Alfons Deissler über die Grundbotschaft des Alten Testaments: „JHWH ist zwar der Unfaß­liche und damit der als selbst alles Umfangende einfachhin Unumfangbare, aber er ist niemals das Unendliche, das Umfassende im Sinne eines absolut unbestimmbaren ‚Es‘.“

»Ich gestehe es gerne: Ich habe Alfons Deissler verehrt, und halte ihn für eine der ganz großen Gestalten unseres Fachs und für einen bedeutenden Theologen.« Was Erich Zenger 2006 anlässlich der Neuausgabe von Alfons Deisslers „Die Grundbotschaft des Alten Testaments“ geschrieben hat, lässt sich nachvollziehen, wenn man Deisslers Texte über das Alte Testament ließt. Wie Fridolin Stier zeichnet auch Deissler ein besonderes Sprachempfinden und eine theologische Leidenschaft aus. In seinem Beitrag „Die Grundbotschaft des Alten Testaments“ für das Handbuch der Verkündigung (Herder 1970) skizziert er auf 30 Seiten eine Theologie des Alten Testaments, die es immer noch in sich hat:

Die Grundbotschaft des Alten Testaments

Von Alfons Deissler

A. EINLEITUNG

I.

„Nachdem Gott vorzeiten vielmals und auf vielerlei Weise zu den Vätern gesprochen hat durch die Propheten, hat er am Ende dieser Tage zu uns ge­redet durch den Sohn …“ (Hebr 1,1); dieser Glaube an das Alte Testament als Gotteswort ist die Überzeugung des ganzen Neu­en Testamentes. Die Bücher des Alten Testaments sind nach Röm 1,2 „die heiligen Schrif­ten“. Joh 10,35 spricht vom Alten Testament einfachhin als von „der Schrift“. Je­sus argu­mentiert in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern beständig aus ihr. Sein bund­stiftendes Wort, das in der kirchlichen Eucharistiefeier wirk­sam weiterlebt, nimmt das Alte Testament gleichsam in die Mitte des Neuen Bundes hinein. Sind doch seine konstitutiven Elemente aus dem Alten Testament genommen: „Dies ist das Blut des Bundes“ ist ein Mose­wort aus Ex 24,8; „des neuen und ewigen Bundes“ ist ein Hinweis auf Jer 31,31; die Erläute­rung: „das für die vielen vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ ist eine Zusammenfas­sung des einzig­artigen 4. Jahweknechtsliedes von Jes 53. Die Kirche handelte demnach folge­richtig, als sie auch nach der Entstehung und Rezeption des Neuen Testaments (2. Jahr­hundert n. Chr.!) das Alte Testament als heiliges Gottesbuch beibehielt und feierlich als sol­ches dekla­rierte (vgl. Denzinger 706 783 784 1787). Die christliche Theologie hat es demzu­folge immer als „Glaubensquelle“ betrachtet, aus der sie gleichermaßen wie aus dem Neuen Testa­ment schöpfte. Dem gläubigen Kirchenvolk des Mittel­alters war das Alte Testament, wie die goti­schen Kathedralen bezeu­gen, ebenso vertraut wie das Neue Testament.

Dennoch hat die Neuzeit auch in der Kirche zu einer praktischen Abwertung des alttestament­lichen Gottesbuches geführt. Das geht in unserer Epoche so weit, daß für viele entscheidende Theologengremien der römisch-katholi­schen Kirche gar keine Alttestamentler bestellt oder zugezogen werden[1]. [155]

