Friedrich Mildenbergers Artikel über Spiritualität im TRT: „Die Beziehung auf den Heiligen Geist läßt sich nicht als Aktualisierung einer gnadenhaften Befähigung zum geistlichen Lebensvollzug beobach­ten.“

Mildenberget - Das gibt Kraft
Karikatur von Friedrich Mildenberger aus seinem „Grundwissen der Dogmatik“ (Stuttgart 1982)

Ein konziser Text in Sachen Spiritualität aus evangelischer Sicht ist der Beitrag von Friedrich Mildenberger aus der vierten Auflage des Taschenlexikons Religion und Theologie (er fehlt in der Bibliographie der Festschrift für Friedrich Mildenberger: Einfach von Gott reden von 1994):

Spiritualität II. Neubesinnung in der Gegenwart

Von Friedrich Mildenberger

1. Der Ausdruck »Spiritualität« ist in den letzten Jahren in Mode gekommen. Sein Gebrauch ist stark affektiv besetzt: »Spiritualität ist gut; wir hoffen auf eine erneuerte Spiritualität; wir brauchen einen spirituellen Aufbruch« etc. Wegen dieser affektiven Besetzung läßt sich eine die Bedeutung des Ausdrucks voll abdeckende Definition nicht geben. Er bezeichnet ungefähr das gleiche wie der Ausdruck Frömmigkeit, wenn Frömmigkeit nicht nur verstanden wird als bloße Innerlichkeit oder eine weltlose Gottesbeziehung, sondern »die in der Begegnung mit Gott gewonnene Lebenstüchtigkeit« (Rotzetter, 20). Es empfiehlt sich nicht, die Anwendung des Ausdrucks zu sehr auszuweiten und jeder Religion oder Ideologie ihre eigene Spiritualität zuzuweisen. Neben das allgemeine Moment der Bedeutung, daß es sich bei der Spiritualität um eine eingeübte und im Lebensvollzug realisierte Werthaltung handelt, muß die besondere Bestimmung treten, daß diese Werthaltung sich auf die christliche Tradition beruft. Schon damit ist angedeutet, daß die Gestalt von Spiritualität immer strittig ist, sofern sie an der Strit­tigkeit teilhat, die Kennzeichen der Auslegung und Anwendung der christlichen Tradition, in erster Linie der Bibel, ist.

Der Versuch einer vorläufigen Definition muß durch weitere Überlegungen ergänzt werden: Spiritualität bezeichnet die Beziehung des Lebensvollzuges auf Gott, den Heiligen Geist. Da­mit wird an die Unverfügbarkeit erinnert, die Kennzeichen eines Lebens aus dem Geist ist (vgl. Joh 3,8), und zugleich die anthropologische Problematik angedeutet, wie diese Bezie­hung des menschlichen Lebensvollzuges zum Heiligen Geist näher zu verstehen ist.

2. Der Ausdruck Spiritualität stammt aus der katholischen Tradition. Er kann hier als die Prä­gung des menschlichen Denkens und Wollens durch Gottes Geist und so als die Befähi­gung zu einem geistlichen Leben bestimmt werden. Beides geschieht nicht unvermittelt. Gottes Geist ist in der kirchlichen Gemeinschaft wirksam, er ist insbesondere im Vollzug der Liturgie gegenwärtig. Die Erfahrung der kirchlichen Gemein­schaft, die Einübung in die Liturgie und die Teilhabe am Sakrament befähigen zu einem von Gottes Geist geprägten Lebensvollzug. Die gnadenhafte Befähigung durch den Geist und die persönliche Selbstbe­stimmung des Men­schen in seiner Beziehung zu Gott und der Verwirkli­chung seines Willens liegen hier ineinan­der.

