Fritz Bauers Schlussplädoyer im „Remer-Prozess“ von 1952: „Ein Unrechtsstaat, der täglich zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr gemäß § 53 StGB. Jedermann war berechtigt, den bedrohten Juden oder den bedrohten Intelli­genzschichten des Auslandes Nothilfe zu gewähren. Insoweit sind alle Widerstandshandlun­gen durch den § 53 StGB gedeckt.“

Für die moralisch-rechtliche Beurteilung des Widerstandes vom 20. Juli 1944 in der Bundesrepublik hat Fritz Bauer im Remer-Prozess im März 1952 vor dem Landgericht Braunschweig Maßgebliches in Sachen Widerstandsrecht und Eidbindung bei einem Unrechtsregime gesagt. In seiner Eigenschaft als Generalstaatsanwalt hatte er damals auch die Theologieprofessoren Hans Joachim Iwand und Ernst Wolf als Gutachter gewonnen (und damit in der lutherischen politischen Ethik den Diskurs über ein Widerstandsrecht befördert). Hier sein Schlussplädoyer im „Remer-Prozess“:

Eine Grenze hat Tyrannenmacht. Plädoyer im Remer-Prozess

Von Fritz Bauer

Meine Herren Richter!

Es ist nicht die Absicht der Staatsanwaltschaft, dem seinerzeitigen Major Remer deswegen den Prozess zu machen, weil er sich am 20. Juli 1944 dem Widerstandskampf versagt hat. Es ist überhaupt nicht die Absicht der Staatsanwaltschaft, denjenigen einen Vorwurf zu machen, die sich am 20. Juli 1944 aus Gründen gleich welcher Art, oft sicher aus ethisch beachtlichen Gründen nicht um die Fahne der Freiheit und Menschenwürde geschart haben.

Zur Aburteilung steht, daß das Vorstandsmitglied der SRP. Remer seit Monaten durch Nieder­sachsen zog und die Widerstandskämpfer des 20. Juli verleumdete und beschimpfte, indem er sie Hoch- und Landesverräter hieß.

Was am 20. Juli 1944 vielen noch dunkel vorgekommen sein mag, ist heute durchschaubar, was damals verständlicher Irrtum gewesen sein mag, ist heute unbelehrbarer Trotz, böser Wille und bewußte Sabotage unserer Demokratie.

Das Ziel dieses Prozesses ist, nicht Zwietracht zu säen, sondern Brücken zu schlagen und zu versöhnen, freilich nicht durch ein faules Kompromiss, sondern durch die Klärung der Frage: „waren die Männer des 20. Juli Hoch- und Landesverräter?“ durch ein demokratisches, unab­hängiges Gericht. Die Bundesrepublik und das Land Niedersachsen bringen dieser Strafkam­mer in Braunschweig das Vertrauen entgegen, unabhängig und gerecht die Frage zu entschei­den.

Die Frage, ob die Männer des Widerstandskampfes vom 20. Juli Hoch- und Landesverräter waren, ist schon einmal entschieden worden. Sie wurde unter Mißbrauch strafprozessual er Formen vom Volksgerichtshof in Berlin durch Freisler bejaht, bis gestatten Sie das Wort, die „Vorsehung“ Freisler während seiner Scharfrichtertätigkeit erschlug.

Heute geht es um eine „Wiederaufnahme“ dieses Verfahrens. Es ist Aufgabe der Staatsanwalt­schaft, Aufgabe der Richter des demokratischen Rechtsstaates, die Helden des 20. Juli ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung zu rehabilitieren, auf Grund der Tatsachen, die uns heute bekannt sind, auf Grund des damals und heute, des ewig geltenden Rechts. Sie sollen, meine Herren Richter, entscheiden, nicht aus politischen Gründen und nicht irgendeiner Staatsräson zuliebe. Entscheiden Sie, meine Herren Richter, auf Grund des Rechts.

Die Staatsanwaltschaft beantragt, den Angeklagten zu verurteilen wegen eines Vergehens der üblen Nachrede und wegen eines Vergehens der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbe­ner im Sinne der §§ 186 und 189 StGB.

In rechtlicher Beziehung sage ich hierzu folgendes: Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hat diese Verhandlung den klaren Beweis erbracht, daß die Behauptung, die Widerstands­kämpfer seien Hoch­ und Landesverräter gewesen, unwahr ist. Mögen einzelne mehr oder minder bedeutende Vorwürfe für das Gericht nicht nachgewiesenermaßen unwahr sein, so sind sie jedenfalls nicht erweislich wahr und der Angeklagte, der die Widerstandskämpfer beschimpft hat, trägt insoweit nachdem Staatsanwaltschaft und Gericht das zur Aufklärung Erforderliche getan haben, das Risiko einer unklaren Beweislage.

Meine Herren Richter, es ist meine Absicht, rein juristisch zur Frage Stellung zu nehmen, ob die Widerstandskämpfer Hoch- und Landesverrat begangen haben.

Ich beginne mit der Frage des Landesverrats.

Ich könnte mir die Sache einfach machen und kurzerhand auf die Gutachten der drei theologi­schen Sachverständigen verweisen. Die drei theologischen Sachverständigen haben überein­stimmend erklärt, daß nach dem Standpunkt der evangelischen und der katholischen Moral­theologie den Männern des 20. Juli kein Vorwurf des Landesverrats zu machen sei, da sie den Willen gehabt haben ihr Land nicht zu verraten, sondern zu retten. Das war die klare Aussage der Prof. Iwand, Wolf und Angermair. Hier ist ein einfacher Schluß am Platze. Er wird uns Juristen in Erinnerung an die allerersten Vorlegungen über das Verhältnis von Moral und Recht, die wir gehört haben, nahegelegt. Damals haben wir gelernt, daß Kant gesagt hat: „Das Recht ist das ethische Minimum.“ Wenn moralisch etwas einwandfrei dasteht, wie es unsere Sachverständigen dargelegt haben, dann muss es unter allen Umständen auch juristisch ein­wandfrei sein; denn die Moral verlangt mehr als das Recht.