Den vielerlei Gründen für dieses bemerkenswerte Phänomen der Vernach­lässigung des Alten Testaments im katholischen Raum[2] — im evangelischen Bereich war und ist dies anders — kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Sofern ihm u. a. auch Unkenntnis zugrunde liegt, kann und will der hier folgende Beitrag die fruchtbare Funktion einer „bewußtseinser­weiternden Information“ erfüllen. Deren bedarf es auch, weil bereits eine heilsame Verände­rung der angesprochenen Sachlage in Gang gekommen zu sein scheint: Die „neue Liturgie“ weist dem Alten Testament wieder — zumindest theoretisch — seine ihm gebührende Stel­lung als Gotteswort in der Verkündigung zu. Schwierig bleibt aber nach wie vor das Problem, die leider anscheinend nur unter dem Gesichtspunkt des Themas der jeweiligen liturgischen Feier ausgewählten Perikopen für die Verkündigung wirklich aufzuschließen und zugleich den Ort und das Gewicht zu erkennen, welche diese Texte innerhalb der Gesamtbotschaft des Alten Testaments haben. Voraussetzung — insbesondere für das letztgenannte Ziel — ist die Kennt­nis jenes „Koordinatensystems“, welches die quantitativ und qualitativ vielfäl­tigen alttesta­mentlichen Schrifttexte in eine auswertbare Überschaulichkeit zu bringen vermag. Man muß also mit der Grundbotschaft des Alten Testa­mentes vertraut sein, um die Aussagerich­tung und Zeugniskraft einer alt­testamentlichen Perikope zu erkennen und für die Verkündi­gung frucht­bar zu machen.

II.

Das Alte Testament hat als Gottesbuch aus einer ganz anderen „Weltzeit“ und Kultur (Alter Orient!) für okzidentales Denken und Verstehen zuge­standenermaßen seine besonderen Schwierigkeiten. Das zeigt schon ein Blick in seine christliche Auslegungsgeschichte, die hier nicht näher erörtert werden kann. Es sei nur auf das große Mißverständnis alttestamentlicher Texte hingewiesen, das bei Protestanten (Luther, Melanchthon) wie Katho­liken (Galilei-Streit!) zur Verwerfung des kopernikanischen Weltbildes und damit zu einem für die abend­ländische Geistesgeschichte verhängnisvollen Kampf zwischen Offenbarungsglauben und Wissenschaft geführt hat. Nur wer das „auf vielerlei Weise“ von Hebr 1,1 ernst nimmt und demgemäß Gott zugesteht, daß er viele Arten von vorliterarischen und literarischen „Wortge­stalten“ zu Gefäßen seiner Offenbarung machen konnte und gemacht hat, wird einen effizien­ten Zugang zum Alten Testament finden können. Wer [156] darum etwa meint, eine alttesta­mentliche Erzählung sei nur als dokumenta­risches Protokoll geschichtlicher Vorgänge denk­bar und müsse in diesem Sinne „wörtlich“ ausgelegt werden, weiß und versteht im Grunde wenig von der gewaltigen „Wort-Welt“, welche des Menschen nächste Welt ist[3]. „Wörtliche“ Auslegung bedeutet in Wirklichkeit textgerechte Auslegung. Texte aber sind nicht Summie­rungen von Wörtern oder Sätzen, sondern stehen immer unter einem bestimmten Gestaltungs­prinzip, einer „Form“ also, die man mit den Baustilen der Architektur in Vergleich setzen kann. Diese literarischen Formen hängen in ihrer jeweiligen Eigenart vom Darstellungsgegen­stand, vom Aussageziel, von den Denkeigentümlichkeiten und Stilmitteln eines bestimmten Milieus und der jeweiligen Epoche ab. Nur wer die literarische Gattung eines Textes in Rech­nung stellt, also Einzel­aussagen vom Ganzen her in ihrem Stellenwert bestimmt, legt text- und damit wortgemäß aus. Wer darum das Alte Testament für die Verkündigung aufschließen will, muß offen sein für die „vielerlei Weisen“ göttlicher Offen­barung. Sie dulden gerade wegen der Pflicht der Hörsamkeit gegenüber dem Offenbarungsgott kein okzidentales Prokru­stesbett.

III.

Eine Gesamtdarstellung der alttestamentlichen Botschaft hat nicht nur in ihrer breiten Streu­ung in 45 Büchern und in ihren vielfältigen Einkleidungen (= literarischen Genera) ihre Schwierigkeit, sondern auch in dem „Vielmals“, von dem Hebr 1,1 spricht, d. h. in ihrer lan­gen geschichtlichen Erstreckung über weit ein Jahrtausend hinweg. Der Charakter einer „reve­latio in fieri“ steht an sich einem systematisierenden Erfassungsversuch dieser Offenba­rung hindernd im Wege. Anderseits verlangt unser Geist von seinem Wesen her eine zusam­men­fassende Überschau. Es muß also gewissermaßen ein Weg zwischen Skylla und Charyb­dis gesucht werden. Er kann in der Tat ge­funden und gegangen werden, weil es in der alt­testa­mentlichen Offenbarung bei all ihrer jeweiligen Geschichtlichkeit Grundthemata gibt, die, wenn auch meist abgewandelt, immer wieder antönen und als solche neu aufgenommen und entfaltet werden. So gewinnt die alttestamentliche Botschaft insbesonde­re im Bereich der göttlichen Selbsterschließung im Laufe der Geschichte deut­liche und feste Konturen. Es bildet sich so gleichsam eine Mittelachse heraus, welche Gewichtigeres von Ungewichtigerem, Zen­trales von Peripherem zu unterscheiden ermöglicht. [157]

