im Tod. Und auch der Kranke, dem sich in langen Nächten das grausige Antlitz seiner Krankheit entschleiert, wird vielleicht einmal nicht mehr fragen. Und was sollten wir zu sagen wagen von der erniedrigten Frau, die sich selbst nicht mehr ertragen, ihr Gesicht nicht mehr anblicken, sich nicht mehr erinnern mag an das, was sie gewesen; was von der Mutter, die ihr Kind und sich der Schande entreißt? Was auch von der Verzweiflung der Liebe, die ihr Blut verströmen muß, weil die Überfülle ihres Herzens vereinsamt ist für immer? Und doch hat der Entschluß zum Tode oftmals eine lange Vorgeschichte. Es mag Menschen geben, von denen es den Anschein hat, daß es ihnen eingeboren sei, von eigner Hand zu fallen. Diese Menschen können etwas Furchtbares haben; sie geben dem Selbstmord ein besonderes Gepräge. Eine Neigung zum Tode, ein Hingezogenwerden zu ihm, scheint das Innerste ihres Wesens auszumachen und von da heraufzudringen in ihr ganzes Empfin-[177]den und Handeln. Sind es Künstler, so erlangen sie eine eigentümliche, betörend-verderbliche Melodie. Sie müssen nicht Selbstzerstörer sein, aber sie sind es; irgendeinmal haben sie sich, hat sich ein Etwas in ihnen zum Tode entschieden. Vielleicht ist es ihnen nicht völlig bewußt, doch die Entscheidung, die verborgene »Hochzeit«, wirkt sich in ihrem ganzen Lose, ihrem Streben und Versagen aus. Selbstzerstörer, die sie sind, zeichnen sie die Bahn der Zerstörung mit ihren Schritten; ist ihnen ein geistiges Wirken gegeben, so bahnen ihre Gedanken dem Tode einen Weg. All ihr Dasein und Trachten hat etwas Abschüssiges. Wehe so manchem, der ihnen begegnet, sie können zur großen Gefahr werden! Die Gewichte des Todes in einer Seele haben eine anziehende Macht.
Es scheint auch eine Kraft hervorgehen zu können aus dem Entschluß zum Tode. Wer immer bereit ist, den Tod zu vollziehen, vermag fast Unmögliches zu tun, fast Untragbares zu bestehn; er scheint gefeit. Und doch haftet ihm etwas Segenloses an. Ein Mensch, der immerfort bereit ist, sich selbst zu vernichten, der in einer tödlichen Beziehung zu sich selber steht: wie sollte er in der rechten Beziehung zu den andern Menschen, der Umwelt sein? Wer kann erhalten, der sich selbst nicht erhalten mag? Wer wird vor der Zerstörung zurückbeben, da er sich selber zerstören will?
Aus solcher inneren Bereitschaft zum Selbstmord, zum Verbrechen an dem Bruder unserer Seele, kann geschichtliches Handeln werden. Daß Friedrich der Große in den schwersten Jahren des Siebenjährigen Krieges sich an der Bereitschaft zum Selbstmord stärkte und gewissermaßen dem Tode schon einen Teil des Geschickes auflud, das er sich selbst heraufgerufen hatte, ist wohl nicht zu bezweifeln. Ob er den Mord im Falle der Katastrophe begangen hätte, wissen wir nicht; vielleicht stand er doch noch zu fest im Zusammenhang seines Erbes und Amtes, als daß er – selbst wenn es der »Ehre« wegen hätte geschehen sollen – seine Verpflichtung abgeworfen hätte. Aber mit Schaudern rührte es uns an, als in der furchtbaren Rede, die den zweiten Weltkrieg eröffnete, der Schatten Friedrichs wiederholt beschworen wurde. Da-[178]mit war im Grunde die Verzweiflung zur Herrschaft erhoben; unter dem Bilde des dämonischen Königs, der selber noch davor bewahrt blieb, Opfer seines Dämons zu werden, brach der Abgrund des Todes auf, in den in ungeheuren Wirbeln Heere und Völker gerissen wurden. Wohl hatte die Siegesgewißheit die Stimme; aber unheimliche Klänge mischten sich, wie an jenem Septembermorgen, immer wieder in die Fanfaren. Es waren die einzig wahrhaftigen Laute im Munde der Lüge und als solche auf das deutlichste von falschen Voraussagen unterschieden. Wenn sich irgendwann von Menschen sagen ließ, daß sie einen schrecklichen Tod in sich trügen, so von den Mächtigen der zwölf Jahre. Etzels Halle, eines der immer wieder heraufgerufenen, gefeierten Bilder war wie das Leitbild, das sie zog.
