Rita Thalmann über Jochen Klepper: „Das von Jugend auf anerzogene blinde Vertrauen auf Gottes Führung und Fügung, auf das »Gute« in seinem Volk, versperrte ihm den Weg zur verantwortungsvollen Tat“

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Stolperstein für Jochen Klepper (Teutonenstraße 23, Berlin-Nikolassee)

Ein sensibles Lebensporträt Jochen Kleppers, das Ambivalenzen und Kritisches benennt, hatte Rita Thalmann (1926-2013) für die Reihe „Gestalten der Kirchengeschichte“ verfasst. Sie selbst war der Schoah durch Flucht aus Frankreich in die Schweiz entkommen, während ihr Vater, der Nürnberger Textilgroßhändler Nathan Thalmann, 1943 in Auschwitz ermordert wurde:

Jochen Klepper

Von Rita R. Thalmann

Joachim (Jochen) Klepper wurde als drittes von fünf Kindern einer Pfarrerfamilie am 22. März 1903 in Beuthen an der Oder geboren. Sein Elternhaus bezeichnet er als »Zentrum geistiger und vaterländischer Anregung für die evangelische Bevöl­kerung der Kleinstadt«. Sein Vater, Wilhelm, der 1891 von der Gemeinde zum Pastor gewählt worden war, stammte aus einem seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesenen Pfarrhaus. Die älteste Urkunde nennt einen Pfarrer Friedrich Klepper 1415 in Niederroßla bei Apolda; der erste schlesische Klepper kommt 1602 aus Thüringen als Pfarrer nach Götzenhayn. Doch erbte Wilhelm Klepper auch von seinem Großvater, der zwölf Jahre als Regimentsschneider im preußi­schen Heer gedient hatte, die robuste Lebensfreude und die Frömmigkeit Herrnhuter Prägung. Letztere hat Jochens Leben und geistige Entwicklung zutiefst geprägt. Die robuste Lebensfreude hingegen hat ihn nur dauerhaft fasziniert, wahrscheinlich als Kompensation einer ängstlich leidenden Natur, die ihm von der Mutter kommt. Von der modisch gekleideten, im Kloster erzogenen Hedwig Weidlich, die erst durch die Heirat zum Protestantismus übertrat und weder dem Inbegriff der »deutschen Mutter« noch dem überkommenen Bild der »deutschen Pfarrfrau« entsprach, erbte Jochen auch, wie sein jüngerer Bruder, der künftige Modezeichner Erhard Klepper, die äußerst große Sensibilität und künstlerische Veranlagung.

Jochens Belastung einer schweren Drüsenoperation und ständige Asthmaanfälle, die ihn vom dritten bis zum vierzehnten Lebensjahr von den Schul- und Straßenerlebnissen anderer Kinder fernhalten, äußert sich in seinen jugendlichen Vorstellungen des Unglücks: krank sein, ope­riert werden, mit den Seinen in Unfrieden leben; Halluzinationen, Trennungs- und Todesäng­ste empfindet er während des Ersten Weltkrieges. Diese führen, wie er selbst angibt, zu »wir­ren, fantastischen Zuständen«, d. h. einer über zehn Jahre währenden Pubertätskrise. Eine Novelle, »Die Nacht in der Schachtel« (Leipziger Volkszeitung, 5. 9.1932), schildert die er­sten Gemütsverwirrungen des Knaben, der ihnen durch den Tod entgehen will. »Nun sterbe ich, dachte Zozo voller Bewunderung, nun bin ich selig und tot.«

Als Schüler in dem evangelischen staatlichen Gymnasium der zwanzig Kilometer vom elter­lichen Heim gelegenen Garnisonsstadt Glogau erfährt er zwischen [258] Oktober 1917 und März 1922 die Zwiespältigkeit seines Wesens in einer gleich­zeitigen Zuneigung zu dem strammen dreißigjährigen Pastorensohn und Franzö­sischlehrer Erich Fromm, dessen Obhut er anvertraut ist, und der zwanzigjähri­gen Arztfrau Brigitte Hacker, der er seine noch geheimen lyrischen Versuche widmet. Zum ersten Mal begegnet ihm auch das für sein Schicksal später so schwerwiegende Problem des Judentums. Während des Kapp-Putsches 1920 kommt der Haß gegen »die Republik der Roten und der Juden« in den rechtsste­henden Kreisen der Stadt, denen auch Oberlehrer Fromm angehört, hemmungs­los zum Ausbruch. Die Haltung des jun­gen Gymnasiasten anläßlich der gegen Fromm eingeleiteten Ermittlung und der darauffol­gen­den Strafversetzung ist nicht bekannt. Festzustellen ist lediglich, daß sein Fortgang von Glo­gau, im März 1922, nach absolvierter Oberprima, zum völligen Bruch mit dem verehrten Mentor führt, dem er die Entdeckung klassischer Kultur, wohl auch das erste Erlebnis einer männlichen Freundschaft verdankt. Bezeichnend ist ferner, daß sich im Nachlaß des Schrift­stellers Zeitungsausschnitte und Aufzeichnungen zur Atmosphäre der Jahre 1919-1921 befin­den, die er für einen schlesischen Heimat­roman mit dem Titel »Hoffnungslosigkeit« gesam­melt hatte.