Das war die Auffassung unserer Moraltheologen, sie deckt sich aber auch mit unserem Straf­recht. Im Jahre 1944 stand im Strafgesetzbuch über Landesverrat folgendes:

§ 88 StGB: „Verrat im Sinne der Vorschriften dieses Abschnittes begeht, wer mit dem Vor­satz, das Wohl des Reiches zu gefährden, das Staatsgeheimnis an einen anderen gelangen läßt.“ Meine Herren Richter, nicht wer ein Staatsgeheimnis an einen anderen gelangen läßt, ist schon Landesverräter; Landesverräter ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nur, wer mit dem Vorsatz handelt, das Wohl des Reiches zu gefährden.

Im § 91 StGB hieß es weiter: „Wer mit dem Vorsatz. schwere Nachteile für das Reich herbei­zuführen, zu einer ausländischen Regierung in Beziehung tritt, wird mit dem Tode bestraft.“ Wohlgemerkt, auch hier wird der Vorsatz gefordert, schwere Nachteile für das Reich herbei­zuführen.

§ 91b StGB lautete: „Wer im Inland oder als Deutscher im Ausland es unternimmt, während eines Krieges gegen das Reich der feindlichen Macht Vorschub zu leisten oder der Kriegs­macht des Reiches einen Nachteil zuzufügen, wird mit dem Tode bestraft. Auch nach diesem, dem letzten in Frage stehenden Paragraphen kommt es darauf an, ob jemand es unternimmt, dem Deutschen Reich einen Nachteil zuzufügen.

Meine Richter, Sie haben eine Reihe von Zeugen gehört. Ich glaube, es gibt niemanden in diesem Saal, der den Mut hätte, zu sagen, einer der Widerstandskämpfer hätte nicht mit der heiligen Absicht gehandelt, seinem deutschen Vaterlande zu dienen. Stauffenberg starb mit den Worten auf den Lippen:

„Es lebe das heilige Deutschland!“

Am 2. Juli war der Krieg endgültig verloren; der Sachverständige Prof. Dr. Schramm hat dies bestätigt. Am 20. Juli war das deutsche Volk total verraten, verraten von seiner Regierung und ein total verratenes Volk kann nicht mehr Gegenstand eines Landesverrats sein. Genau so wenig wie man einen toten Mann durch einen Dolchstoß töten kann. Das ist noch nicht einmal ein untauglicher Versuch. Der Krieg war schon lange vorher verloren und die Widerstands­kämpfer haben es gewußt. Vor dem Jahre 1933 standen auf den Plakatsäulen Deutschlands die Worte: „Hitler bedeutet Krieg.“ Es war ein Wort, das leider wahr geworden ist, und jeder Krieg war ein verlorener Krieg, und jeder verlorene Krieg bedeutete die Vernichtung und Zer­schmetterung Deutschlands.

Das war der Ausgangspunkt der gesamten Konzeption Becks und Goerdelers.

Sie wußten, der Krieg war nicht zu gewinnen; denn Deutschland stand gegen die ganze Welt. Der Krieg war verloren, bevor der erste Schuß gefallen war und ihre Konzeption war, Deutschland das Schlimmste zu ersparen. Jeder Versuch, den Krieg zu verhüten, jeder Ver­such, den Krieg abzukürzen, bedeutete eine Ersparnis deutscher Menschenleben, deutscher Arme und Beine.

Meine Herren Richter, wäre der 20. Juli gelungen, dann wäre sicherlich das Resultat auch ein harter Friede gewesen, aber, ich glaube, wir können vermuten, die Friedensaussichten des Jah­res 1944 wären günstiger gewesen als die des Jahres 1945. Auch im Jahre 1944 lag allerdings Casablanca hinter uns und mit Casablanca die Forderung der unbedingten Kapitulation; noch aber war nicht geschehen Jalta, nicht geschehen war Potsdam, noch bestand die Möglichkeit, auf die auch der Zeuge von Husen hingewiesen hat, durch Schaffung einer deutschen demo­kratischen Regierung die Spaltung Deutschlands zu verhüten. Das war die Chance des 20. Juli. Es ist unmöglich, historisch zu prophezeien; aber ich kann auf ein Beispiel verweisen, das uns zeigt, daß gelungener Widerstand zu einem besseren Frieden führen konnte, ich meine Italien. Sei dem aber wie ihm wolle.

Meine Herren Richter, vergessen Sie bei Ihrem Urteil nicht: das, was die Widerstandskämpfer vollbracht haben, war das größte nationale Aktivum, mit dem wir Deutschen am Ende des Krieges den Alliierten entgegentreten konnten; es war das einzige Aktivum, das wir ins Feld führen konnten, als die Kollektivschuld uns ins Gesicht geschleudert wurde. Es war ein Akti­vum, das wir dem Widerstandskampf und nur ihm verdanken. Lassen Sie mich zur Stütze meiner Ausführungen auf einen Präzedenzfall unserer deutschen Rechtsgeschichte zurück­greifen. In der Weimarer Republik wurde Reichspräsident Ebert der Vorwurf des Landesver­rats gemacht, weil er während des ersten Weltkrieges an einem Munitionsarbeiterstreik teil­genommen hatte. Damals kam es in einer Strafsache gegen einen gewissen Rothardt zu einem erstinstanzlichen Urteil in Magdeburg. Das damalige Schöffengericht meinte, Reichs­präsident Ebert habe durch seine Teilnahme am Streik juristisch Landesverrat begangen, aber nicht moralisch, da er, wie das Gericht feststellte, letztlich das Beste für Deutschland gewollt habe. Gegen dieses Magdeburger Urteil wandte sich die Kritik aller deutschen Strafjuristen von Bedeutung, an ihrer Spitze Reichsjustizminister Schiffer, ferner Radbruch, Geheimrat Kahl, Prof. Sinzheimer und Prof. Liepmann. Ich will ihre Ausführungen in Kürze wiedergeben. Entscheidend für die Frage des Landesverrats sei, meinten sie, nicht die einzelne Episode, sondern der Gesamtverlauf des historischen Geschehens, wie ihn sich ein Politiker vorstelle, sonst laufe das Gericht die Gefahr, die Teile in der Hand zu haben, es fehle ihm aber leider „das geistige Band“. Liepmann hat in dieser Diskussion mit besonderer Deutlichkeit den Gesichtspunkt in den Vordergrund gestellt, den auch unsere Moraltheologen betont haben. Er hat geschrieben: „Man kann nicht historisch-politisch seinem Vaterlande einen Dienst erwei­sen und durch dieselbe Handlung dem Feind Vorschub leisten.“ Radbruch hat eine Güterab­wägung, eine sog. compensatio lucri cum damne in Vorschlag gebracht. Man müsse zu einer Gesamtabwägung des Plus und Minus kommen; man müsse die ungünstigen Teilwirkungen mit der günstigen Gesamtwirkung vergleichen. Er hat wie auch Sinzheimer sich dafür ausge­sprochen, daß taktische Einbußen strategische Gewinn rechtfertigten. Sie haben als Beispiel genannt, ein Heerführer, der ein Armeekorps opfere, um das Gesamtheer zu retten, sei kein Landesverräter. Die anderen haben Beispiele mehr aus dem Privatleben erwähnt!