Wir wissen das ganze Geheimnis eines Menschen und seines Todes nicht. Unsere Urteile bleiben ins Irdische verwiesen. Die Toten erreicht kein gültiges Urteil mehr. Das eine aber ist gewiß, daß einem Volke und damit der Welt kaum Schlimmeres beschieden sein kann als die Herrschaft eines Menschen, der im geheimen, sei es bewußt, sei es unbewußt, entschieden ist, sich selbst zu vernichten. Von ihm geht der Tod fast unwiderstehlich aus. Die ihm begegnen, geraten in sein Gefälle; und die Todesgewalt wird um so furchtbarer, je größer die Macht dieses Menschen ist. Vom Tode her wächst sie, und was sie sich unterwirft, bringt sie dem Tode zu. Er verdirbt, die mit ihm sind; die ihn feiern, preisen, ohne es zu wissen, den Tod. Die Embleme des Todes erscheinen auf den Waffen, den Fahnen und werden zu Emblemen der Macht. Es ist, als ob die sich furchtbar auftürmende Todeswoge die Welt zerbrechen sollte – bis sie endlich an den ihr gesetzten Felsen schlägt und zurückstürmt und die heimholt, von denen sie ausgegangen, und endlich auch den einen, in dem die Verzweiflung mächtig war, von Anfang an. Wir wagen es zu sagen: Dies könnte die verborgene Geschichte der zwölf Jahre sein. Die Verneinung kleidete sich in Triumph; der Rausch der Vernichtung war die namenlose Gewalt, mit der sie zur Gefolgschaft hinriß, das [179] Innerste im Wirbel der Selbstsucht, der Gier nach Macht und Ruhm, nach Gut und Tat. Und wie der Selbstmord des einzelnen zumeist seine Vorgeschichte hat, so hat die geschichtliche Macht der Selbstvernichter eine bedeutende Vorgeschichte; sie setzt eine Konstellation voraus, unter der die erhaltenden, wohltätigen, ordnenden Bilder den Menschen verhüllt sind. Solche Macht tritt nur auf in einer zertrümmerten Welt.
Wir können hier nicht erörtern, wie es zu dieser Verhüllung kam und worin sie sich zeigte. Sicher ist: daß ein Mensch, der zu sich selbst im Mißverhältnis der Bereitschaft zur Selbstvernichtung steht, nicht mächtig werden darf. Er sollte nicht wählbar sein und würde wohl auch schwerlich gewählt werden, wenn ihn nicht der Glanz der Blendung umwitterte. Dieses Phänomen rückt den Selbstmord in einen neuen Aspekt. Er kann nur geschehen, wo mit der Ehrfurcht vor dem Leben und dem Urheber des Lebens – erst diese zweite Ehrfurcht wäre die rettende tragende Kraft – der Zusammenhang allen Lebens und die Verpflichtung an diesen Zusammenhang geleugnet wird. Der Selbstmord – scheinbar das persönlichste, nur gegen das Ich gerichtete Vergehen – ist in Wahrheit nicht auf das Subjekt beschränkt. Alles Leben ist eins; der sein eigenes Leben nicht achtet, verletzt das Leben überhaupt und empört sich gegen Den, der alles Leben gegeben hat. Der Selbstmörder trägt etwas Entsetzliches in die Welt, etwas, das nicht in ihr sein soll und das ihre Ordnung bedroht. Der einzelne Lebende hat kein Recht, auch nicht um den Preis seines Blutes, die Bindung aufzuheben, die alles Leben eint. Seine Haltung, sein Denken haben etwas Zerrüttendes. Niemand wird schuldig an sich allein, weder in diesem noch in irgendeinem andern Sinne. Denn das Gesetz der Ordnung, der Erhaltung, Verwaltung ist allen gegeben; darum frevelt ein jeder, der dieses Gesetz verletzt, an allen. Der Entschluß, an sich selbst zu freveln, erkauft in keinem Falle einen echten Wert. Es ist im Grunde eine Tat äußerster Überhebung, das Leben abzuwerfen, das alle behaupten, verwalten sollen, das allen teuer ist. Wo das Sein sich selber verneint, da [180] wird ein verbotener Gedanke gedacht; eine Verwirrung der geistigen Sphäre geschieht, deren Folgen so wenig mehr aufzuhalten sind wie die Wirkung eines Steinwurfs auf eine Wasserfläche. Das Leben ist dem Leben verpflichtet; wo es sich nicht verwalten kann, nicht verwalten will, da gibt es ein zerstörendes Beispiel, zeugt der Tod sich fort.