Wohl dem Wunsch des Vaters entsprach seine darauffolgende Wahl des Theolo­giestudiums. Erstaunlicher ist, daß sich Klepper im Mai 1922 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, einer Hochburg lutherischer Orthodoxie, immatrikuliert. Der bewußte Gegensatz zum Vater, der ausschließlich von pietistischen und liberalen Theologen ausgebildet worden war, offenbart sich, wie er 1938 in seinem Tagebuch notiert, als »ein Unglück nach der na­menlos schweren letzten Schülerzeit« in Glogau. Sein einziger Verkehr dort ist seine Logier­wirtin, eine sechsundvierzigjährige geschiedene Arztfrau und exaltierte Schriftstellerin, Olga Maria (Olly) Budjuhn, die er rückblickend als »eine Art seelischer Vampyr« betrachtete. Die Erlanger Theologieprofessoren dieser Zeit scheinen keinen besonderen Eindruck bei ihm hin­terlassen zu haben.

Entscheidend hingegen beeinflußten ihn die sechs Semester, die er anschließend an der Bres­lauer Fakultät und im Sedlnitzkyschen Johanneum verbrachte. Dort findet er neben Kommili­tonen wie Harald Poelchau, Ilse Jonas und Käthe Staritz, deren Freundschaft sich in diesen schweren Krisenjahren, wie auch später in der Leidenszeit des Dritten Reichs, bewährte, Leh­rer, die ihm wegwei­send zur Seite stehen. Von den zahlreichen Theologen beachtet Klepper zuerst nur die prominentesten, insbesondere den damals linksliberalen Goetheaner, Karl Born­hausen, dem er 1924 das Gedicht »Der Erlöser« widmet, und Erich Seeberg, unter dessen mehr nomineller als faktischer Leitung er seine Lizentiatenarbeit über Gottfried Arnold und August Hermann Francke vorbereitet. Wie weit Leopold Zscharnacks Seminare über Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts sein späteres Interesse an kirchengeschichtlichen Themen ge­weckt haben, bleibt fraglich. Auch bei Ernst Lohmeyer, dessen Vorlesungen über Geschichte des jüdischen Volkes und über synoptische Evangelien er hört, scheint ihn weniger [259] der Kir­chenhistoriker und Neutestamentler anzuziehen als der Verkehr im Hause eines wesens­ver­wandten, kunstliebenden Pastorensohns. Wiederum kennzeichnend für seine Zwiespältig­keit ist die Vater-Sohn- Beziehung, die sich zu gleicher Zeit mit dem nüchternen, wortkargen Konviktinspektor und Syste­matiker Rudolf Hermann fürs Leben anbahnt. Der mehr dem Glanz als der Tiefe nachgehende Theologiestudent empfindet Hermanns eindringliche Ausle­gung Luthers als Gegenpol zu seinem leicht dem Schwärmertum verfallenden Geist. Während sein Bruder Erhard, mit dem er des öfteren in der Breslauer Boheme verkehrt, den Entschluß gefaßt hat, den Schranken der bürgerlichen Ordnung durch das Leben in Berliner Künstler­kreisen zu entkommen, scheut er den Sprung ins Ungewisse solcher Existenz. Er will die Sicherheit der konservativen Weltordnung, die ihm Hermanns Interpretation von Luthers Römerbriefkommentar bietet, und die Genüsse der Künstlerwelt vereinbaren.

Die mit Harald Poelchau 1926/27 geführte Korrespondenz und das 1926 dem Freund gewid­mete Theaterstück »Der eigentliche Mensch« bringen Kleppers Schwanken zwischen einer künstlerischen Existenz mit all ihren gewagten Experimenten und einer Gott ergebenen theo­logischen Laufbahn zum Aus­druck. Hier taucht auch zum ersten Mal die Frage des Selbstmor­des auf, mit der er sich immer wieder auseinandergesetzt hat, mit der Schlußfolgerung, daß dieser von der Kirche als »Sünde wider den heiligen Geist« ausgelegte Schritt für den zutiefst geängstigten Menschen entschuldbar sei. Sein psychischer Zustand hat in der Zwischenzeit den Arzt veranlaßt, ihm jegliche geistige Berufstätigkeit abzu­raten. Schon im Juni 1926 bekennt Klepper in seiner Korrespondenz mit dem Studienfreund, daß er nur seiner Familie zuliebe die theologische Lizentiatenarbeit nicht völlig aufgibt. Da er »Ruhm wie das tägliche Brot braucht«, will er wenigstens den Ruf eines angesehenen Schriftstellers erreichen. Dank der Unter­stützung des Stummfilmstars Asta Nielsen, des Kunsthistorikers Franz Lands­berger sowie der unermüdlichen Schritte bei Zeitungsredaktionen, Verlegern und Bibliotheken ge­lingt es ihm, wenigstens den drückenden Geldsorgen seiner durch die Inflation verarmten Familie zu entgehen. Im April 1927 kann er Rudolf Hermann die Veröffentlichung seiner ersten Manuskripte und seine Anstellung im Evangelischen Preßverband Schlesiens mitteilen.

