„Der Protestantismus hat diese Ten­denzen des Deutschtums noch wesentlich verstärkt“ – Eugen Kogon 1946 über „Die Deutschen und die Konzentrationslager“

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Toraufschrift des Konzentrationslagers Sachsenhausen

In seinem Essay „Die Deutschen und die Konzentrationslager“ – zuerst im Frühjahr 1946 als eigenes Kapitel in Der SS-Staat. Das System der deutschen Kon­zentrationslager abge­druckt – erörtert Eugen Kogon, selbst ehemaliger KZ-Häftling, die Frage nach Schuld und Mitverantwortung des deutschen Volks bezüglich der nationalsozialistischen Verbrechen. Seine Gedankengänge sind immer noch lesenswert.

Dann wollen wir in gleicher Ruhe und Sachlichkeit die weitere Frage stellen: Wie hat das deutsche Volk auf das Unrecht reagiert? Als Volk überhaupt nicht. Das ist eine bittere Wahr­heit. Man hat zur Erklärung des Versagens anführen wollen, dass Deutschland zu spät in der Geschichte seine Einheit erlangt habe; es sei ihm dadurch die Möglichkeit verschlossen ge­blieben, über gewöhnliches nationales Empfinden hinaus eine öffentliche Meinung von Rang zu entwickeln und für höhere Werte geschlossen auf­zutreten. Abgesehen von der Tatsache, dass es nationale Einheiten gibt, die im gleichen Jahrhundert, ja um dieselbe Zeit entstanden sind, ohne dass man sagen könnte, diese Völker hätten Unrecht so hingenommen wie die Deutschen, verwechselt jener Erklärungsversuch Ursache und Wirkung: die besondere Art des Deutschen ist es, die ihn so spät zur nationalen Einheit hat gelangen lassen, nicht die späte staatspolitische Konkretisie­rung, die seine Art erzeugt hätte. Während alle übrigen euro­päischen Volker – von einigen slawischen vielleicht abgesehen – ein festes, be­stimmtes Ver­hältnis zu der Wirklichkeit haben, in die sie gestellt sind oder die sich ihnen eröffnet, sodass sie ihren realpolitischen Weg in der Geschichte bald fanden und mit einer gewissen Konse­quenz, wenn auch mit wechselndem Erfolg gehen konnten, sind die Deutschen ein Volk der Möglichkeiten, nicht der Tatsachen. Schweifend im Reich der Phantasie, unerschöpflichen Plänen, vielen Empfindungen und Träumen hingegeben, sieht es in jeder Konkretisierung eine Beeinträchtigung des Hohen und Idealen. Wie es dem Irrglauben aus Glaubensüberfülle ver­fällt, so dann leicht einer realen Bindung, die gar nicht einmal aus ihm stammt. Ihr unterwirft es sich räsonierend-resignierend, am Ende zufrieden mit einer Philosophie des Besseren, oder es hält das brüchige Regiment, wenn andere Beweggründe und Umstände noch dazu verleiten, eine Zeitlang gar für die Verwirklichung des Anfangs der ersehnten Idealgemeinschaft, wü­tend womöglich in diese fremde Wirklichkeit verbissen, weil es ihm doch end­lich einmal gelingen müsse, politischen Erfolg zu haben »wie andere Völker«. Der Protestantismus deut­scher Herkunft und deutscher Prägung, Ausbruch des individuellen Gewissens aus fester Form, hat diese Ten­denzen des Deutschtums noch wesentlich verstärkt. Denn er trennte das Gewissen, das er dem Schöpfer unmittelbar verbunden sah, auf den reli­giös-kirchlichen Raum es beschränkend, vom Machtgetriebe des irdischen Staates, der ihm verderbt, dem Bösen unterstellt und eigenen ihm inne­wohnenden Gesetzen der Schlechtigkeit hörig erschien. Je kraftvoller die Autorität, die ihn im Zaume hielt, umso besser daher und umso gott­wohlge­fälliger. Ein bedeutender Antrieb zum Absolutismus in Deutsch­land ging von dieser Anschau­ung aus. Er ließ die Kraft zur