Ein Arzt, der z.B. ein Bein amputiere, um einen Mann zu retten, begehe keine Körperverlet­zung. Schiffer verwies auf den Schulfall, daß ein Mensch, der einen Ertrinkenden beim Ver­such, ihn zu retten, drossele, ebenfalls keine Körperverletzung begehe.

Entscheidend sei – kurz und gut – die Gesamtkonzeption, entscheidend sei das Ziel und das Motiv. Politik, Diplomatie und Strategie und wahrscheinlich alles andere in diesem Leben ist ohne Opfer nicht denkbar; Sinn für Geschichte verbietet, die Opfer, die gebracht werden müs­sen, isoliert zu sehen.

Diese juristischen Gesichtspunkte haben ihren Niederschlag in einer Entscheidung des Reichsgerichts gefunden, Band 65 S. 433. Ich darf Ihnen, meine Herren Richter, die ent­scheidenden Sätze aus diesem Urteil vortragen. Es beschäftigt sich ebenfalls mit den Be­schimpfungen Eberts als eines Landesverräters:

„Beim Landesverrat gehört zum Vorsatz das Bewußtsein und der Wille, der deutschen Kriegs­macht Nachteile zuzufügen. Bei der Prüfung, ob dieses Bewußtsein und dieser Wille vorhan­den waren, dürfen wiederum nicht einzelne Handlungen aus dem Zusam­menhang gerissen und für sich betrachtet werden, es muß vielmehr das Gesamtverhal­ten ins Auge gefaßt sein. Ergibt sich, daß das Gesamtverhalten durch das Ziel be­herrscht ist, von der Kriegsmacht des deutschen Reiches größere Nachteile abzuwen­den und für diese zu diesem Zweck die gerin­gen benachteiligenden Handlungen in Kauf zu nehmen, so fehlt in bezug auf das Gesamtver­halten, von dem jene tatbe­standsmäßigen Einzelhandlungen nur untrennbare Teile sind, das Bewußtsein und der Wille der Benachteiligung. Zu demselben Ergebnis einer Verneinung der Schuld muß bei solcher Sachlage selbstverständlich eine normative Schuldlehre gelangen, die für die Vorwerfbarkeit einer Handlung neben dem sog. Psychologischen Moment des Vorsat­zes das normative Moment der Pflichtwidrigkeit als weiteres Schuldelement fordert.“

Dieses Urteil ist die grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts. Ich habe nicht die Ab­sicht, meine Herren Richter, Sie allzu sehr mit Zitaten zu behelligen. Aber ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß auch unsere Kommentare im Endergebnis in gleicher Weise Stel­lung nehmen. Ich darf auf den Kommentar von Frank (1926 S. 139) verweisen. Hier behan­delt Frank den Anschluß der Rechtswidrigkeit unter verschiedenen Gesichtspunkten, einmal unter dem Gesichtspunkt eines Handelns im Interesse des Verletzten, dann unter dem Gesichtspunkt des Prinzips des wahren Wohls und er kommt jedenfalls zu dem Resultat, daß in Fällen der vorliegenden Art der Vorsatz fehle. Zu demselben Ergebnis kam unser alter Leipziger Kommentar in seiner vornazistischen Ausgabe S. 19. Er erklärt: „Hier fehlt über­haupt der Rechtwidrigkeitsvorsatz.“ Im Leipziger Kommentar, wie er während des Dritten Reiches herausgegeben wurde und im Jahre 1944 galt, heißt es S. 631: „Mitunter wird zu prüfen sein, ob nicht dieselbe Handlung, die eine Schädigung enthält, zugleich auch einen Vorteil für das Reich mit sich bringt, durch den die Schädigung wieder aufgehoben wird.“

In diesem Falle findet zwar objektiv kein Ausgleich des vorsätzlich bewirkten Nachteils mit dem Vorteile statt, keine compensatio lucri cum damne. Es werde dann aber der erforderliche Vorsatz nicht vorhanden sein.

Die Staatsanwaltschaft geht von dieser Rechtslage aus. Sie ist überzeugt, daß es ausgeschlos­sen ist, irgendeinem Teilnehmer am 20. Juli in irgendeinem Sinne vorzuwerfen, er habe den Vorsatz gehabt, Deutschland zu schaden. Einziges Ziel ihrer Handlungen war, Deutschland zu retten. Um deswillen kommt der Tatbestand des Landesverrats nicht zur Anwendung.

Im Verlauf der Verhandlung hat der Fall Oster eine besondere Rolle gespielt.

Ich möchte zunächst meinen, daß die Dinge, die Oster angeblich in den Jahren 1939/40 getan hat, in keiner Beziehung zum Thema unseres Prozesses stehen, nämlich zum Thema des 20. Juli. Weiter möchte ich sagen, daß die Dinge, die damals geschahen, noch nicht geklärt sind. Jedenfalls sind die Motive und die Zielsetzung Osters nicht völlig aufgehellt. Es ist, wie hier angedeutet wurde, möglich, daß die Dinge, die damals geschehen sein sollen, im Rahmen des internationalen Nervenkriegs oder der „do ut des“-Politik jeder Spionage und Abwehr erfolgt sind. Oster kann heute nicht mehr sprechen. Sicher aber ist nach meiner Auffassung, daß ein Mann wie Oster, den die gesamte Literatur als einen christlichen vaterländischen, von tiefsten patriotischen Gefühlen erfüllten Mann darstellt, was er auch immer getan hat, nur aus lauter­sten Motiven und aus seiner Liebe zu unserem Vaterlande getan hat. Ich gehe aber noch ein Stück weiter. Ich unterstelle, wie es auch die Verteidigung unter Hinweis auf die Literatur des Widerstandskampfes tut, daß Oster am Vorabend des Angriffs auf Holland dem Holländi­schen Militärattaché eine Mitteilung vom Angriffszeitpunkt gemacht hat. Ich unterstelle, daß dies auch im Falle des Angriffs auf Dänemark und Norwegen geschehen ist, um Dänemark und Norwegen wie später Holland zu warnen. Diesfalls hat die Strafkammer eine schwierige, bislang von einem deutschen Gericht noch nicht entschiedene Rechtsfrage zu beantworten.