Die zwischen Volksmission, Volksbildung und modernen Medien angesiedelte Tätigkeit wirkt fordernd und bereichernd auf den jungen Presseredakteur, der seit Mai 1927 ein kleines Büro in Breslau mit Rudolf Mirbt, dem Sohn des Göttinger Kirchenhistorikers, und dem Theologie­studenten Kurt Ihlenfeld teilt. Trotz seines schwarz umrandeten Monokels, das manchen Landpfarrer in Schrecken versetzt, paßt sich der neue Funkkritiker und Mitarbeiter an den von Pfarrer Schwarz herausgegebenen »volksaufklärenden« Flugblättern dem einfäl­tig-konser­vativen Frömmigkeitsstil der damaligen kirchlichen Kreise an. Der Autor des »Eigentlichen Menschen«, der diejenigen bewunderte, »die Paris und Lesbie kennen«, »Morphium nehmen und sich schminken«, nicht Börries von [260] Münchhausen, sondern »Hamlet« für Kunst halten, predigt nun den Leidtragen­den die Ergebenheit in ein von Gott gewolltes Schicksal. Auf diesem Wege kommt Klepper zur »unpolitischen« Kunst, die er als Mitarbeiter des von August Hinderer 1924 neu belebten »Eckart« vertritt. Die dem Evangelischen Preßverband nahestehende Zeitschrift, die alles weniger als avantgardistisch wirkt, setzt es sich immerhin zum Ziel, einerseits dem protestantischen Bildungsbürgertum Zugänge zur Gegenwartslitera­tur zu vermitteln, andererseits gesellschaftlich und weltanschaulich nahestehenden Schrift­stellern ein Forum anzubieten. Im Mittel­feld findet sich allmählich ein Kreis kultivierter Theologen, dichtender Pfarrer, mehr oder weniger dem protestantischen Milieu verhafteter Publizisten und Schriftsteller. Zu ihnen zählen u. a. das sächsische Pfarrerehepaar von Kirch­bach, der schlesische Pfarrersohn Gerhard Menzel, Theologen und Philosophen wie Paul Tillich, Albert Schweitzer, Martin Buber, Max Picard und Rudolf Kaßner, die Schriftsteller August Winnig, Hermann Claudius, Ina Seidel, Ernst Wiechert. Bei solchem Bemühen, mög­lichst verschiedenen Geistern Aufnahme zu gewähren, bleibt allerdings deren kritische Sich­tung auf der Strecke. Die Linie vom »unverweslichen Erbe« und vom »inneren Reich«, wie sie Robert Minder in seinem »Bild des deutschen Pfarrhauses in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Gottfried Benn« (1962, 60) bezeichnet hat, führt bei Klepper, der noch kurz zuvor den Charme der Dekadenz rühmte, dazu, das Lob der »idealen Sittlich­keit« und »gläu­bigen Übersinnlichkeit« des völkischen Schriftstellers Hanns Johst anzustimmen. Ebenso widerspruchsvoll wirkt sein damaliger Eintritt in die Bewegung der Religiösen Sozialisten, der automatisch die Zugehörigkeit zur SPD bedingt. Der Wunsch, nach all den Jahren der Unsicherheit als angesehener Schriftsteller über ein sicheres Einkommen zu verfügen, treibt den »unpoliti­schen« Klepper zu den politischen Kräften, die um 1928 Einfluß in seinem Bereich, d. h. in Funk, Presse und Verlagswesen besitzen. Fünf Jahre später betrachtet er es als Irrtum, die bürgerliche Einordnung auf dem Weg der Politik gesucht zu haben. Er läßt nur noch sein »Bedürfnis nach Klarheit«, seine »Ablehnung aller Extravaganz und Isolierung« (Tagebuch), die ihn dazu beweg­ten, gelten.

Einen bedeutenden Wandel in dieser Hinsicht bringt im Juni 1929 der Einzug in das im Bres­lauer Residenzviertel liegende Haus von Hanni Gerstel-Stein. Der neue Untermieter fühlt sich gleich geborgen in dem gepflegten Heim, wo die elegante, welterfahrene Erbin einer jüdi­schen Modedynastie mit ihren sieben und neunjährigen Töchtern, Köchin und Dienstmädchen als Witwe lebt. Ihr verdankt er zweifellos die Anregung, sich hauptsächlich dem ihm am nächsten liegenden Themenbereich zuzuwenden. Fast alle Artikel, die er zwischen 1929 und 1931 in verschiedenen Publikationen veröffentlicht, behandeln Probleme des Theaters, der Varietes, der Mode, der Konzeption und Kritik des Rund­funks, wobei jedoch immer wieder der metaphysische Sinn der Erwählung und des Verworfenseins der Menschen im Mittelpunkt steht: Ein Thema, das auch [261] den zwischen 1927 und 1929 verfaßten und nie veröffent­lichten Moderoman »Die große Directrice« beherrscht.

Mit der Krise anfangs der dreißiger Jahre steht der Schriftsteller vor einer neuen Periode wirt­schaftlicher und seelischer Belastungen. Die Krankheit des Vaters, der teuere Pflege braucht, und die seit der Inflation prekäre Lage der Familie, die Abneigung der Eltern, ihren Sohn mit einer dreizehn Jahre älteren jüdischen Witwe und deren Kindern leben zu sehen, die wachsen­den Arbeitsschwierigkei­ten in Breslau und die Angriffe der deutschnationalen und völkischen Presse gegen den »sozialdemokratischen«, »verjudeten« Literaturkritiker veranlassen ihn, eine neue Heimat in Berlin zu suchen. Nach der standesamtlichen Eheschlie­ßung am 28. März 1931 mit Hanni, die er im Tagebuch als »Rettung von zwei Vereinsamten« bezeichnet, und einer Reise nach Paris, wo das Ehepaar die berühmten Modeateliers von Molineux, Patou und Lanvin besucht, siedeln Kleppers in die Hauptstadt über mit der Absicht, dort neue Schöp­fungs- und Einkunftsmöglichkeiten zu finden.

