
Als Martin Niemöller 1938 im Konzentrationslager Sachenshausen in Isolationshaft genommen wurde und er vom Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) die Entfernung von seiner Pfarrstelle in Berlin-Dahlem mit Versetzung in den Wartestand zu erwarten hatte, schrieb er seine „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche„, die jüngst in Buchform veröffentlicht worden sind. Im Vorwort seiner Denkschrift geht Niemöller mit der universitären Theologie und seiner Kirche hart ins Gericht:
Vorwort zu Gedanken über den Weg der christlichen Kirche (1939)
Von Martin Niemöller
Zum Abschluß meiner zweiten theologischen Prüfung im Jahre 1924 fragte mich der Examinator in Dogmatik, der zugleich mein akademischer Lehrer gewesen war: »Was würden Sie als die heute vordringliche Aufgabe der systematischen Theologie bezeichnen?« – Ohne mich auch nur einen Augenblick zu besinnen, gab ich zur Antwort: »Daß sie uns sagt, was es um die Kirche ist!« – Als ich wenige Stunden später mit demselben Professor auf dem Heimweg war, fragte er mich plötzlich: »Was haben Sie nur für ein Interesse an der Kirche?« – Blick und Stimme verrieten, daß er in höchstem Maße überrascht gewesen war, bei einem angehenden evangelischen Pastor auf die Frage nach der Kirche zu stoßen, und daß er sie selbstverständlich als eine völlig untergeordnete Frage ansah.
Ich brauche nur noch hinzuzufügen, daß dieser evangelische Theologieprofessor weder zur »alten Generation« noch zu den »Liberalen« noch auch zu den die Kirche ablehnenden Vertretern seines Berufs gehörte, und der ganze Jammer der evangelischen Theologie von damals, der Heranbildung des geistlichen Nachwuchses und der Versorgung der Gemeinden wird offenbar: Jeder theologische Lehrer hatte sein mehr oder weniger eigenes »System«, der Student und künftige Pfarrer suchte sich davon aus, was seinem geistigen Niveau und Bedarf entsprach oder ihm aus anderen Gründen behagte, und die Gemeinde mußte sich mit der Kost bescheiden, die ihr in den nach diesen und anderen Rezepten angefertigten Predigten dargeboten wurde. – Die »Kirche« ist nur etwas Äußerliches, ein Rahmen, der die Gemeinden und Pfarrer in leidlicher Ordnung zusammenfaßt mit der Aufgabe einer möglichst ökonomischen Verwaltung und – nötigenfalls – einer moralischen Überwachung der Pfarrer und Gemeindebeamten: ein Stück weltlicher Obrigkeit im geistlichen Gewande. – [62]
Soweit die akademische »Evangelische Theologie « an den Universitäten und damit die Ausbildung des evangelischen Pfarrernachwuchses und leider auch die geistliche Versorgung der Gemeinden in Frage steht, hat sich an diesem Zustand, wie er vor 15 Jahren war, nichts geändert, jedenfalls nicht zum Besseren.
Die theologische Wissenschaft – krampfhaft bemüht, den Anschluß an die universitas litterarum doch noch festzuhalten und deshalb den Zeitforderungen um jeden Preis nachzukommen – hat inzwischen auch die letzte Verbindung mit dem Leben der christlichen Gemeinde verloren. Die kurze Zeitspanne, da ein neuer Hauch von Geist in ihr wehte, weil ein christlicher Theologe in ihr wieder vom Wort Gottes Zeugnis zu geben wagte und unerbittlich die Frage nach dem wahren Inhalt der kirchlichen Verkündigung stellte, ist verschwunden; statt dessen ist eine neue Zeit der kleinen Dinge heraufgezogen, die ihr Kennzeichen darin hat, daß die Lehrer der Kirche – wie zu den Zeiten, als die Weissagung des Jesaja geschrieben wurde (Jesaja 30,20) – in der Verborgenheit stecken und an ihrer Statt Professoren der »Theologie« weiter ihre Systeme anbieten, in denen sie aus Blindheit oder mit Bedacht allen unangenehmen Begegnungen weit aus dem Wege gehen. Ein schwacher Trost, daß diese Theologen den Titel führen »Doktor der Theologie« und nicht mehr »Doktor der heiligen Schrift«! Tatsächlich müßte es längst »Doktor der Religionskunde« heißen, damit die christliche Gemeinde und ihre angehenden Pfarrer nicht länger in dem Irrtum bestärkt werde, als würde hier noch eine Vorbereitung auf das kirchliche Amt geboten.