Der Angriff auf Holland und der Angriff auf Dänemark und Norwegen war unzweifelhaft ein bellum injustum, ein ungerechter Krieg, und auch ein Bruch vertraglicher Verpflichtungen, Deutschlands gegenüber Holland, Dänemark und Norwegen. Deutschland hatte freiwillig den sog. Briand-Kellogg-Pakt am 27.8.1928 in Paris unterzeichnet und in ihm ausdrücklich auf Angriffskriege verzichtet. Weiterhin hat Deutschland am 3.5.1939 mit Dänemark einen Nicht­angriffspakt abgeschlossen, in dem es hieß: „Die Vertragsparteien sind fest entschlossen, den Frieden zwischen Dänemark und Deutschland unter allen Umständen zu erhalten.“ Dieses Übereinkommen wurde 11 Monate später gebrochen. Ähnlich war das Verhältnis von Deutschland zu Norwegen. Am 2.9.1939 hat Deutschland Norwegen gegenüber feierlich die Versicherung gegeben, daß die deutsche Regierung entschlossen sei, die Unverletzlichkeit und Integrität Norwegens unter keinen Umständen zu beeinträchtigen und das norwegische Staatsgebiet zu respektieren. Das Versprechen wurde ein halbes Jahr später gebrochen. Ähn­lich war es auch mit dem Einmarsch in Belgien, in den Niederlanden und in Luxemburg. Bereits im Mai 1939 hat Hitler zu seinen Militärs gesagt, daß die holländischen und belgi­schen Luftstützpunkte baldmöglichst militärisch besetzt werden müßten.

Es heißt wörtlich in dem Protokoll: „Auf Neutralitätserklärungen kann nichts gegeben wer­den.“ Am 22.8.1939 erklärte Hitler seinen militärischen Befehlshabern, daß seiner Ansicht nach England und Frankreich die Neutralität der Benelux-Länder nicht verletzen werde. Gleichzeitig versicherte er diesen drei Ländern, daß ihre Neutralität unter allen Umständen respektiert würde. Am 6.10.1939 nach dem polnischen Feldzug, wiederholte er die Versiche­rung. Am 7.10.1939, einen Tag nach der offiziellen Erklärung, gab aber General von Brau­chitsch der Heeresgruppe B die Anweisung, sich für den sofortigen Angriff auf holländisches und belgisches Gebiet vorzubereiten.

Es ist keine Frage, daß Deutschland durch die Angriffe auf Holland, Dänemark und Norwegen unter Verletzung des Briand-Kellogg-Pakts und anderer Verträge einen ungerechten Krieg geführt hat. Nach dem internationalen Recht, das uns – Staat und Einzelnen – bindet, nach der Weimarer Verfassung, die bestimmt hat, daß allgemein anerkanntes Völkerrecht ein integrie­render Bestandteil unseres deutschen Rechts ist, ist ein ungerechter Krieg, namentlich ein Angriffskrieg ein internationales Verbrechen. Es ist die Frage aufzuwerfen und m.E. zu beja­hen: war nicht jeder in Deutschland, der die Ungerechtigkeit des Krieges erkannte, berechtigt, Widerstand zu leisten und einen Unrechtskrieg zu verhüten? In diesem Falle gilt nämlich, was Hugo Grotius, der Vater unseres Völkerrechts geschrieben hat: „Wenn das Motiv des Krieges ungerecht ist, so sind auch alle Handlungen, die daraus folgen, ungerecht, und alle, die mit Wissen und Willen an solchen Handlungen teilnehmen, gehören zur Schar derer, die nicht ohne Buße und Besserung ins Himmelreich eingehen. Büßen und sich bessern bedeutet, den Schaden wieder gut zu machen. Der Urheber des Krieges ist für alle Schäden verantwortlich, die Generäle sind für ihre Befehle verantwortlich und die Soldaten für die Handlungen, an denen sie teilgenommen haben, z.B. wenn sie Städte niederbrannten“. Recht­lich wichtig ist hier nicht etwa die Kriegsschuld der nichts ahnenden Soldaten, von der Gro­tius spricht, sondern die Tatsache, daß Oster einer der wenigen Offiziere war, die das erfor­derliche Wissen besaßen und den ungerecht Angegriffenen zu helfen imstande waren.

Ich gehe zum nächsten Thema über. Haben unsere Widerstandskämpfer Hochverrat began­gen?

Jeder Jurist weiß, Hochverrat ist nur dann strafbar, wenn der Hochverrat keinen Erfolg hat. Es ist zunächst einmal die Frage aufzuwerfen, war dieser „Hochverrat“ vom 20. Juli 1944 erfolg­reich? Sicher, am 20. Juli 1944 ist der Angriff der Widerstandskämpfer zurückgeschlagen worden, aber der Widerstand des 20. Juli 1944 war nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtwider­stand des deutschen Volkes, der jedenfalls einige Jahre später zur Errichtung einer freiheitli­chen Demokratie in Deutschland geführt hat.