In der erlesen gestalteten neuen Wohnung des Villenvororts Südende verfolgt der Schriftstel­ler mit wachsender Skepsis die Verkündung der »christlich-nationalen Kultur« des feudalen Kabinetts von Papen nach dem Sturz des Kanzlers Brüning, in dem er die »letzte Stütze poli­tischen Vertrauens« sah. Die Tendenzwende ist allenthalben spürbar und der drei Jahre zuvor gesuchte Anschluß an sozialdemo­kratische Kreise erweist sich als unhaltbar, wenn er die in Aussicht stehende Anstellung im Berliner Funkhaus bekommen will. Daher die im Herbst 1932 erfolgenden Austritte aus der SPD, dem Reichsverband der deutschen Presse und dem Schutzverband deutscher Schriftsteller. Daher auch das lebensnotwendige Anpassen an die neue Situation, der Rückzug auf die Verbindung mit Hanni und den Glauben an seine Aufga­be als Schriftsteller und als Christ. Der ersehnte Assistentenposten in der »Deutschen Welle« und die Veröffentlichung seiner schlesischen Heimatnovelle »Der Kahn der fröhlichen Leute« scheinen den Wunsch, »wenigstens so dazustehen wie ein höherer Beamter – preußisches Ideal deutscher Dichter –« (Tagebuch) zu erfüllen. Doch bedroht die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler diese hoffnungsvollen Perspektiven. In der weitver­breiteten Begeisterung über den »nationalen Aufbruch« ahnt Klepper die größte Krise und Enderscheinung des deutschen Nationalismus. Obwohl er durchaus positiv an der neuen Staatsführung die »verwaltungs­mäßige Gleichschaltung der Länder bei stärkerer Berücksichtigung alles Bodenständigen und Landsmann­schaftlichen« (Tagebuch) wertet, trennt ihn unüberbrückbar davon die Gleich­setzung von Staat und Kirche sowie der täglich anwachsende Antisemitismus. Dabei empfin­det er sich dem Judentum gegenüber »weder als Antisemit noch als Philosemit«. Gewiß fühlt er sich mit dem Judentum durch seine übrigens äußerst assimilierte Frau und deren Verwand­ten verbunden. Doch lebt vor allem in ihm die christliche Überzeugung, daß die Heilsge­schichte der Juden erst der Weltge­schichte Sinn gibt. Daher leidet er besonders unter dem Schweigen seiner Kirche [262] in diesen Tagen der Verfolgung und des Hasses. »In mir«, ver­traut er seinem Tagebuch am 22. 5. 1933, »wird in diesen Tagen etwas geboren, was auf das Zentrum meines Lebens stößt.«

Eine Denunziation als ehemaliges Mitglied der SPD mit jüdischer Frau bewirkt seine Entlas­sung aus dem Rundfunk. Verzweiflung, unerbittliche Selbstkritik, das Schuldgefühl seines Bruches mit dem Elternhaus, der unerfüllte Wunsch nach einem eigenen Kind vertiefen das Gefühl eines unfruchtbaren Daseins und lassen den Gedanken an den freiwilligen Tod, den er mit Hanni bespricht, wieder aufkommen. Das zur eigenen Therapie geführte Tagebuch und die Bibel helfen zur Überwindung der Depression. Gedichte aus diesen Wochen wie das »Bau­erngebet«, »Fischlegende 1 und 2«, »Petri Ring« sind von elementaren Gefühlen ge­prägt. Dank seinem ehemaligen Chef im Breslauer Rundfunk, Harald Braun, findet er eine neue Anstellung bei der Funkzeitschrift »Sieben Stern« im Ullstein Verlag. Das Bedürfnis, sich und den Seinen neue Wurzeln zu finden, führt zu Entdeckungsreisen mit seiner Frau durch die Berliner Umgebung, die sich allmählich in seinem Geist zur Absicht zusammenbal­len, das Leben Friedrich Wilhelms I. darzustellen. Den Mut und Ansporn, sich zum protestan­tischen Deuter der preußischen Monarchie zu erheben, schöpft Klepper aus dem Beispiel des katholischen Autors der Hohenzollern, dem gleichaltrigen Reinhold Schneider, den er im April 1933 anläßlich einer gemeinsamen Funksendung über den Soldatenkönig als Schutz­herrn der vertriebenen Protestanten (»Dienst an der Erde«) kennengelernt hatte. Anders als die meisten Historiker, die Friedrich Wilhelm I. als bigotten und primitiven Herrscher darstellen, erwächst für Klepper in ihm der Prototyp des Gottesknechts und Vaters, der die Anarchie und die Hybris durch die gottgewollte Ordnung der Monarchie bekämpft. Das Primat des lutheri­schen »sola fide« als Rechtfertigung der Macht, das Klepper im Laufe des Jahres 1935 zum Leitmotiv des zweiten Teils seines »Vater« erwählt, erscheint als Gegensatz zu den Machtha­bern des Dritten Reichs: der Respekt vor der gottgewollten Ordnung des Staates hat dort seine Grenzen, wo die Freiheit des Glaubens angetastet wird. Aber seine konservative Auffassung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre erlaubt keinen Gedanken an eine Opposition gegen die legale Staatsführung. Bei einer solchen Trennung von politischer und religiöser Sphäre – Klepper erwähnt stets das Dilemma zwischen Glauben und Ethik – ist es nicht zu verwundern, wenn er sich im März 1934 bereit findet, den Loyalitätsre­vers gegenüber dem Dritten Reich zu unter­schreiben, der ihm allein die Publika­tionen seiner Schriften in Deutschland erlaubt. Auch dem »Eckart«, der nun den Untertitel »Dichtung, Volkstum, Glaube« trägt und sich von den »un­tragbaren »Mitarbeitern getrennt hat, bleibt er treu, zumal die von seinem einstigen Bres­lauer Kollegen Kurt Ihlenfeld geleitete Zeitschrift mit neuen christlichen Mitarbeitern wie Rudolf Alexander Schröder, Otto von Taube und Reinhold Schneider die christliche Kultur in den Vordergrund stellt. Der Hang des Kreises zu einer »inneren Linie« erklärt eine gewisse Ab­neigung gegen den »aktivisti-[263]schen« Flügel der Bekennenden Kirche, obwohl Klep­per Niemöllers Nachfolger in Dahlem, Helmut Gollwitzer, nach dessen Verhaftung persönlich schätzt. Für den Schriftsteller gibt es nur zwei Möglichkeiten: »die Konzentration auf das jeweilige Buch«, »die Beugung unter die Anrede Gottes, die alle sichtbare Ordnung auflöst« (Tagebuch).