So ist geschehen, was wir schaudernd erlebt haben und noch immer erleben müssen. Von dem innersten gräßlichen Todeskreise her – von Etzels Halle, der die Macht des Selbstvernichters entgegenstürmte und in der sie verzehrt wurde – wogt die Todeswelle fort; es hat sich offenbar so Grauenvolles begeben, daß diese Woge sich nicht mehr beruhigen will. Noch ist der Abgrund offen, sind die haltenden Kräfte nicht auf hinreichende Weise sichtbar, wirksam geworden. Die Not, die in den Tod treibt, ist furchtbar. Aber des Todes ganze Macht ist die Not nicht. Ihm hat sich der Geist der Verzweiflung und Verneinung, des Frevels an sich selber verbündet; es hat sich ein Klima, eine Ära des Selbstmords verdichtet, deren Ursprung ein geistiger Frevel ist. Dieser Frevel besteht in der Lossage; ein einzelner glaubt Macht, Ruhm, geschichtliches Wirken erkaufen zu können für den selbstgewählten Tod. Ausdrücklich haben sich der Mächtige der zwölf Jahre und die Männer seines Kreises darauf berufen, daß sie bereit seien, selber zu sterben, den Tod zu wählen, als sie ein beispielloses Opfer forderten. Wer – das ist das vernichtende Argument – sein eigenes Leben aufgeben kann, der hat ein grenzenloses Recht an das Leben aller.
Und doch gelangt solche Haltung, die todernst zu sein scheint, über das willkürliche Spiel mit dem höchsten Einsatz nicht hinaus. Echter Ernst ist in der Verantwortung dem Bestehenden gegenüber. Hier aber wirft ein Verzweifelter, der die Pistole schon in der Tasche, das Gift im Munde trägt, die letzte Karte auf den Tisch – um einen jeden, ein ganzes Volk zu zwingen, dasselbe zu tun. So kommt es freilich zu einem Spiele, dessengleichen noch nicht gespielt worden ist. Geht es aber verloren, so steht niemand [181] dafür ein. Denn die es tun müssen, sind von Anfang an entschlossen, es nicht zu tun, sondern sich zu töten. Wäre das Spiel aber gewonnen worden, so hätte – fast wider Erwarten – der Tod gewonnen, und er hätte schwerlich lange gezögert, die nächste Runde zu beginnen. Alles, was Verzweifelte gewinnen, ist nicht erworben, nicht verdient; es kann nur wieder Einsatz sein. Der Tod aber ist es, der eigentlich ernst macht; er reißt alles an sich, was ihm versprochen, was dem Urheber und Bewahrer des Lebens verweigert worden ist.
Ehe aber das Spiel begann, hatten die Spieler die Achtung vor sich selbst verloren – und kein Gewinn hätte sie entschädigen, hätte sie heilen können. Machtsucht und Ehrgeiz können schwelgen in unwahrscheinlichen Schätzen, und doch kann der Mensch, der sie zu besitzen meint, unheilbar erniedrigt, das Bewußtsein der Erniedrigung, des Unwerts unverwindlich in ihm sein. Das Wissen vom Menschenwert war verloren; wir wissen nicht, auf welche Weise; vielleicht war es an einer Erfahrung gescheitert, die eine Erfahrung an sich selbst oder an andern sein konnte. Vielleicht aber war es schon nicht mehr auf die rechte Weise in den Seelen gegründet worden. Der Mensch war, wie es in »König Ottokars Glück und Ende« heißt, »Kehricht« vor dem Turmbau der Macht; und es war nichts anderes möglich, als daß dieser Turm wieder einstürzte. Denn wo der Mensch nicht geachtet wird und sich selber nicht achtet, da ist keine echte Macht.