Was wird darüber aber aus unserem evangelischen Pfarrernachwuchs? – Es war schon vor 20 Jahren so, daß wir auf der Universität sehr nachhaltig lernten, war wir nicht predigen sollten; und daß war immerhin auch ein Dienst. Das Übrige, was wir hörten, war gewiß nicht uninteressant. Ich werde z.B. nie vergessen, daß ich unter dem Vorlesungstitel »Alttestamentliche Theologie« eine ganz geistreiche Kulturgeschichte des israelitischen Volkes zu hören bekam; und ich zweifle nicht daran, daß die gleiche Vorlesung heute noch reizvoller geworden ist. Aber mir hat kein Universitätstheologe je beigebracht, was das Alte Testament heute für die christliche Kirche und die Predigt in ihren Gemeinden bedeutet, [63] obgleich doch schon in den biblischen Büchern selbst einiges darüber zu lesen steht! – Oder ich denke an die neutestamentliche Wissenschaft und ihren Lehrbetrieb: da gab es eine Fülle von Problemen und Erkenntnissen zu verarbeiten über die Entstehung der einzelnen Schriften und die Tatsachenbedeutung ihres Inhalts, über die Verfasser und ihre Abhängigkeiten voneinander; es fiel auch einmal ein Wort darüber, wie wohl hier oder da in den Tagen der Apostel das Evangelium verstanden worden sei. Ich bin überzeugt, daß auch dieses Teilgebiet durch neue Fragen wie z.B. die nach der Rassezugehörigkeit Jesu von Nazareth noch angereichert worden ist. Aber auf die Frage »Was soll ich predigen?« wird es dabei heute so wenig eine Antwort geben wie damals, weil der Brunnen der evangelischen Theologie zu jener Art gehört, von denen der Prophet warnend sagt, daß sie »löchrig sind und kein Wasser geben« (Jeremia 2,13). – Und in den Fächern der Dogmengeschichte und der Symbolik war es die gleiche Not: wir bekamen ein Bild von dem, was je und dann in der Kirche gelehrt worden war –, nicht aber davon, was heute in der Kirche rechtens gelehrt werden sollte. Wir wurden unterrichtet, in welchen Lehren sich die einzelnen Konfessionen unterschieden haben oder auch noch unterscheiden; aber da im Dunkel blieb, welches die wahre Lehre und Verkündigung sei, so wurde auch nicht deutlich, ob denn die konfessionellen Scheidungen zu Recht bestehen, zumal ja innerhalb einzelner »Kirchen« noch wieder Lehrunterschiede anzutreffen sind, die zwar zu keiner Spaltung führen, die aber allem Anschein nach viel weiter und tiefer gehen als die Unterschiede zwischen den Konfessionen. – Ich fragte einmal im Jahre 1936 einen lutherischen Kirchenführer vor seiner versammelten Pfarrerschaft, weshalb wir mit den Reformierten nicht in einer Kirche sein könnten, obwohl wir doch heute innerhalb der lutherischen Theologie Lehrunterschiede duldeten, die z.B. in der Abendmahlsfrage viel weiter griffen als etwa der Unterschied zwischen Luther und Calvin?! Als Antwort erfolgte eine gute, wissenschaftliche Vorlesung über die Unterscheidungslehren zwischen dem lutherischen und reformierten Bekenntnis des 16. und 17. Jahrhunderts; aber es fiel auch nicht ein Wort darüber, weshalb diese Differenzen uns nötigen, sie bei den Reformierten als für [64] die Kirche untragbar zu erklären und mit der Verweigerung der kirchlichen Gemeinschaft zu beantworten, während wir bei den Dogmatikern unter den »lutherischen« Professoren wesentlich stärkere Abweichungen von der bekenntnismäßigen Kirchenlehre unbeanstandet durchlassen und sie so wenig zur Gründung einer gesonderten eigenen Konfession auffordern, daß wir ihnen vielmehr die Ausbildung der Künftigen evangelischen, – nein, »lutherischen« (!) Pfarrer überlassen!
Was kann angesichts solcher Zustände von der praktischen geistlichen Versorgung der Gemeinden erwartet werden? – Man verweise nicht auf die Predigerseminare, durch die ja immerhin ein Teil der werdenden Pfarrer noch nach ihrem Universitätsstudium hindurchgingen! Sie lernten dort gewiß einiges darüber, wie man predigen und unterrichten soll; allein über das was konnte auch hier jeder seine eigene oder auch keine Meinung haben; denn auch hier herrschte der gleiche Theologiebetrieb wie in den Fakultäten der Hochschulen, und von den Leitern dieser Seminare pflegte der verstorbene Generalsuperintendent Zoellner bissig – aber mit guten Gründen – zu sagen, über ihrer Arbeit stünde der Wahlspruch »Lasset uns Lizentiaten machen, ein Bild, das uns gleich sei!