Angeregt durch das neue Heim, das sie sich in Nikolassee bauen lassen und die Lektüre von Rudolf Thieles Lutherbuch, erwägt er zum ersten Mal das Projekt einer »Katharina von Bora«-Biographie als Würdigung des »ersten deutschen Pfarrhauses«, die er nur als Fragment hinterlassen hat. Am 18. September 1935, nachdem ihm Ullstein gekündigt hat und der Aus­schluß aus der Reichsschrifttumskammer droht, beendet er die erste Fassung des »Vater«. Reinhold Schnei­der zuliebe erklärt er sich bereit, an den monarchistischen »Weißen Blättern« von Karl Ludwig von Guttenberg mitzuarbeiten, ohne deren politische Erwägungen zu teilen. Das Königtum bleibt für ihn ein rein religiöses Symbol, das in den »Königsgedichten«, die nicht veröffentlicht werden können, zum Ausdruck kommt. Ein kleiner Band über Klaus Harms erscheint hingegen, aber anonym, im Eckart Verlag. Auch die ein Jahr später anläßlich der Olympiade verfaßten »Olympischen Sonette« begnügen sich, schwermütig die eindrück­lichsten Sta­tionen der preußischen Größe zu durchschreiten.

Nachdem »Der Vater« bereits im Jahre seiner Publikation (1937) seine Leser in bürgerlich-konservativen Kreisen, aber auch bei Prominenten im Heer und in der höchsten Staatsführung gefunden hat, ist dem erfolgreichen Schriftsteller die offizielle Möglichkeit zum weiteren Schaffen vorläufig, aber unter Bewachung des Propagandaministeriums, gesichert. Daher beginnt für ihn die neue Arbeit am »Katharina von Bora«-Projekt mit Studienfahrten an alle ihre Lebensstatio­nen und mit Quellenforschung in der Berliner Staatsbibliothek sowie im Dahlemer Geheimen Staatsarchiv. Die Teilnahme an der Berliner Festwoche deutscher Kir­chenmusik des Eckart-Kreises erlaubt ihm, seine Geistlichen Lieder und Gedichte als Heft einem breiteren Publikum vorzulegen, obwohl ein am 29. Oktober 1937 über Joh. 15,3 ver­faßtes Gedicht (in »Ziel der Zeit«) auf den Schritt fort von den Menschen weist.

Das neue Jahr 1938 beginnt mit zwei Vorhaben zum Friedrich Wilhelm I. Gedenkjahr: eine Ausgabe von Briefen und Bildern des Soldatenkönigs (»In Tormentis pinxit«) und eine Zu­sammenstellung von Unterhaltungen »Der König und die Stillen im Lande« für die Eckart Bücherei (1938). Fast quälend empfindet er das gesellschaftliche Zusammensein in dem Atelier des Malers Leo von Koenig mit dem gefeierten Bildhauer Arno Brecker, den Schrift­stellern August Winnig und Rudolf Alexander Schröder sowie der Kronprinzessin. Doch heißt es gewisse Kontakte zur Erhaltung der Schaffensmöglichkeiten pflegen. Die »Weißen Blätter« bringen seine Gedichte, die »Deutsche Zukunft« Bücherbesprechungen, die »Neue Rund­schau« einen Aufsatz über neue christli­che Dichtung. Wilhelm Mulert, von der »Christlichen Welt«, der wie sein Vor-[264]gänger Martin Rade zu den begeisterten Lesern des »Vater« gehört, läßt ihm aus­richten, »bei ihm könne er schreiben, und wenn auch seine Frau von zehn Ammoniterkönigen abstamme«. Zu dieser Zeit kommt auch »Das göttliche Wort und der menschliche Lobgesang« für den von Ihlenfeld herausgegebenen Sam­melband »Das Buch der Christenheit« zustande. Bei all seinen Mängeln betrach­tet Klepper diesen Beitrag als sein vor­läufiges Testament. Die Notwendigkeit der freien Schöpferkraft, sich vor der Bibel als »letzter Aussage« zu beugen, die darin zum Ausdruck kommt, widerruft er anderthalb Jahre später, als er erkennt: »Wir haben etwas preisgegeben, was der Glaube gar nicht von uns fordert.« (Tage­buch) Nach der Sudetenkrise vom Herbst 1938 fühlt er sich dankbar für das »Friedenswerk« (die Münchener Abkommen) und die »Befreiung des Sudeten­gebiets« mit dem Kirchenvolk verbunden. Um so schmerzlicher berührt ihn die Gleichgültigkeit der deutschen Glaubensge­nossen vor der wachsenden Verfol­gung der Juden. Indessen kennt er für sie kein anderes Heil als die Bekehrung zum Christentum und begreift nicht ihre »Emigrationspsychose«. Auch die ältere Stieftochter Brigitte, in deren Klasse polnisch gebürtige Juden zur Auswei­sung mit den Eltern abgeholt wurden, will nun nach England auswandern. Zu den quälenden Nachrichten neuer Ausweisungen der Juden aus dem Sudetenge­biet und dem »Aufflackern der Volkswut« im Pogrom der »Kristallnacht« vom 9. zum 10. November (Rita Thalmann-Emmanuel Feiner­mann, The Crystal Night. London-New York 1974) kommt noch die Angst um die 25 000 jüdischen Männer – darunter Verwandte seiner Frau und Freunde, wie der Kunsthistoriker Landesberger und der Philologe Werner Milch, – die als Entgeltung für den Mord des deut­schen Botschaftssekretär vom Rath in Paris verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald, Oranienburg transportiert worden sind. Am 18. Dezember erfüllt sich dennoch Kleppers sehnlichster Wunsch mit Hannis Taufe und der anschließenden Trauung in der Mariendorfer Kirche. Der Anfang des Krieges im September 1939 erweckt bei Klepper Widerwillen gegen das herrschende Regime, aber auch fromme Fügsamkeit in »Gottes Wil­le«. Der aus allen Schichten geäußerte Dank für den Trost des »Kyrie« (Geistliche Lieder) in diesen schweren Zeiten veranlaßt ihn, trotz seines Bedürfnisses nach Rückzug an einem Pro­jekt des Eckart Verlages für Feldseelsorgematerial teilzu­nehmen. Nach der als Folge der »Kristallnacht« den Juden auferlegten Kontribu­tion von 1 Milliarde Mark – Hanni muß auch dazu beitragen – sollen sie nun nach Enteignung ihres restlichen Vermögens aus Deutschland ausgewiesen und zur Zwangsarbeit in die Lubliner Gegend verschickt werden. Das Leben des Schriftstellers verläuft in merkwürdig gegensätzlichen Linien: einmal singt eine Studenten­kurrende seine Adventslieder im neuerbauten Nikolasseer Haus. Dann besucht ihn der Staats­schauspieler Paul Bildt oder der Kirchenhistoriker H. W. Beyer. Bekannte bringen Kleider- und Lebensmittelcoupons für Frau und Stieftochter, die als Jüdinnen keine Kleiderzuteilung erhalten und gekürzte Lebensmittelrationen. Beide dürfen die Geschäfte in Nikolassee, wo Kleppers [265/266] Roman und Gedichte bei öffentlichen Abenden gelesen werden, nur noch zu besonderen Einkaufszeiten betreten. Und immer wieder stellt sich die Frage: wie lange noch dürfen sie Zimmer und Christbaum schmücken, Lieder am Klavier üben, Gäste empfan­gen, Feste feiern, gemeinsam zur Kirche gehen? Trotz der erschreckenden Berichte von Freunden über die Lage in Polen vertraut Klepper auf das »großartige Heer«, dessen Leitung nun die Lektüre des »Vater« emp­fiehlt, indes er der Bekennenden Kirche vorwirft, den Blick für Volk und Gemeinde verloren zu haben. Anläßlich eines Pfarrerempfangs – eine Erinne­rung an das Beuthener Pfarrhaus – rät die ehemalige Kommilitonin, Pfarrvikarin Käthe Sta­ritz, daß Hanni und Reni unverzüglich Pastor Grüber, den Leiter der Berliner Hilfstelle für Juden­christen, für ihre Auswanderung aufsuchen. Sie weiß aus ihrer Erfahrung in der Bres­lauer Hilfstelle, daß die Gerüchte stimmen: 1200 Juden aus Stettin – darunter ganz alte Leute – sind bereits mit zehn Stunden Vorbereitungsfrist, zehn Mark Taschengeld und einem Hand­koffer in die Lubli­ner Gegend abtransportiert worden.