politischen Gemeinschaftsbildung erst recht verkümmern, und keine Intelligenzschicht, das nationale Gewissen verkörpernd, überwand den Widerstand zwi­schen dem deutschen Möglichkeitenreichtum und den unzulänglichen politischen Ausdrucks­formen. Denn der deutsche Geistesträger – bezeichnenderweise »Akademiker« genannt – hatte selbst kein reales Verhältnis zur Politik außer dem des Untertanen. Sein Reich war der Geist, das Denken und Dichten. Viele widerspruchsvolle Züge im deutschen Charakter und in der deutschen Geschichte werden durch diese Grundveranlagung erklär­lich. Es ist nicht mög­lich, hier ausführlich darüber zu schreiben, obgleich es gerade jetzt, in diesem entscheidenden Abschnitt der Geschichte, wo es um die Selbsterkenntnis und die neue deutsche Stellung im europäischen Ganzen geht, notwendig wäre. Ein solches Volk konnte hohe Individua­litäten von überragendem Kulturrang hervorbringen, sie mussten aber, bei aller Wirkung wieder auf Einzelne, doch isoliert bleiben. Es konnte politisch debattieren, ohne je an den realen Kern der Politik heranzu­kommen. Es konnte rechtlich gesinnt sein und sich doch, als Volk, jeder auto­ritätsverkleideten Gewalt unterwerfen, sodass es den Terror schon fürchtete, ehe er überhaupt in Aktion trat. Es verherrlichte in vielen Gesängen die Freiheit, die es als volle politische Wirklichkeit des Einzelnen nie erlebt hat. Ich möchte beinahe sagen, dass es infolge seiner Verloren­heit an die Vielfalt der Möglichkeiten fast instinkthaft einen ausgleichen­den Halt in der Hingabe an die staatliche Autorität und in der Uniform das Gegenstück zum Multiformen seiner Seele suchte. Es hat niemals eine politisch prägende nationale Gemeinschaft hervorge­bracht, die ihrerseits das Volk durch Generationen geschützt und gehalten hätte. Das Fehlen dieser befruchtenden Wechselwirkung zwischen echter, inhaltserfüllter politischer Form und möglichkeitsreichem Individuum macht beim deut­schen Volk auch verständlich, warum es so tapfer und so feige zugleich ist. Angeborenes militaristisches Empfinden erklärt solches Dop­pelwesen nicht. Auch der Deutsche fürchtet, einzeln, den Tod, mag ihm das Knochen­gesicht durch allerlei nationale Mystik noch so verschönert werden. Sobald er sich aber in fester Gemeinschaft weiß, fürchtet er ihn nicht; denn er idealisiert die Gemeinschaft, wie immer sie ist, sofort und fühlt sich ihr durch «Pflicht» und «Ehre» verbunden. Selbst im kleinsten Stoß- und Spähtrupp oder als Einzelkämpfer bleibt er mutig, solange er das Kol­lektiv geistig und seelisch hinter sich weiß. Kaum soll er aber revolutionär – für das Recht etwa – aus den schüt­zenden Reihen der vorhandenen, der konkret gegebenen Gruppe heraustreten und, auf sich ganz allein gestellt, für einen hohen menschheitlichen Inhalt, selbst unter Verfemung, kämp­fen, scheut er zurück und duckt sich. Als Mensch individuell, ist er politisch ein Nichts, Ob­jekt und Massenbestandteil so sehr, dass ihm jede Surrogatpolitik das individuelle Recht und die individuelle Freiheit zer­schlagen kann, ja dass er noch, Parsifal und Faust in einem, mit­hilft, sich selbst in Ketten zu bringen, vertrauensvoll und sehnsüchtig wähnend, es sei die Freiheit, die ihm gebracht werde. Deutschland ist gegen den Terror des Nationalsozialismus nicht aufgestanden, weil es bis jetzt ein politisches Volk im Sinne des Wortes nicht gewesen ist. Alle zivilen Helden in Deutschland waren Ausnahmen und mussten Ausnahmen bleiben – Tau­sende unter achtzig Millionen.