Alles Denken des Nichts steigert die Macht des Verneiners, arbeitet an den Waffen des Todes; jede Neigung zur Selbstvernichtung vermehrt die Gegengewichte des Seins, die diese Welt in die Tiefe reißen wollen. Das Denken der Selbst- und Weltvernichtung ist eine konkrete Gefahr; wir haben durchaus kein Recht zu der Überzeugung, daß Kräfte des Menschen genügen, diese Gefahr zu brechen. Die Heraufkunft des Selbstvernichters auf den Gipfel der Gewalt ist schwerlich denkbar ohne eine lange Vorarbeit geistiger Kräfte, mögen diese nun in offenem Streite oder mit den aufs [182] höchste verfeinerten Mitteln der Kunst und Kritik an den Geistern, den Seelen gearbeitet haben.
Ein Zug zur Tiefe, zum Nichtmehrsein ist vielleicht in jeder Seele und in den edlen von erhöhter Leidensfähigkeit zumal; die Frage ist nur, welche Kraft sich ihm entgegensetzt. Wenigstens seit der Werther-Zeit können wir im Schrifttum eine Glorifikation des Selbstmordes beobachten; bald tritt auch im Leben die lange Reihe berühmter Selbstmörder auf, die gerade um ihres Todes willen geliebt, bewundert wurden, mit der Kraft dieses Todes zur Nachfolge überredeten. Es genügt nicht, an den tatsächlichen Selbstmord zu denken. Welche Magie liegt in dem grausigen Spiel des Novalis mit dem Tode! Ein Kritiker von unbestechlicher Sittlichkeit wie Otto Ludwig nannte den Tod des Max Piccolomini einen Selbstmord, dessen Schein-Glanz der Tapferkeit überdies noch mit der »Veruntreuung« des besten Regimentes des Kaisers erkauft wird. Die Dichtung hat hier in der Tat eine Art militärischen Selbstmordes vorgebildet und verherrlicht, deren Fragwürdigkeit bald fast ganz übersehen werden sollte.
Den großen Tragikern galt der Selbstmord des Helden als unbefriedigender Schluß der Tragödie; die Umstände wären zu prüfen, unter denen sie ihn angewendet haben. Der Held soll gefällt werden vom Gegenspiel; er soll sich nicht fällen, wenn die volle Wucht des Tragischen erfahren werden soll. Dies ist ein Gesetz der Kunstform, dem das Gesetz irdischer Ordnung entspricht; soll doch die innerste Wahrheit des Seins vergegenwärtigt werden in den Gebilden der Kunst. Das moderne Drama, das der Form nicht mehr gerecht werden konnte, neigte mehr und mehr zur Katastrophe in Gestalt des Selbstmordes: das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit hat sich verändert; er wird als Besiegter nicht mehr unerbittlich hinausgedrängt oder als Schuldiger gerichtet; er verneint sich und entzieht sich dadurch der Ordnung des Gerichtetwerdens, aber auch der letzten Möglichkeit, als Sühnender sich zu erheben.
Der Gang zur Richtstätte, auf dessen Sichtbarkeit das Mittelal-[183]ter nicht verzichtete, bot eine wunderbare Möglichkeit der Sühne; er war, bei aller Furchtbarkeit, die menschlichste Einrichtung. Der Schuldige war nicht allein, und nur wenige werden nicht gebetet haben, wenn die Armesünderglocke anschlug; nur wenige werden ihr Gewissen nicht gefragt und es nicht gefühlt haben, daß der zum Richtplatz Schreitende einen Anteil an aller Menschenschuld trug. Vielleicht kann im verborgenen Gericht schon eine Art von Ermächtigung zum Selbstgerichte erblickt werden: Wer im geheimen gerichtet wird, ist ohne fühlbaren Beistand, außerhalb des Zusammenhanges, auf den gerade der zum Tode Verurteilte einen Anspruch hat. Soll ihn der Tod doch wieder in den Zusammenhang versetzen, über den er hinwegging. Als Selbstmörder aber stellt er sich selber zum letztenmal heraus. Der entsetzliche Schatten der Gnadelosigkeit liegt auf dem Toten in seiner Zelle.