Am Ostermontag 1940, anläßlich eines Besuches bei dem Nikolasseer Hilfspre­diger, schweift Kleppers Blick nachdenklich in der Dämmerung auf der Reh­wiese, der Kirche und dem Fried­hof: »Gebe Gott, daß wir auf diesem Friedhof einmal ruhen dürfen.« Paradoxerweise gilt das Haus des Schriftstellers immer noch »als eines der schönsten, stimmungsvollsten Dichterhäu­ser ganz Deutsch­lands«; immer noch wenden sich Theologen, Diakonissen, Pfarrer mit Ein­ladun­gen zu Vorträgen und Tagungen an den Autor des »Vater« und des »Kyrie«. Letzteres wird durch Musiker vertont, manche «Geistlichen Lieder« sind bereits, wie ihm der schweizer Kirchenmusiker Tappolet mitteilt, in das Gesangbuch seiner Kirche aufgenommen. So schwer ihm jede Absage fällt, so deutlich fühlt Klepper, daß ihm völlige Zurückhaltung auferlegt ist. Doch will er die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich die Hüter des christlichen und preußi­schen Erbes letzten Endes behaupten werden. Gerührt hört er in der Steglitzer Kirche die Auf­führung seines »Liedes zum Heldengedenktag« (in »Ziel der Zeit«), das die immer wieder von der Kriegstheologie benutzte Aussage von Joh. 15,13 zur Apotheose des Soldatentodes ent­wickelt. Nur die Sorge, daß sein Schaffen von der NSDAP ausgenützt werden könnte, läßt ihn von dem Plan einer Patrioti­schen Kantate und einer filmischen Würdigung Preußens Abstand nehmen. Die Ansicht, daß der deutsche Sieg über die liberal-demokratischen Länder Europas einem göttlichen Gericht über die Völker gleichkomme und der Restauration eines christli­chen Europas den Weg bereiten könne, teilt er in diesen Tagen mit führenden Persönlichkei­ten des Widerstandes wie Goerdeler, ja sogar Helmuth von Moltke oder Dietrich Bonhoeffer. Trotz der Vorbehalte Reinhold Schnei­ders, Helmut Gollwitzers und noch mehr seiner eigenen Frau will er sich der bevorstehenden Einberufung nicht entziehen. »Dies bedeutet nun etwas für das ganze Leben. Dies muß der Mann erfahren haben. Und nicht den Krieg als Zivilist erleben.« (Tagebuch) [266]