Es ist unmöglich, eine solche Widerstands- und Freiheitsbewegung im Zeitlupenstil zu analy­sieren und in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Jeder Bürgerkrieg ist wie auch jeder Krieg nach außen zusammengesetzt aus einer Fülle von Angriffen und einer Fülle von Schlap­pen und Niederlagen. Entscheidend ist, wer die letzte Schlacht gewinnt. Die letzte Schlacht wurde ein Jahr nach dem 20. Juli gewonnen und hat damit dem 20. Juli auch ihren staatsrecht­lichen Sinn gegeben. Man wird vielleicht einwenden, das, was ein Jahr später geschehen sei, sei Sache der Alliierten gewesen. Ich glaube, im Namen des deutschen Volkes sollten wir dagegen protestieren und uns klar und deutlich und mit Stolz zu unseren Widerstandskämp­fern bekennen, die seit dem Jahre 1933 durch die Konzentrationslager gingen und mit eiser­nem Willen und heißem Herzen für die Wiederherstellung der Freiheitsrechte, für die Grund­rechte und Menschenrechte in Deutschland gekämpft haben. Ich will den Sachverhalt in einem Bilde wiedergeben. Die Menschen in den Konzentrationslagern und Menschen außer­halb der Konzentrationslager haben den Samen der neuen Demokratie gesät. Die Alliierten haben den Stein entfernt, der verhinderte, daß dieser Samen zum Lichte emporkam. Als aber die Alliierten den Stein entfernten, da wuchs dieser Samen. Dieser Samen war nicht gesät von Alliierten, dieser Samen war von den deutschen Widerstandskämpfern gesät. Deshalb war der „Hochverrat“ des 20. Juli 1944 erfolgreich, deswegen ist er in juristischem Sinne nicht Hoch­verrat.

Der Hochverrat setzt weiter eine legale Verfassung voraus. Ich bestreite, daß die Herrschaft des Dritten Reiches, daß die Herrschaft des sog. Tausendjährigen Reiches gesetzlich war. Ich behaupte, daß das Dritte Reich seiner Form nach usurpierte nie legalisierte Macht war; dem Inhalt nach war es das Reich der Bestie, von dem unsere Sachverständigen gesprochen haben, ein Unrechtsstaat und deswegen sittenwidrig und nichtig.

Ich sagte, das Dritte Reich war eine staatsrechtlich usurpierte, nie legalisierte Macht.

Das Dritte Reich begann mit dem Reichstagsbrand vom 27.2.1933, der durch die Machthaber mißbraucht wurde zur Notverordnung vom 28.2.1933, in der die Grundrechte aufgehoben wurden. Der Reichstagsbrand wurde weiter mißbraucht zur Verordnung vom 21.3.1933, die sich gegen heimtückische Angriffe gegen die Regierung und ihre Parteien und ihre Verbände richtete. Zum ersten Male in Deutschland war damals eine Verordnung ergangen, die den Gleichheitsgrundsatz verletzte und nur diejenigen Verbände unter Schutz stellte, die hinter der Regierung standen, d.h. die SA und SS.

Trotz Reichstagsbrand und trotz Notverordnung wurden nur 44 % Nazis und 8 % Deutsch­nationale gewählt. Es war keine nationalsozialistische Mehrheit, und die Nationalsozialisten zusammen mit den Deutschnationalen hatten nur eine bescheidene Mehrheit von 52 %. Da mit dieser Mehrheit in Deutschland nicht zu regieren war, benötigte die Regierung das sog. Er­mächtigungsgesetz. Zu dieser Ermächtigung benötigte sie 2/3 aller Stimmen. Sie konnte sie nur erreichen, indem sie in verfassungswidriger Weise die kommunistischen Mandate für ungültig erklärte. Die Weimarer Verfassung ließ dies nicht zu, Mandate für ungültig zu erklä­ren. Trotz allem ist es geschehen. Selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellen woll­te, die Erklärung der Ungültigkeit der kommunistischen Mandate wäre berechtigt gewesen, so war die Regierung nach dem Sinn der demokratischen Weimarer Verfassung verpflichtet, Neu­wahlen zu veranstalten, um den 12,3 % Wählern Gelegenheit zu geben, ihrer Opposition in anderer Weise Ausdruck zu verleihen. Das Ermächtigungsgesetz, das Rückgrat des Dritten Reiches, ist sonach nur möglich gewesen durch einen verfassungswidrigen Akt.

Am 1.8.1934 erging das Gesetz über das Staatsoberhaupt des deutschen Reiches, wodurch das Amt des Reichspräsidenten mit dem Amt des Reichskanzlers vereinigt wurde. Das Gesetz das noch zu Lebzeiten des Reichspräsidenten von Hindenburg beschlossen wurde, war ungültig. Es verletzte das Ermächtigungsgesetz, weil es in dem Ermächtigungsgesetz ausdrücklich hieß, daß die Rechte des Reichspräsidenten nicht angetastet werden durften. Hitler hatte selber den Eindruck, daß die Gültigkeit des Gesetzes zweifelhaft sei. Es erging am 2.8.1934 ein Erlass in ihm hieß es: „Ich will, daß die vom Kabinett beschlossene und verfassungsrechtlich gültige Betrauung meiner Person und damit des Reichskanzleramtes an sich mit den Funktionen des Reichspräsidenten ausdrücklich die Sanktion des deutschen Volkes erhält. Fest durchdrungen von der Überzeugung, daß jede Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von ihm in freier und geheimer Wahl bestätigt sein muß, bitte ich Sie, den Beschluß des Kabinetts dem deutschen Volke zur freien Volksabstimmung vorlegen zu lassen“. Was folgte, war, darüber wollen wir keine Worte verlieren, sicherlich keine freie Volksabstimmung.

Kurze Zeit darauf erging das Gesetz über die Vereidigung der Beamten und die Vereidigung der Soldaten der Wehrmacht. Dieses Gesetz hat, weil es sich mit der Verteidigung beschäftigt, in diesem Prozeß eine besondere Bedeutung. Die Beamten, Soldaten, Unteroffiziere und Offi­ziere der Wehrmacht wurden nicht von ihrem Eid auf die Weimarer Verfassung entbunden. Eine solche Entbindung von dem von ihnen geleisteten Eid auf die Weimarer Verfassung entsprach deutschem Brauch. Ich verweise darauf, daß am 28.11.1918 Kaiser Wilhelm II. in Amerongen erklärte: „Zugleich entbinde ich alle Beamten sowie alle Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften des Treueeides, den sie mir als ihrem Kaiser, König und obersten Befehls­haber geleistet haben.“ Eine solche Entbindung von dem Eid auf die Weimarer Verfassung ist nie geschehen. Hier verfing Hitler sich in den Maschen der von ihm vorgetäuschten Legalität. Weil er immer wieder den Anschein erwecken wollte, sich im Rahmen der Weimarer Verfas­sung zu halten, war er nicht in der Lage, den Eid auf die Weimarer Verfassung aufzuheben. Wir haben also den Tatbestand, daß Beamte, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften zwei Eide geleistet haben, die miteinander völlig unvereinbar waren. Ein Gesetz aber, das vom Beamten, Offizier, Unteroffizier und Soldaten zwiespältige Eidesverpflichtungen verlangt, ist ungültig. Man kann nur einem Herren und nicht zwei Herren gleichzeitig dienen. Der Eid, den unsere Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere auf Hitler schwören mußten, war weiter ein Eid zum unbedingten Gehorsam.