Shakespeare hat einmal, im »König Lear«, die Heilung vom Selbstmord gestaltet. Gloster, der von der Tochter seines Königs und ihrem Gatten geblendet und aus seinem Schloß vertrieben wurde, will sich das Leben nehmen und sucht den Weg nach Dover, um sich von der hohen Klippe ins Meer zu werfen. Unerkannt unter der Maske eines Narren führt ihn sein Sohn Edgar, den der Vater für einen Verräter gehalten und widerrechtlich verstoßen hat; Edgar schildert dem Blinden die Todestiefe, in die er sich stürzen will:
Edgar Kommt, Herr, hier ist der Ort: Steht still! wie grau’nvoll
Und schwindelnd ist’s, so tief hinab zu schau’n! –
Die Kräh’n und Dohlen, die die Mitt’ umflattern,
Sehn kaum wie Käfer aus – halbwegs hinab Hängt einer, Fenchel sammelnd – schrecklich Handwerk! Mich dünkt, er scheint nicht größer als sein Kopf.
Die Fischer, die am Strande gehn entlang,
Sind Mäusen gleich; das hohe Schiff am Anker
Verjüngt zu seinem Boot; das Boot zum Tönnchen,
Beinah zu klein dem Blick; die dumpfe Brandung,
Die murmelnd auf zahllosen Kieseln tobt, [184]
Schallt nicht bis hier. – Ich will nicht mehr hinabsehn,
Daß nicht mein Hirn sich dreht, mein wirrer Blick
Mich taumelnd stürzt hinab.
Gloster Stell mich, wo du stehst.
Edgar Gebt mir die Hand! Ihr seid nur einen Fuß
Vom letzten Rand. Für alles unterm Mond
Tät ich hier keinen Sprung.
Gloster Laß mich nun los.
Hier, Freund, ist noch ein Beutel, drin ein Kleinod,
Kostbar genug dem Armen. Feen und Götter
Gesegnen dir’s! Geh nun zurück, mein Freund!
Nimm Abschied; laß mich hören, daß du gehst.
Edgar Lebt wohl denn, guter Herr.
Gloster Von ganzem Herzen.
Edgar So spiel’ ich nur mit dem Verzweifelnden,
Um ihn zu heilen.
Gloster O ihr mächt’gen Götter!
Der Welt entsag ich, und vor eurem Blick
Schüttl’ ich geduldig ab mein großes Leid.
Könnt’ ich es länger tragen ohne Hader
Mit eurem unabwendbar ew’gen Rat,
So möchte wohl mein müder Lebensdocht
Von selbst verglimmen. Wenn mein Edgar lebt –
O segnet ihn! – Nun, Freund, gehab dich wohl!
Edgar Bin fort schon; lebt denn wohl!
Gloster springt und fällt zur Erde
Und weiß ich, ob nicht Phantasie den Schatz
Des Lebens rauben kann, wenn Leben selbst
Dem Raub sich preisgibt? Wär er, wo er dachte,
Jetzt dächt’ er nicht mehr. – Lebend oder tot?
He, guter Freund! – Herr, hört ihr? – Sprecht! –
So könnt’ er wirklich sterben – Nein, er lebt
Wer seid ihr, Herr? –
König Lear IV,6 [185]
Der Sohn spiegelt dem Blinden vor, daß ihn ein furchtbares Unwesen zur Klippe geführt und er sich wirklich herabgestürzt habe; doch himmlische Mächte, die »zu ihrem Ruhme vollbringen, was Menschen unmöglich ist«, hätten ihn getragen. Glaubt es der Gerettete? Er vertraut der Himmelsmacht wieder und ergibt sich nicht anders wie ein antiker Held:
Ja, das erkenn’ ich jetzt. Ich will hinfort
Mein Elend tragen, bis es ruft von selbst:
Genug, genug, und stirb!