Kleppers Einberufung ist für den 3. Dezember 1940 festgelegt. Nach der Ausbil­dung in Fürstenwalde erfolgt Ende Januar 1941 die Abfahrt nach Ostrolenka als Fahrer vom Sattel beim I. R. 203. Zwei Monate später wird er zum Divisions­nachschub nach Muschaken-Modelkau (Masuren) geschickt. Während des Vormarschs der Division durch den Balkan ist ihm die Funktion des Quartiermei­sters und Dolmetschers übertragen. Während eines kurzen Urlaubs im Mai 1941, anläßlich des Ablebens seiner Mutter, erfährt er, daß »Der Vater« trotz Papier­knappheit im 85. Tausend erscheinen soll. Am 15. Mai kehrt er zu seiner jetzt bei Botosani (Rumänien) stationierten Division zurück. In seinem »am Heer hän­gen« spielt neben der Überzeugung, am Geschick des Vaterlands teilzunehmen und Frau und Stieftochter schüt­zen zu können, auch das intensive Gruppener­lebnis, das ihm in der Jugend fehlte, eine beträchtliche Rolle. Die als Stilproben zu seinem Gesuch, in eine Propaganda-Kompanie aufgenommen zu werden, und als Beitrag für den »Eckart« verfaßten Stücke »Die Wolke«, »die grüne Maske«, »Die Teestube«, »die Ströme« (in »Überwindung – Kriegstagebuch«) bezeugen das völlige Aufgehen im »Wir« der Erlebnis- und Schicksalsgemein­schaft an der Front. Alle kritischen Fragen nach Recht und Unrecht der Kriegsführung sowie das eigene Urteil über die Hybris der Staatsführung sind hier völlig verdrängt. Infolge der Invasion in die Sowjetunion am 22. Juni überschreitet seine Division die russische Grenze in der Nacht vom 1. zum 2. Juli. Die Sorgen um Hanni und Reni verringern nicht seinen Wunsch, den Kampf an der Front zu erleben. Ernüchternd wirkt erst der ihm am 22. Septem­ber 1941 erteilte Bescheid, er sei unverzüglich als »wehrunwürdig«, weil »jüdisch versippt«, zu entlassen. Am 8. Oktober erreicht er das Nikolasseer Heim: für Hanni und Reni bedeutet seine Entlassung die Freude, ihn wiederzufinden; für ihn wächst das Gefühl, einem Abgrund entgegenzugehen, angesichts dessen er sich an die Bibelworte klammert. Sein »tragisches Idyll« ist nun zum »Ring des Schreckens« geworden. Nach der Konfiskation kirchlicher Einrichtungen, der Tötung »le­bensunwerten Lebens« und angesichts der radikalen Lösung der Judenfrage erwacht in Klep­per wieder der Wunsch nach Selbstmord. Fast ohne Hoffnung unternimmt er Schritte bei den Behörden, damit wenigstens Reni in die Schweiz oder nach Schweden auswandern kann. Die Stieftochter muß nun als Zwangsarbeiterin bei Siemens arbeiten, doch droht ihr die Deporta­tion. Am 22. Oktober wird der Schriftsteller vom Innenminister Frick, der den »Vater« oft verschenkt, empfangen. Der Minister erklärt sich bereit, Renis Angelegenheit Hitler vorzu­tragen, sobald Kleppers Sondergenehmigung für die Wiederauf­nahme in das Heer vorliegt. Was die Deportation, »hinter der der entschiedene Wunsch des Führers steht«, betreffe, so bezwecke sie die Wohnungsknappheit zu beheben, bedrohe also keineswegs das in seinem Haus lebende Mädchen. Dennoch erklärt Frick sich bereit, zu Kleppers Beruhigung einen »Schutzbrief« für sie auszustellen. Inzwischen häufen sich die Selbstmorde der bedrohten Juden dermaßen, daß ihnen Scheren, Nagelfeilen usw. in den Sammelsynagogen [267] abge­nom­men werden. Briefe Kleppers an Verwandte in Wien kommen mit dem Vermerk zurück: »nach Polen gezogen«. Der Selbstmord des Schauspielers Joachim Gottschalk mit seiner jüdi­schen Frau und ihrem Sohn – nachdem ihn Goebbels vor die Alternative Beruf oder Ehe ge­stellt und versichert hatte, er könne seine Frau nicht vor der Deportation bewahren – beein­druckt ihn zutiefst. Die Kontakte mit Schweden nach einer definitiven Absage der Schweiz für Renis Auswanderung, die Erörterung des Testaments und der letzten Verfügun­gen im Falle des Selbstmordes lassen weder Zeit noch Kraft für literarisches Schaffen. Ein befreunde­ter Arzt verschreibt ihm Veronal aufgrund seiner Schlaflosigkeit: »Veronal und Gas, Gott­schalks ruhiges Ende …« (Tagebuch)

Am 1. Dezember überträgt der Rundfunk die Kriegserklärung Amerikas, die sofort eine neue Hetzkampagne gegen das »satanische Weltjudentum« zur Folge hat. Nun werden auch die­jenigen deportiert, die aus Rücksicht auf den arischen Partner oder als Kinder getrennt von ihrer Familie wohnten. In seiner Verzweif­lung sucht Klepper eine Hellseherin auf: »Aber­glaube, Meineid, Selbstmord – Zeichen der Ausweglosigkeit …« (Tagebuch) Problematisch sind Klepper die vielen Konversionen zum Katholizismus, die nun auch im Eckart-Kreis geschehen. In Romano Guardini, den er anläßlich eines Empfangs bei dem befreunde­ten ehemaligen Generaldirektor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kennenlernt, sieht er eine Per­sönlichkeit, die wie kaum eine andere in Berlin die Ausstrah­lungskraft der katholischen Kir­che verkörpert. Dabei taucht für den protestanti­schen Schriftsteller die bange Frage auf: »Ist was ich nicht preisgeben kann, nun wirklich biblisch bestimmt – in tieferer Auslegung als der Katholizismus sie besitzt – oder aber etwa ›nordisch-deutsch‹?« (Tagebuch) Doch ist er mit Guardini darin einig, daß jeder politische Impetus erst ausscheiden muß, ehe eine wahre Aus­einandersetzung zwischen den christlichen Konfessionen erfolgen kann. Kleppers passiver Grundzug geht so weit, daß er sogar den »Aktivismus« von Käthe Staritz, die wie Pastor Grü­ber wegen der Judenchristenhilfe von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager ge­bracht wurde, verurteilt. Seine Ablehnung jeglicher Opposition, die er als Eingreifen in Gottes Führung und Fügung auslegt, erreicht hier einen Höhepunkt, denn beide übten ledig­lich die christliche Tugend der Nächstenliebe, die er so oft und bitter angesichts der Judenverfolgung in der Kirche vermißt hatte.