B. HAUPTTEIL: DIE GRUNDBOTSCHAFT DES ALTEN TESTAMENTS

I. Die Botschaft vom alleinzigen Gott

Für die Religionen in Israels Umwelt ist das große Götter-Pantheon charak­teristisch. In Israel wird dagegen von Anfang an der Eingottglaube zum Kristallisationskern und Strukturgesetz alles religiösen Glaubens und Tuns. „Jahwe allein!“, dieser prägende Imperativ aller Verkün­digung wendet sich allerdings zunächst an die religiöse Praxis (vgl. das 1. Gebot!). Daß damit nicht Monolatrie, sondern Monotheismus gemeint war, enthüllte sich aller­dings erst im Laufe der Offenbarungsgeschichte. Im Volke rechnete man relativ lange mit der Existenz der Götter anderer Völker bzw. Religionen (vgl. Ri 11,24; 1 Sam 26,19; 2 Kg 3,27). Es wurde zu einer der Aufgaben der Propheten, den im mosaischen Erbe enthaltenen Eingottglauben auch zu einem theoretisch-dogmatischen Monotheismus zu entfalten. So hat bereits Elia (um 850 v. Chr.) seinen Kampf gegen den Baalismus mit der Parole geführt: „Jahwe ist der Gott (schlechthin)!“ (1 Kg 18,39; vgl. V. 37). Amos (um 760 v. Chr.) verkündete Jahwe als den Lenker und Richter auch der Feindvölker Israels (Am 1-2; 9,7). In der Berufungsvision des Jesaja sind alle „Himmlischen“ zu Wesen depotenziert, die vor dem niederschmettern­den Glanz des Gott-Königs Jahwe ihr Antlitz verhüllen müssen (Jes 6,2), und der Prophet läßt keinen Zweifel daran, daß Jahwe auch Herr der großen Imperien ist (vgl. Jes 5,26 und Kap. 31). Deren Götter sind „Elilim“ (= Nichtse, Jes 2,8.18; 10,10; 19,3). Um 550 v. Chr. feiert Deutero-Jesaja die Alleinzigkeit Jahwes in nachgerade hymnischer Weise (vgl. Jes 41,28 43,10 45,21 u. a.). Dieser praktische und theoretische Eingottglaube hat schließlich im „Schema“ -Gebet Israels („Höre Israel, Jahwe ist unser Gott, Jahwe als einer allein“, Dt 6,4) sein tagtäg­liches Bekenntnis gefunden. Aus dieser „Geschichte“ des Monotheismus im Alten Testament geht klar hervor, daß es Gott vor der inhaltlichen Auffüllung des „Credo“ um die „Praxis“ geht, hier: um den „Monotheismus des Tuns und Lebens“.

Der Gerechtigkeit halber muß man vermerken, daß es auch in anderen Religionen monola­trische Tendenzen, vorab in der Privatfrömmigkeit, gab, ja daß für kurze Zeit in Ägypten (unter dem Pharao Echn-Aton um 1350 v. Chr.) sogar ein formaler Monotheismus zum Zuge kam[4]. Gerade an der Aton-Verkündigung wird jedoch klar, welch qualitativer Unterschied Aton von Jahwe trennt: Aton ist als Gott der Sonnenscheibe weltimmanent, Jahwe dagegen in seinen Sein und Selbst welttranszendent. [158]

II. Die Botschaft vom welttranszendenten Gott

In den Mythen der Völker gehören die Götter wie selbstverständlich zum „All“. Dem babylo­nischen „Enuma-elisch“-Mythus nach entstammen sie dem Urchaos und dessen göttlichen Grundkräften. Kaum entstanden, rebellieren sie gegen ihren elterlichen Urgrund und besiegen bzw. töten die Chaosmächte, um dann aus ihnen unsern Kosmos zu gestalten. Theogonie und Kosmogonie korrespondieren also einander. Dieser Glaube ist ein exem­plarisches Zeugnis für die prinzipielle Welthaftigkeit und „Welthaltigkeit“ der altorientalischen Gottheiten, so ver­borgen und ungreifbar sie auch vorge­stellt worden sein mögen. Ihr Sein ist „In-sein in Welt“.