« – Nein, es ist durchaus nicht verwunderlich, daß selbst die kirchlichen Kreise in unseren evangelischen Gemeinden geistlich verarmt und unterernährt sind, daß sie das Brot des Lebens von wertlosen Ersatz nur selten zu unterscheiden vermögen, und daß sie deshalb kritiklos annehmen, was ihnen mit etwas Geist und einiger Wärme dargeboten wird. – Man mache den Versuch: Auch der kirchentreue Protestant weiß leicht zu sagen, was er nicht glaubt. Er glaubt nicht an den Papst und die Heiligen und nicht an das Fegefeuer; er glaubt nicht, daß man Gottes Wohlgefallen mit frommen oder auch mit guten Werken gewinnen könne; er glaubt nicht, daß beim Abendmahl Brot und Wein in Fleisch und Blut verwandelt werden; er glaubt nicht an die Jungfrauengeburt und nicht an die Inspiration der heiligen Schrift; meist glaubt er auch weder an eine leibliche Auferstehung Jesu Christi noch an seine wirkliche Wiederkunft. Kurzum: die »Ergebnisse« der theologischen Wissenschaft sind in weitestem Maße zum volkstümlichen Allgemeingut der evangelischen Kirchenglieder geworden. – Das [65] gilt aber nicht nur nach dieser negativen Seite. Man mache auch den weiteren Versuch und frage kirchentreue Protestanten nach dem, was sie denn glauben?! Die Antwort wird – genau wie bei den »Theologen« – oft ganz ausbleiben oder nur zögernd kommen. Auf alle Fälle werden es lauter verschiedene Antworten sein, und sie werden in ihrer Summe eine »protestantische Weite« offenbaren, die ohne große Mühe die Brücken von Rom bis Edinburgh, von Konstantinopel bis zum Missouri, ja vielleicht von Mekka bis Lhasa schlägt. Die Antworten werden nur noch zahlreicher sein als die theologischen »Systeme« der Professoren – dies allerdings nur so lange als die kirchentreuen Protestanten gegenüber den protestantischen Theologieprofessoren noch in der Überzahl sind, was – wie die heutigen Gegner des Christentums mit Grund annehmen – unter solchen Umständen kaum noch ein Menschenalter dauern dürfte. Denn dies alles deutet ja darauf hin, daß die Auflösung in vollem Gange ist. –
»Was haben Sie nur für ein Interesse an der Kirche?« Diese Frage hat mich durch eine jahrelange unfreiwillige Einsamkeit und Muße hindurch begleitet – anfangs so, daß ich immer wieder mich selbst fragte, ob es denn lohne und ob wir nicht am besten das Nietzschesche Rezept anwenden: »Was schwach ist, das soll man noch stoßen!« – Es gibt ja Grund genug zur Bitterkeit; und wenn der Prophet Jona der Ansicht war, die Stadt Ninive müsse auf alle Fälle zugrundegehen, ob sie Buße tue oder nicht (Jona 3,4), so meinte ich oft, im Blick auf die altpreußische Landeskirche mit guten – theologischen und moralischen – Gründen der gleichen Ansicht sein zu müssen. Aber die Muße wehrt sich gegen eine entscheidende Stellungnahme, indem sie Tag um Tag die gleiche Frage als noch nicht endgültig beantwortet wiederbringt; und die Einsamkeit warnt vor Entscheidungen, durch die vielleicht andere gegen ihren Willen in Mitleidenschaft gezogen werden, ohne sich äußern und wehren zu können. Zudem aber heißt es in der Schrift: »Stärke das andere, das sterben will!« (Offenb. 3,2); und so kam ich mit der Zeit dahin, meine Gedanken über die Kirche zu sammeln, immer neu zu überprüfen und so zu ordnen, daß ich hoffen darf, damit für mich und vielleicht auch für andere Christen eine Vorarbeit zu leisten für eine Klärung und [66] Entscheidung, wie sie doch einmal – und in nicht ferner Zeit – kommen wird. –
Das Folgende will mit bewußter Absicht keine »theologische« Arbeit sein, zu der ich mich nicht befugt glaube, da ich nicht einmal den Lizentiaten gemacht habe, zu der ich aber auch keine Neigung verspüre, weil ich die dreihundertjährigen fruchtlosen Bemühungen der theologischen Wissenschaft vor Augen habe und mir nicht einbilde, auf dem eingeschlagenen Wege mehr zustande zu bringen als die Fachleute. – Ich habe in diesen Jahren der äußeren Abgeschlossenheit in meinem Lesen, Beten und Denken ganz als ein Glied der Kirche des Herrn Jesus Christus zu leben getrachtet und bin dabei umgeben gewesen von jener »Wolke von Zeugen« (Hebräer 12,1), die ja seit den Tagen der jungen Christenheit immer größer geworden ist: Neben dem Bibelbuch ist es das Gesangbuch gewesen, aus dem ich geschöpft habe, und neben diesen beiden Büchern waren es das Meßbuch und das Brevier der römisch-katholischen und endlich das Common Prayer Book der anglikanischen Kirche, die meine Tage begleitet haben. Ich habe aber die Stimme der Kirche nicht nur aus diesen Büchern gehört: ich habe sie auch täglich aus dem Gebet meiner Gemeinde vernommen und ihr geantwortet in meinem eigenen Gebet für sie und die ganze Christenheit. Und schließlich habe ich dies alles in den ruhigen stillen Stunden schlafloser Nächte wieder und wieder überdacht. – So haben diese »Gedanken« für mich einiges Gewicht bekommen, und so biete ich sie dar als das, was mir persönlich in einer Zeit der Anfechtungen und Zweifel als Antwort auf meine Frage nach der Kirche geworden ist.
Quelle: Martin Niemöller, Gedanken über den Weg der christlichen Kirche, hrsg. von Alf Christophersen und Benjamin Ziemann, Gütersloh 2019, S. 61-66.