Nach Monaten der lähmenden Ungewißheit telefoniert am 5. Dezember 1942 der schwedische Legationsrat, sein Land habe Renis Einreise bewilligt. Doch während der daraufhin von Innenminister Frick gewährten Audienz erweist sich, daß die deutsche Ausreise nur noch vom gefürchteten Sicherheitsdienst erteilt werden kann. Ferner teilt ihm der Minister mit, Bestre­bungen seien im Gang, bei Mischehen die Zwangsscheidung durchzuführen und gleich da­nach die Deportation des jüdischen Teils vorzunehmen. Einen Schutzbrief könne es nicht mehr geben, nur noch seine Fürsprache, damit Eichmann Renis Ausreise genehmigt. Am 9. Dezember erfolgt die Vorladung bei Eichmann, der eine [268] endgültige Antwort für den nächsten Tag verspricht, keinerlei Aussicht für Hannis Zukunft läßt und dem Schriftsteller strenges Schweigegebot auferlegt. Am Nachmittag des 10. Dezember erteilt Eichmann eine negative Antwort. Auf der letzten Seite des im schwarzen Lackeinband gebundenen Tage­buchheftes, das er am selben Abend seiner jüngeren Schwester nach dem Essen anvertraut, vermerkt er: »Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heute nacht gemein­sam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.« Die Nikolasseer Gemeinde gestattete eine Trauerfeier in der kleinen Begräbnis­kapelle und die Beerdigung auf dem Friedhof an der Rehwiese, wo der Dichter mit den Seinen die letzte Ruhe finden wollte. Er hat nicht einmal das 40. Lebens­jahr erreicht.

Seit Kriegsende haben Kleppers Werke – insbesondere die »Geistlichen Lieder« (Kyrie) und das Tagebuch, in einer gekürzten Fassung – hohe Auflagen erreicht. Neben der pietätvollen Aussage von Freunden und Zeugen erhoben sich Stim­men, die auf das »Opfer der Dämonie« und den »standhaften Glauben des überzeugten Christen« hinwiesen, während andere seinen »blinden Gehorsam« verurteilten. In Wirklichkeit zeugt Kleppers Sonderweg von den Über­zeugun­gen des damaligen Bürgertums sowie dem Einfluß einer »Theologie« der »gott­gewoll­ten« Bindungen an Staat, Volk und »Rasse«, die den Geist seiner Urteils­kraft beraubten. Wie er selber in seinem Tagebuch bekennt, hätte er, als es noch Zeit war, mit seiner Familie einen Staat verlassen können, der seit 1933 die elementarsten Rechte mit Füßen trat und ihm wegen seiner jüdischen Frau eine normale Existenzmöglichkeit absprach. Das von Jugend auf aner­zogene blinde Vertrauen auf Gottes Führung und Fügung, auf das »Gute« in seinem Volk, versperrte ihm den Weg zur verantwortungsvollen Tat. Sein Lebensweg und Werk bleiben ein eindrucksvolles Mahnmal für künftige Generationen.

Werke
Der Nachlaß des Schriftstellers befindet sich im Marbacher Archiv.
Der Kahn der fröhlichen Leute. Stuttgart 1933.
Der Vater. Roman eines Königs. Stuttgart 1937.
Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942. Hg. von H. Klepper. Stuttgart 1956.
Überwindung. Tagebücher und Aufzeichnungen aus dem Kriege. Hg. von H. Klepper. Stutt­gart 1958.
Jochen Klepper, Gast und Fremdling. Briefe an Freunde. Hg. von E.-J. Meschke. Witten- Berlin 1960.
Nachspiel. Aufsätze des Erzählers. Witten-Berlin 1960.
Kyrie. Geistliche Lieder. Berlin 1938.
Ziel der Zeit. Die Gesammelten Gedichte. Witten-Berlin 1967.
Jochen Klepper. Briefwechsel 1925-1942. Hg. von E. G. Riemschneider. Stuttgart 1973.

Darstellungen
Ihlenfeld, K.: Freundschaft mit Jochen Klepper. Witten-Berlin 1958.
Jonas, I.: Jochen Klepper. Dichter und Zeuge. 2. Aufl. Berlin (DDR) 1968 (von einer ehemali­gen Breslauer Kommilitonin).
Riemschneider, E. G.: Der Fall Klepper. Eine Dokumentation. Stuttgart 1975 (über Kleppers Beziehungen mit der Reichsschrifttumskammer).
Thalmann, R. R: Jochen Klepper. Ein Leben zwischen Idyllen und Katastrophen. München 1977.
Wentorf, R.: Nicht klagen sollst du: loben. Jochen Klepper in memoriam. Gießen-Basel 1967.

Quelle: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 10,2: Die neueste Zeit IV, Stuttgart: Kohlhammer 1986, S. 257-269.

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