3. Eine evangelische Frömmigkeit, die dem Rechtfertigungsverständnis der Reformation folgt, kann nicht so eindeutig wie die katholische Denkweise zwischen der Wirksamkeit des Heili­gen Geistes auf den Menschen und der im Menschen dadurch bewirkten Prägung unterschei­den. Sie weiß um die bleibende Unfähigkeit des Menschen in seiner Beziehung zu Gott. Nur die bleibende Wirksamkeit des Heiligen Geistes kann ihr abhelfen, indem er selbst im Men­schen den Glauben bewirkt (vgl. Luthers Erklärung zum dritten Glaubensartikel im Kleinen Katechis­mus). Bei der Heilsaneignung ist der Mensch ständig angewiesen auf den Zuspruch des Evan­geliums in Wort und Sakrament, durch den sich die Wirksamkeit des Heiligen Gei­stes im Men­schen vollzieht. Die Beziehung auf den Heiligen Geist läßt sich darum nicht als Aktualisierung einer gnadenhaften Befähigung zum geistlichen Lebensvollzug beobach­ten; Anschauung dieser Beziehung ist vielmehr allein der Zuspruch des Evangeliums. In die­sem Zuspruch wird eine von dem äußeren Wort nicht abzulösende befreite Spontanität erfah­ren, in der sich der Mensch auf das Evangelium hin ausrichtet und sein Heil empfängt. Bei dieser reformatori­schen Anschauung ist die Aktivität des Lebensvollzuges im Beruf gegeben, in dem sich der Mensch mit seinem Werk am Nächsten in die schöpferische Wirksamkeit Gottes ein­bezogen erfährt.

4. Die Problematik des modernen Lebens hat in den Konfessionen zu ähnlichen Fragen und Lebensgestalten geführt. Versuche, zu einer spirituellen Erneuerung zu kommen, zielen so­wohl in der katholischen, als auch in der evangelischen Kirche auf mehr ökumenische Ge­meinsamkeit. So will die liturgische Bewegung gegenüber der Intellektualisierung des neupro­testantischen Gottesdienstes dessen leibhaft-ganzheitliche, gerade auch sakramentale Dimen­sion wiedergewinnen, während die charismatische Bewegung gegenüber einem auf das Amt zugeschnittenen kirchlichen Leben die Geistbegabung aller Glieder am Leib Christi betont. In der Solidarität mit den Unterdrückten und Entrechteten setzen sich die Befreiungs­theologien für mehr Freiheit und Menschenrechte ein. Als Orte spiritueller Erneuerung haben sich im evangelischen Raum Bruderschaften, Orden und Kommunitäten gebildet; am bekann­testen ist die Communauté de Taizé.

5. So sehr einerseits die Konvergenz der Konfessionen im Bemühen um spirituelle Erneue­rung zu begrüßen ist, so sehr zeigt sich andererseits auch die Problematik einer evangelischen Spiritualität. Die Beziehung des Heiligen Geistes auf den Menschen soll hier ja nicht als Prä­gung einer religiösen Innerlichkeit des Menschen gedacht werden. Vielmehr ist Menschsein in sei­ner Bestimmtheit von außen her erfaßt: es ist auf das äußere Wort als die Ermöglichung glau­bender Spontanität angewiesen und ebenso auf die Einbindung in einen durch Gott bestimm­ten Lebenszusammenhang, in dem sich Gottes schöpferischer Lebenswille durch menschliche Berufsarbeit realisiert. In der komplexen modernen Welt hat dieser Lebenszu­sammenhang seine überschaubare Gestalt verloren; die Lebensdienlichkeit moderner ökono­mischer Struk­turen ist nicht unmittelbar einsichtig. Darum besteht die Gefahr, »geistliches« Leben gegen­über diesem Lebenszusammenhang zu isolieren, und »Spiritualität« als Freizeit­verhalten zu üben. Demgegenüber ist eine wache Aufmerksamkeit gefordert, die gerade im weltlichen Lebenszusammenhang die Aufforderung wahrnimmt, Liebe in dem zu verwirkli­chen, was dem gottgewollten Leben dient, und kritisch sich gegen das zu wenden, was Leben reduziert und zerstört. Die Einübung einer solchen Aufmerksamkeit ist Aufgabe einer evange­lischen Gestalt geistlichen Lebens.

Lit.: Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung, Gütersloher Verlagshaus 19802. – Seminar Spiritualität, 4 Bde., Bd. 1: Rotzetter, A. (Hg.): Geist wird Leib, Benziger 1979. – Kamphaus, F. (Hg.): Gelebte Spiritualität. Erfahrungen und Hinweise, Herder 1978. – Balthasar, H.U. v.: Das Evangelium als Norm und Kritik aller Spiritualität in der Kirche, in: Concilium 1, 1965, 715-722. – Sudbrack, J.: Spiritualität, in: Rahner, K. (Hg.): Sacramentum Mundi, Bd. 4, Herder 1969, 674-691 (Begriff, Geschichte, Probleme). – Voss, G.: Wachsendes Interesse an Spiritualität, in: Lengsfeld, P. (Hg.): Ökumenische Theologie, Kohlhammer 1980, 338-354 (zur ökumenischen Diskussion).

TRT4 (1983), Bd. 5, S. 86-88.

Hier der Text als pdf.

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