Eine eidliche Verpflichtung zum unbedingten Gehorsam nicht gegenüber Gott, Gesetz oder Recht oder Vaterland, sondern gegenüber einem Menschen ist in der deutschen Rechts­geschichte vor Hitler unbekannt und unsittlich. Es ist ausgeschlossen, daß jemand auf Erden und sei es Hitler, von einem Menschen unbedingten Gehorsam verlangen kann. Der Eid widersprach auch unserem damaligen Militärstrafgesetzbuch, nämlich dem § 47, in dem es klar und deutlich heißt, daß eine strafbare Handlung auch dann strafbar bleibt, wenn sie auf Befehl ausgeführt werden muß und ausgeführt wird.“ Ich verweise in diesem Zusammenhang auf eine neulich ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Band 3 S. 108. Hier heißt es:

„Selbst wenn der Beklagte sich im Irrtum über den Befehl befunden haben sollte, müßte er sich entgegenhalten lassen, daß keine Rechtsordnung einem Soldaten erlaubt, bei einem schimpflichen Verbrechen sich dadurch der Verantwortung zu entziehen, daß er sich auf einen Vorgesetzten beruft, dessen Anordnungen im Widerspruch zur menschlichen Moral und dem Recht aller Kulturvölker stehen. Dieser Rechtsgrundsatz hat übrigens seinen Niederschlag in dem damals gültigen § 47 des Militärstrafgesetzbuches gefunden.“

Ich sage, der Eid auf den sog. Führer, der unbedingten Gehorsam verlangt hat, ist in sich nich­tig, weil er unsittlich und mit der Kultur und den Sittengesetzen Europas unvereinbar ist.

Ich mache einen großen Schritt. Im Jahre 1934 lief das Ermächtigungsgesetz Adolf Hitlers ab. Das Ermächtigungsgesetz war das Rückgrat der nationalsozialistischen Regierung. Am 10.5.1943 erging folgender Erlaß des Führers über die Regierungsgesetzgebung vom 10.5.1943: „Mit Rücksicht darauf, daß das Gesetz vom 24.3.1933 formell am 10.5.1943 abläuft, bestimme ich: Die Reichsregierung hat die ihr durch das Gesetz vom 24.3.1933 über­tragenen Befugnisse auch weiterhin auszuüben. Ich behalte mir vor, eine Bestätigung dieser Befugnisse der Reichsregierung durch den Großdeutschen Reichstag herbeizuführen. Führer­hauptquartier, 10.5.1943.“ Es steht außer allem Zweifel, daß Hitler nicht befugt war, das Ermächtigungsgesetz von sich aus zu verlängern. Am 10.5.1943 war das Ermächtigungsge­setz abgelaufen, und Hitler und seine Regierung standen nackt und bloß, ohne jede gesetzliche Grundlage in Deutschland da. Ich verweise auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Neustadt in NJW. 52, 195. Hier wird erklärt, daß der „Führer“ keinerlei Ermächtigung besaß, sog. Führererlasse zu erlassen.

Letztlich kann von staatsrechtlichen Gesichtspunkten die Frage aufgeworfen werden: hat es sich im Falle des hitlerischen Reiches nicht um eine gelungene Revolution gehandelt? Hat nicht diese Kette von Rechtswidrigkeiten Anerkennung durch das deutsche Volk gefunden?

Mit dieser Frage hat sich ein Staatsrechtler von Bedeutung beschäftigt, Nawiasky, der Schöp­fer der bayrischen Verfassung. In seinem Kommentar „Die Verfassung des bayrischen Staa­tes“ heißt es in einem Sonderabschnitt „Die nationalsozialistische Revolution von 1933 bis 1945 vom staatsrechtlichen Blickpunkt aus“:

„Was die gelungene Revolution anlangt, so setzt sie voraus, daß der neugeschaffene Zustand von der Bevölkerung anerkannt worden ist, wozu eine freiwillige Stellung­

nahme gehört. Demgegenüber beweist die dauernde Einrichtung der Gestapo, des Blockwartsystems und die sonstige Handhabung eines ungeheuren Drucks gegenüber der Bevölkerung, daß von einer freiwilligen Zustimmung keine Rede sein kann; denn sonst wären ja diese Maßnahmen voll­kommen überflüssig gewesen. So kommt man zu dem Ergebnis, daß die nationalsozialistische Revolution niemals geglückt ist, sondern vom Anfang bis zum Ende eine reine Revolution blieb.“

Dies zur Frage der staatsrechtlichen Gültigkeit des Dritten Reiches.

Ich gehe zum zweiten Punkt über und erkläre, der nationalsozialistische Staat war seinem Inhalt nach ein Unrechtsstaat. Dies ist für den Juristen unseres Rechtsstaates nichts Neues. Seit 1945 haben sämtliche Gerichte, das Schwurgericht in diesem Saal, der Oberste Gerichts­hof in Köln und der Bundesgerichtshof ausgesprochen, daß das Dritte Reich ein Gewalt- und Willkürsystem gewesen ist. Es sind die Grundrechte nicht nur aufgehoben, sie sind in schmählicher Weise mit Füßen getreten worden. Tagaus und Tagein wurde das Recht ge­schändet; Millionen Menschen wurden umgebracht. Ich enthalte mich jeglicher Beispiele.