König Lear IV,6
Der Selbstmord mußte getan sein; zu tief hatte sich der Gram in die Seele des Unglücklichen gefressen. Nun aber wird er frei und stark genug, den ihm bestimmten Tod zu erwarten. Die Szene ist wie ein Symbol: Ist nicht ein jeder Verzweifelter blind wie Gloster, der nicht weiß, daß sein Sohn neben ihm steht, der sein Trost sein wird? Ist nicht in der äußersten Verlassenheit eine Hilfe möglich, die Rettung ganz nahe? Gewiß, der Geblendete wird sein Augenlicht nicht mehr erlangen, das Entsetzliche, das er erduldete, nicht verschmerzen; er wird auch künftig nicht bewahrt bleiben vom Grauen der Welt. Aber er hat wieder gelernt zu beten, zu tragen. Auf dem Wege nach Dover rechtete er:
Was Fliegen sind
Den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern;
Sie töten uns zum Spaß
König Lear IV,1
Nun, da er vor seinem unseligen, irren König steht, fleht er um Beistand gegen die Versuchung:
Ihr ewig güt’gen Götter, nehmt mein Leben,
Daß nicht mein böser Sinn mich nochmals treibt,
Zu sterben, eh es euch gefällt. [186]
Doch Lear und Cordelia werden von ihren Feinden besiegt und gefangen, und Gloster möchte aufs neue verzweifeln. Aber Edgar mahnt ihn:
Was? Wieder Schwermut? Dulden muß der Mensch
Sein Scheiden aus der Welt, wie seine Ankunft:
Reif sein ist alles.
Wie die Tragödie sich löst, das Recht wiederhergestellt wird, der Sohn sich zu erkennen gibt, zwischen Freud und Schmerz, im Übermaß, das diesem stürmischen Herzen eigen ist, »bricht es lächelnd«.
So ist die Versuchung ausgelebt, der Selbstmord überwunden mit diesem letzten Wort, das der Tragiker spricht beim Verlassen der von Leidenschaften zerklüfteten Welt, an der Schwelle der Gnade: Reif sein ist alles. Der Selbstmörder ist nicht »reif«, sein Ende nicht der ihm aufgetragene Tod, der sein Leben versöhnen soll. Auch Gloster hat unrecht, als er Edgar verstieß. Es gibt einen Frieden, der hinter unsäglichen Schmerzen aufgeht, in der Erkenntnis der Schuld. Ihm muß der Mensch sich bereiten.
Laudato si, mi Signore, per sora nostra morte corporale.
Hl. Franz von Assisi
Damit gelangen wir an die Tore des Glaubens. Dem Christen ist der Selbstmord nicht erlaubt. Er soll nicht allein dulden wie die antiken Helden; sein Tod soll viel mehr sein – ebenso wie alles Leiden mehr sein soll –: das letzte Vollbringen seines Glaubens. Er soll Christus an seinem Leibe verherrlichen, »sei es durch Leben, sei es durch Tod« (Phil 1, 20); darum muß er, wie der Apostel sagte, als er von seiner Sehnsucht nach Christus sprach, »im Fleische bleiben«. Der Christ soll Christus ähnlich werden im Tode (Phil 3,10). Es kann nur geschehen, indem er den Tod leidet, den er nicht gesucht, nicht gewollt und den er, da er über ihn [187] kommt, aus Liebe zu Christus annimmt und »will«. In diesem Tode ist die wunderbarste Verheißung des Ähnlichwerdens; an diesem Tode wird der Gerechte erkannt werden am Tage des Gerichts. Dem Menschen ist der Leib gegeben, daß in ihm die Seele sich bewähre und der Vollendung entgegenstrebe durch alle Aufgaben, Versuchungen, Schmerzen, die das Gefangensein im Leibe bereitet. »Weil er