Die Millionen einzelner Deutscher haben sich unter dem System der Diktatur entsprechend verhalten. Wenn man ihre hohen Eigenschaften: den Fleiß, die Sauberkeit, die Ordnungsliebe, die Pflichttreue, das Ehr­bewusstsein, die Objektivität und das rechtliche Empfinden, im Auge hat, dann kann man nur sagen: es war eine Tragödie sondergleichen. Wie hätte es aber unter den geschilderten Voraussetzungen anders sein können? Alles, was sie zu leisten vermochten, kam dem Regime zugute, auch wenn sie mit ihm nicht einverstanden waren (in manchem und vielem waren sie bei allem innerlichen Widerstand wohl einverstanden). Von den Kon­zentra­tionslagern wussten sie zu wenig. Sie hätten sie auch bei vollem Wissen nicht zu einer morali­schen Kernfrage gemacht, weil Freiheit und Recht als absolute Werte ihnen kein Zentralprob­lem waren. Das vor­handene Wissen vom Unrecht entflammte daher die Männer und Frauen nicht. Der Deutsche hat während der Diktatur sogar mannigfache Beweise dafür erbracht, dass er aus Angst und aus einer gewissen Unbehaglichkeit bereit war, sich täuschen zu lassen, dem Ernst der Sache aus dem Wege zu gehen und die dunkle Angelegenheit zu verdrängen. Viele machten sich – gedankenlos, aber bezeichnenderweise – das schändliche Naziwort »Konzert­lager« zu eigen, durch das der Schrecken verniedlicht wurde. Sie enthoben sich, aus den ange­deuteten Beweggründen, der Pflicht, den Vorgängen auf den Kern zu kommen, und verschlos­sen ganz bewusst ihre Augen jeder weiteren Kenntnis. Wissen hätte Verpflichtung gebracht, da­her war es doppelt gefährlich. Außerdem erschien es ihnen wohl nicht so ausgemacht, dass alle, die in Konzentrationslager geschickt wurden, zu Unrecht hineinkamen, wie? Prinzipiell, wenn man sich die Sache genau überlegte, immerhin – die Absonderung hatte bei dem und jenem vielleicht doch ihre Berechtigung… Fälle von Justizirrtümern ereigneten sich ja wohl dann und wann, aber dass der Staat, die anerkannte Autorität systematisch Unrecht tun könn­te, das war doch schwer anzunehmen. Möglicherweise handelte es sich da und dort um Über­treibungen oder bei dem, was man hörte, um einzelne Ausschreitungen. Im Ganzen – nein, so schlecht konnte eine deutsche Obrigkeit nicht sein, dass sie die reine Willkür, dazu mit einem System von Marterungen, betrieb. Noch gab es schließlich Richter im Lande! Das individuelle Rechtsempfinden des Deut­schen, der Autoritätstreue hörig, führte in der Tat zu der Denk­paradoxie des Morgensternschen Gedichtes vom Autounfall, den der als Opfer im Kranken­haus liegende Palmström sich selber logisch wegdisputiert, «weil», so schloss er messer­scharf, »nicht sein kann, was nicht sein darf«! Genau diesen Gedanken bringt eine sonst vor­zügliche, an vielen Stellen in erheb­liche Tiefen reichende Denkschrift der Leipziger Juris­ten­fakultät zum Ausdruck, wenn sie bei Erörterung «der Ursachen für die Möglichkeit des Hitler-Regimes in Deutschland» und der «Haltung der deutschen Intel­lektuellen zur national­sozialis­tischen Regierung» im Zusammenhang mit der Frage der Mitschuld an den deutschen Greuel­taten schreibt: »Wenn bei vielen die Behauptung Gehör fand, es handle sich nur um Feindpro­paganda, so beruhte das nicht so sehr auf politischer Gleichgültigkeit als vielmehr darauf, dass viele Deutsche einfach überzeugt waren, es sei un­möglich, dass es sich nicht nur um einzelne Ausschreitungen handle, wie sie bei einer Revolution in allen Ländern auftreten, sondern dass eine deutsche Regierung solche Terrormethoden zum System mache.« Ihre fast bedingungslo­se Autoritätsgläubigkeit machte die Deutschen allmählich geneigt, selbst in der Diktatur die Verhafteten, nicht die Verhaftenden als Verbrecher anzusehen. (Bis sie selbst verhaftet wur­den, dann war recht häufig des Entsetzens und des Jammerns kein Ende, und es dauerte bei diesen »braven, anständigen Deutschen« – die Hitler mit Vorliebe als solche ansprach – in der Regel ziemlich lange, bis sie den Glauben an die Gerechtigkeit »der Behörden« auch in ihrem individuellen Falle verloren hatten.) Welch ein Unterschied, wenn man als Polizeigefangener durch die Tschechoslowakei, um nur eines der anderen Länder zu nennen, oder durch Deutschland transportiert wurde! Dort Sympathie der Bevölkerung von allen Seiten, kleine Hilfen unter erheblicher Gefahr, hier ängstliche Scheu, Ablehnung oder Verachtung. In Wei­mar haben NSV-Schwestern Buchenwalder KL-Gefangenen, die nach einem Luftangriff im Februar 1945 Verschüttete ausgruben und Aufräumungsarbeiten leisteten, selbst einen Schluck Wasser verweigert. Das Städtische Krankenhaus lehnte es ab, schwerverwundete Häftlinge aus den dortigen Gustloff-Werken zur ersten Hilfe aufzunehmen. Noch im Spät­herbst 1945 hörte ein Bekannter von mir in der Bahn eine deutsche Rotkreuz-Schwester, die in Weimar tätig gewesen war, erzählen, wie sie veranlasst werden sollte, einige Zeit nach der Befreiung des Lagers Buchenwald sich dort kranken Gefangenen zu widmen. »Wie komme ich dazu«, meinte sie, »tuberkulöse Verbrecher zu pflegen!« Alle diese Schwächen, Fehler und Unterlassungen hingen mit der deutschen Autoritätssüchtigkeit, dem missbrauchten Rechts­bewusst­sein und dem allgemeinen Mangel an freiheitlichem Mut zusammen. Der Einzelne konnte und wollte mit Aussicht auf Wirkung und Erfolg nichts mehr tun, weil die anderen Einzelnen fehlten, die gleich gehandelt hätten. So wurden die höheren Pflichten der Menschlichkeit und der Bergpredigt, die jedem gegenüber gelten, der unser menschliches Antlitz trägt, allmäh­lich überdeckt von einem angstgeborenen und angstbeherrschten Oppor­tunismus.

Hier der vollständige Text von Eugen Kogon als pdf.

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