Hitler war nicht nur, das muß leider Gottes gesagt werden, der oberste Kriegsherr kraft Usur­pation, sondern auch der oberste Kriegsverbrecher, der größte Verbrecher, den wir nach unserem Strafgesetzbuch besessen haben. Ich verweise auch in dieser Richtung auf die bereits erwähnte Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, Band 3, S. 107. die letzte Ent­scheidung unseres obersten Gerichtshofes zu diesem Thema. Hier heißt es ganz allgemein:

„Das Gesetz findet dort seine Grenzen, wo es in Widerspruch zu den allgemein aner­kannten Regeln des Völkerrechts oder zu dem Naturrecht tritt, oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat. Wird der Grundsatz der Gleichheit bei der Satzung des positiven Rechts überhaupt verleugnet, dann entbehrt das Gesetz der Rechtsnatur und ist überhaupt kein Recht.“

Diese Worte des Bundesgerichtshofs gelten für die Verfassungsgesetzgebung, ja die gesamte Gesetzgebung des Dritten Reiches, das den Grundsatz der Gleichheit grundsätzlich abgelehnt hat. Ich stelle deswegen den Satz auf: ein Unrechtsstaat – im Gegensatz zum heutigen Rechts­staat –, ein Unrechtsstaat wie das dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig.

Ein Unrechtsstaat, der täglich zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr gemäß § 53 StGB. Jedermann war berechtigt, den bedrohten Juden oder den bedrohten Intelli­genzschichten des Auslandes Nothilfe zu gewähren. Insoweit sind alle Widerstandshandlun­gen durch den § 53 StGB gedeckt.

Von hier aus, meine Herren Richter, läßt sich das, was am 20. Juli war, vorher und nachher geschehen ist, einordnen in die deutsche Rechtsgeschichte. In diesem Saal ist einmal seitens der Verteidigung das Wort gefallen, wir sprechen hier deutsches Recht. Jawohl, hier sprechen wir deutsches Recht. Deswegen halte ich es für meine Verpflichtung, gerade darauf hinzuwei­sen, was altes deutsches, germanisches Recht ist.

Ich erinnere an das stolze Wort des Sachsenspiegels:

„Der Mann muß auch wohl seinem König, wenn dieser Unrecht tut, widerstehen und sogar helfen, ihm zu wehren in jeder Weise, selbst wenn jener sein Verwandter oder Lehnsherr ist. Und damit verletzt er seine Treupflicht nicht.“

Wenn es um den 20. Juli geht, dann ist es Zeit, sich an das germanische Widerstandsrecht unserer Vorfahren zu erinnern und an die alte deutsche Demokratie. Da erzählt uns zum Beispiel Snorri Sturluson folgende herzhafte Geschichte:

„Als der König gegen den Wunsch seines Volkes keinen Frieden mit den Norwegern schließen will, redet der greise Gesetz­sprecher von Tiundaland: „Dieser König läßt keinen mit sich sprechen und mag nichts hören, als was ihm selbst wohlgefällig zu hören ist und welches er mit aller Hitze betreibt. Deshalb wollen wir Bauern, daß du, König Olaf, Frieden schließt. Willst du aber unser Begehren nicht erfüllen, so werden wir dich töten und nicht länger Unfrieden und Ungesetzlichkeit dulden; denn so haben es unsere Voreltern gemacht. Sie stürzten fünf Könige in einen Brunnen bei Mula­thing, weil sie so von Hochmut erfüllt waren wie du gegen uns.“

Das ist die kernige Sprache der deutschen Vergangenheit. Der Untertaneneid im deutschen Staatsrecht ging auf Treue, aber Gehorsam oder gar unbedingter Gehorsam war den Deut­schen ein fremder Be­griff. Gehorsam, sagten die Germanen, gilt für Sklaven, der Freie ist nur zur Treue verpflich­tet und Treue setzt Gegenseitigkeit voraus.

In dem bedeutendsten Buche, das wir zu diesem Thema haben, einer Arbeit von Kern über „Gottesgnadentum und Widerstandsrecht“ heißt es:

„Der Grundgedanke des deutschen Rechts ist, daß Herrscher wie Untertanen dem Recht verbunden sind. Dem Recht gilt eigentlich die Treue beider Teile. Das Recht ist der Schnittpunkt ihrer beiden Treuepflichten. Wenn also der König das Recht bricht, verliert er ohne weiteres, eben durch sein Handeln, den Anspruch auf die Treue der Untertanen.“

In vielen Dokumenten des Mittelalters finden wir immer wieder den lateinischen Satz „rex eris, si recte egeris“.

Du wirst König sein, solange du rechtens handelst. Freidank dichtete den Satz: „Maneger Fürste durch sin Missetat Sins Knechtes Kneht ze Herren hat.“ Bei Missetaten des Herrschers ist nicht der Rebell, sondern der Herrscher schuldig und wird um seine Herrscherrechte gebraucht. Der ungerechte König ist Tyrann, demgegenüber kein Eid mehr gilt.

Lampert ließ im Jahre 1073 gegen ihren König rebellierende sächsische Fürsten sagen:

„Wir haben Treue geschworen, aber nur für den Fall, daß der König zum Aufbau des Hauses Got­tes, nicht zum Niederreißen König ist, daß er gerecht, gesetzlich und nach dem Herkommen regiert, daß er jedem seinen Stand, seine Würde und seine Rechte sichert. Wenn er die aber übertritt, sind wir durch unsere Eidespflicht nicht mehr ge­bunden.“

Diese Gedankengänge des deutschen Rechts decken sich mit dem, was unsere Theologen über die theologische Situation gesagt haben. Das Widerstandsrecht hat sich über die Magna Char­ta zum Ständestaat weiterentwickelt. In der Magna Charta wurde das Widerstandsrecht des Volkes bei den 25 Baronen Englands konzentriert und monopolisiert. Sie waren die Vorläufer des Ständestaats, der konstitutionellen Monarchie und der parlamentarischen Demokratie. Das Widerstandsrecht des Volkes und das Widerstandsrecht des Einzelnen ruhte, weil ihre Rechte von den Ständen und dem Parlament wohl gehütet waren. Es gibt kein Widerstandsrecht im Rechtsstaat, solange die Menschenrechte gewahrt werden, solange eine Möglichkeit zur Opposition besteht und einem Parlament Gelegenheit zur Gesetzgebung gegeben ist; solange unabhängige Gerichte walten und die Gewalten geteilt sind. Das Widerstandsrecht erwacht aber wieder zu lebendiger Wirklichkeit, wenn eine dieser Voraussetzungen in Wegfall tritt. Im 19. Jahrhundert sprach in Deutschland niemand mehr vom Widerstandsrecht. Nur einen Fall kennen wir in unserer Geschichte. Es ging um die sog. Hannoversche Verfassungsfrage. Damals haben Göttinger Professoren, die Göttinger Sieben, darunter die Brüder Grimm, Ger­vinus und Dahlemann Mannesmut vor Königsthron bezeugt und sich in einer Sternstunde deutschen Geisteslebens zu Freiheit und Demokratie bekannt. Der König Ernst August hatte die Stände nach Hause geschickt. Die Stadt Osnabrück warf damals – 1839 – die Frage auf: sind wir verpflichtet, einem König der die Stände nach Hause gesandt hat, Steuern zu bezah­len? Die Stadt legte die Frage drei juristischen Fakultäten in Deutschland vor, nämlich Jena, Heidelberg und Tübingen. Es war insbesondere die juristische Fakultät in Tübingen, die sich mit dem Recht zum Widerstand gründlichst beschäftigt hat. In ihrem ausführlichen Gutachten lesen wir:

„Durch Aufhebung des Grundgesetzes haben sonach streng genommen Seine Majestät Ihre Untertanen aller Pflichten gegen dieselben entbunden, und es besteht für diese auch die Ver­pflichtung des Gehorsams nicht mehr. Vielmehr ist es, wenn auch unter Umständen traurige Pflicht der Gegenwart, dieses Gesetz, als die Quelle des Glücks, der Ruhe und Zufriedenheit eines ganzen Volks und der zur Regierung desselben bestimmten Regenten-Familie der Zukunft zu erhalten und nicht über einmal zusammen sinken zu lassen.

Was Mohl (System der Präventiv-Justiz oder Rechts-Polizei Tüb. 1834 S. 126 Note) über ähnliche Fälle bemerkt, wird, wie wir hoffen, niemals auf Hannover Anwendung finden.

‚Allerdings‘ heißt es hier – ‚giebt es einzelne Fälle, in welchen ein gewaltsamer Widerstand gegen Staats-Maaßregeln erlaubt und selbst rechtlich und sittlich geboten ist. Wenn die Inha­ber der Staatsgewalt die von ihnen zu schützenden Rechte Einzelner oder Aller beharrlich mit Füßen treten, die zu fördernden Interessen nicht nur vernac­hlässigen, sondern ihnen sogar schaden; wenn sie aus ihrer gesetzlichen Stellung ganz heraustreten, nur auf Gewalt vertrau­end; wenn mit Einern Worte der Angriff auf die Staatsverfassung und die gesetzlichen Rechte der Bürger von ihnen ausgeht: dann wird Gehorsam zum Verbrechen, Widerstand zur Rechts­pflicht. Der Bürger in einem Rechtsstaat ist nur verfassungsmäßigen Gehorsam schuldig, und sind die ruhigen gesetzlichen Mittel gegen Unrecht erschöpft, oder von der Gewalt ver­schlos­sen, so mag er auch allein oder gemeinschaftlich mit andern, ebenfalls Bedroh­ten, zum offe­nen Widerstande schreiten, wenn er einen Erfolg für möglich hält oder Verzweiflung ihm nur diesen Ausweg läßt. Es ist ein furchtbarer aber kein unrechtlicher Zustand und die Nothwendigkeit, dieses Recht zur Anwendung zu bringen, kann unter allen For­men der Regierung vorkommen.‘“

So das Rechtsgutachten der juristischen Fakultät in Tübingen. Die konstitutionelle Monarchie und die Demokratie Deutschlands ließ das Widerstandsrecht ruhen. Es ist eine Ironie des Schicksals (und auf sie ist im Rahmen dieses Verfahrens vielfach hingewiesen worden), daß es ausgerechnet Adolf Hitlers „Mein Kampf“ war, der im Jahre 1923 dieses Widerstandsrecht wieder in das Bewußtsein der deutschen Bevölkerung brachte. Der Zeuge Kleffel hat außer­ordentlich dramatisch geschildert, wie Goerdeler – nach dem Recht des Widerstandskampfes befragt – an seinen Bücherschrank trat und aus „Mein Kampf“ die Worte zitierte: „Staatsauto­rität als Selbstzweck kann es nicht geben, da in diesem Falle jede Tyrannei auf dieser Welt unangreifbar und geheiligt wäre.“

Es ist aber nicht meine Absicht, ausgerechnet Hitler das letzte Wort zu lassen. Das Schönste über das Widerstandsrecht von Volk und Mensch hat Schiller im „Tell“ gesagt:

„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last, greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew’gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst,
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht;
Zum letzten Mittel, wenn kein anderes mehr
Vergangen will, ist ihm das Schwert gegeben.
Der Güter höchstes dürfen wir verteid’gen
Gegen Gewalt.“

Meine Herren Richter, wenn ich nach vielen langen Jahren vor Ihnen heute wieder die Rütli-Szene beschwöre, gehen meine eigenen Gedanken zurück zum humanistischen Gymnasium in Stuttgart. Diese Schüler des humanistischen Gymnasiums in Stuttgart, darunter Klaus Schenk von Stauffenberg, zu dessen Mitschülern ich mich rechnen darf, hatten es als ihre Aufgabe angesehen, das Erbe Schillers zu wahren; denn wir Schüler sahen in uns die Nachfahren der Schüler der Hohen Karls-Schule, in der einst Schiller seine „Räuber“ schrieb „in tyrannos“. Wir haben in unserem Gymnasium den „Wilhelm Tell“ und die Rütli-Szene aufgeführt. Was dort Stauffacher sagte, tat später Stauffenberg, er und seine Kameraden des 20. Juli, einge­denk dessen, was uns unsere Dichter und Denker gelehrt haben, eingedenk unseres guten alten deutschen Rechts.

Plädoyer von Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer im Remer-Prozess (11.-15. März 1952) vor dem Landgericht Braunschweig.

Zuerst – gekürzt – abgedruckt in: Geist und Tat. Monatsschrift für Recht, Freiheit und Kultur, 7. Jg. (1952), H. 7, S. 194-200; wiederabgedruckt in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechts­ordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main-New York: Campus 1998, S. 169-180.

Hier der Text als pdf.

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