das Fleisch an sich trägt, muß er Schmerzen haben, und weil seine Seele noch bei ihm ist, muß er Leiden tragen« (Hiob 14, 22). Ohne den Leib könnte die Seele sich nicht läutern für Gott, und dafür soll die Seele den Leib verklären und mit emportragen; insoweit sie beide Christus ähnlich sind, werden sie gerettet werden. Der Leib trägt Christi Sterben an sich und wird den Herrn dadurch verherrlichen; auch die Schmach der Gefangenschaft und Verspottung, der Mißhandlung und Entkleidung hat Christus vorweggenommen, im voraus erlitten. Es kann keine Schmach mehr geben, die im Gedanken an Christus, in der Liebe zu ihm, nicht tragbar wäre. Eine jede Schmach aber, die vor dem Dornengekrönten erduldet wird, krönt den Erniedrigten. Der Mensch, der dem gekreuzigten König unbeirrbar angehört, im Elend der Krankheit und unter der Gewalt verbrecherischer Verfolger, wird zum höchsten Menschenbilde emporgehoben, von ihm mit einem Widerscheine beschenkt. Der Mensch, der zum Gottmenschen hingewendet ist, wird das Bewußtsein seines Wertes nicht mehr einbüßen. Wie könnte er, der sich verantworten muß für seinen Leib, vor Gott erscheinen unter den Malen der Zerstörung, die er sich zugefügt? Solche Wunden und Narben nehmen den Glanz der Ähnlichkeit nicht an. Aber aus den dunkelsten Leiden noch können die weißen Kleider gewirkt werden, die der Seher von Patmos erblickte; es sind die Gewänder derer, die aus »großer Trübsal« (Offb 7,14) kommen vor Gottes Thron: »Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten, es wird nicht auf sie fallen die Sonne noch irgendeine Hitze.« Das weiße Kleid wird die Gebrochene, tödlich Gekränkte umschirmen, und »Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen«. [188]
Im Tode neigt sich Christus zu uns; mit unserem armen Sterben wollen wir Ihn. Damit ist der Tod nicht Vernichter, sondern Vollender, Wandlung ins Unvergängliche. Er ist der letzte Ruf Christi an uns, seiner Liebesmacht, die alles an sich ziehen will. Wie dürften wir gehen, ehe wir den Ruf vernehmen? Und erst von dieser Wahrheit vom Tode her festigt sich das Leben: es gibt keine Flucht, keine Ungewißheit, keinen »Schlaf«, keinen Augenblick des Lebens, der nicht höchsten Wertes wäre, weil ein jeder die Möglichkeit der Entscheidung umschließt. Das Verlangen nach Zerstörung ist die Abkehr von Christus und damit die Abkehr des Menschen von sich selbst, seinem eigensten Kleinod, von der Krone, die ihm aufbehalten ist. Der Selbstvernichter kann nicht herrschen, nicht ordnen, weil er dem Grund widerstreitet, der von Anfang gelegt ist, und dessengleichen niemand mehr legen kann bis zum Ende der Zeiten. Aber die Herrschaft des Selbstvernichters verbreitet die große Gefahr, den Menschen abzuziehen vom christlichen Tod, vom Rufe, der alles Zerstreute sammeln und vereinen will für die Ewigkeit. Der Selbstmörder frevelt an der heiligen Einheit unsterblichen Lebens, an Christus, der auferstehen will in unser Aller einigem Leben. Er frevelt an dem Leibe, seinem Bruder, und an einem jeden Menschenbruder, in dessen ewiger Lebensfülle der Anteil am Leben des Bruders ist.
Und doch sahen wir im Schatten dieser Jahre Menschen verzweifeln, deren Glauben wir bewunderten, und einen Tod suchen, der diesem Glauben widersprach. Wir können nicht urteilen, nicht rechtfertigen. Wir ahnen unerhörtes Leid und möchten es ehren. Aber dieses Leid ist ein Vorwurf, und es trifft uns alle. Hätte sich der Bruder gelöst von uns, wenn wir uns von ihm nicht gelöst hätten? Darauf, daß wir eins sind, eins sein wollen, gründet Gottes Gebot und Ordnung. Kein einzelner wird es erfüllen. Wie aber, wenn nun doch einzelne sind, wenn sie verlassen waren im schrecklichsten Augenblick? Haben nicht wir sie verlassen? Wo waren wir – und wo war unser Gebet? War es stark genug? Half es dem ihren, sie stark zu machen gegen die Verführung? Wer rich-[189]tet die Frau, die sich barg hinterm Tod, weil sie allein war gegenüber der Gewalt? Wer den Erben und letzten Verfechter einer Tradition, der mit dieser Tradition die Welt zerbrechen sah und nicht mehr leben wollte, weil er kein Rittertum mehr fand? Niemand sagte ihm in der dunkelsten Stunde, daß Gott waltet über der Schöpfung und in ihr unendlich viel mehr beschlossen ist, als Menschen jemals vollbracht, jemals vererbt, verwaltet, in Ehren gehalten haben? Wer wies ihn an Gottes Reich, als die Trauer um das Irdische zu mächtig in ihm war? Und wo ist die Liebe, die die Drohung der Not entkräftete tausend und tausendmal? Als die Angst einen Einsamen überwältigte, hätte es vielleicht nur eines geringen Zuspruchs bedurft, der Gegenwart ruhigen Mutes, männlicher Zuversicht, um ihn zu retten. Und es mag schon unsere Schuld sein, daß er niemanden rief oder zu müde geworden war, um zu rufen. Der überall Unrecht antraf, nahm die Seinen bei der Hand und eilte zu Gott, um Recht zu erlangen von der Gerechtigkeit selbst. Es mögen viele Tode gestorben worden sein, die nur ein Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit waren. Und wie viele sind aus der Welt geflohen, weil wir mitgeholfen haben, die Welt zu verderben! Der Prozeß um all diese Schicksale ist nicht zu Ende; wir sind in die Verantwortung für sie gerufen.
Und so geben wir die scheinbar verlorenen Glieder des einen Lebens nicht auf. Wir wissen, es waltet eine Barmherzigkeit, die über unser Begreifen ist. Es ist möglich, daß ein Gepeinigter sich über den Tod hinweg hinwirft vor Gottes Thron; daß eine Zertretene von Menschen, von sich selbst keine Wiederherstellung ihrer Würde mehr erwartet und sie unmittelbar erfleht von Gott; daß im Düster der Schwermut dieser Jahre unter so vielen Schatten der Gewesenen und den Schatten der Edlen selbst einige abscheiden, um bei Christo zu sein. Vielleicht reicht das Gebet so weit wie das Totenreich. Im Gebet ist das Leben aller, die Gegenwart aller, die starke Hoffnung auf die Rettung der Toten.
Aber hier auf Erden, im Diesseits des Gebets, muß eine Kraft sich entgegensetzen dem Zug zum Tode, der Versuchung zu ster-[190]ben. Es ist die Kraft des Geistes, der entschlossen ist, das Sein zu denken statt des Nichts, und die Kraft der Liebe, die zum höchsten Menschenbild sich wendet und von ihm über die Menschheit, vom Nächsten zum Nächsten, sich verteilt. Sie wäre unsäglich arm und völlig ungenügend, wenn ihr eine Kraft nicht entgegenkäme: Gottes Macht, der uns das Leben überantwortet hat, auf daß wir es verwalten im Wirken und Leiden und im Tode noch. Er führt uns, wohin wir nicht gewollt, als wir uns noch selber gürteten: Gerade das ist die Verheißung des uns auferlegten Todes, die mit einem jeden Sterben gewonnen, bestätigt werden will für alle. Der Selbstmord ist das sichere Zeichen der Verwirrung aller Ordnungen, die Sünde, die Empörung selbst. Mit dem Heiligen von Assisi dürfen wir den Tod grüßen als unseren »Bruder« und die Schmerzen als »Schwestern«. Der Tod, in den wir uns ergeben in Christi Namen, wird uns retten, uns alle vereinen für immer.
Ursprünglich veröffentlicht als Reinhold Schneider, Über den Selbstmord, Baden-Baden: Hans Bühler Junior, 1947.
Quelle: Reinhold Schneider, Der Wahrheit Stimme will ich sein. Essays, Erzählungen, Gedichte, hrsg. v. Carsten Peter Thiede und Karl-Josef Kuschel, Frankfurt a.M.: Insel, 2003, S. 169-190.