Der alttestamentliche Offenbarungsgott ist unter dieser Hinsicht radikal anders. Das kommt am instruktivsten im Bilderverbot des Dekalogs zum Zeugnis. Selbst wenn dieses sich zu­nächst auf die Bilder anderer Götter be­zogen haben mag, so daß es manchmal zu einem volks­tümlichen Jahwebilderkult kommen konnte (vgl. Ri 17,4f; 1 Kg 12,28ff), war die bildlose Verehrung Jahwes von Anfang an in ihm angelegt (vgl. Ex 34,17); sie wur­de immer stärker profiliert (vgl. Dt 4,15 ff) und in Jes 40,18 theologisch be­gründet: „Mit wem wollt ihr Gott vergleichen und welches Gleichnis ihm zur Seite stellen?“ Die Welttranszendenz Gottes ist also der tiefste Grund für seine Nichtdarstellbarkeit. Ebenso vernehmlich verkündet auf seine Weise das 2. Gebot, das sicher die Magie mit im Auge hat, Jahwes Unwelthaftigkeit: jeder magische Einflußversuch auf Jahwe ist Abfall zum Glauben an einen welthaften und damit magischen Formeln ausgelieferten Gott. In Israel steht Magie darum unter schwerster Strafe (vgl. Ex 22,17; Dt 18,9-13). Die so aus dem Dekalog hervorleuchtende Transzendenz Jahwes offenbart sich im übrigen Alten Testament unter vielfachen Aspekten.

1. Jahwe, der räumlich, völkisch und kosmisch ungebundene Gott

Wie sehr die Götter in Israels Umwelt als einer Region zugehörig gedacht wurden, ersieht man aus der Geschichte von Naaman dem Syrer in 2 Kg 5: er nimmt auf Maultieren israeli­tische Erde mit, um auf ihr in Damaskus den Gott Israels verehren zu können (V. 17). Jahwe dagegen erscheint schon in der Väterzeit als der überall — in Mesopotamien, Ägypten, Palä­stina — ohne Einschränkung durch andere Götter frei Waltende und Verfügende. Er ist drum für Israel auch nicht der Berggott vom Sinai-Horeb — „er fährt“ auf den Gottesberg „hernie­der“ (vgl. Ex 19,11.18.20), residiert also nicht auf ihm! —, noch ist er im zirkumskriptiven Sinn „der auf dem Sion Wohnende“ (Ps 9,12 u. a.). In der Vision des Jesaja (Jes 6) hat der Tempel nur Platz für die Königs­schleppe Jahwes. Der prophetisch geschulte Verfasser des Tempelweihege­betes läßt denn auch den Erbauer den für uns noch denkwürdigen Satz spre­chen: „Die Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, um [159] wieviel weniger dieses Haus!“ (1 Kg 8,27). Darum kann Jahwe nach Mich 3,12 und Jer 7,12 seinen Tempel auch der Zerstörung anheimgeben — ein für Israel fast undenkbarer Gedanke!

Jahwe weigert sich auch durch den Mund seiner Zeugen, im selben oder nur ähnlichen Sinn Volksgott (Israels) zu sein wie der Obergott des Pantheons bei anderen Völkern. Zwar zeigten sich auch in Israel Tendenzen, das Zu­sammen Jahwe-Israel im Sinne einer naturalen Relation oder zumindest als ein gegenseitiges Aufeinanderangewiesensein zu betrachten. Demgegen­über bezeugt die mosaische Überlieferung von Anfang an, daß der Bund Jahwe-Israel als frei­es Erwählungsverhältnis verstanden werden muß, wel­ches auch die Möglichkeit der Verwer­fung enthält. Die Propheten betonen fort und fort die pure Gnadenhaftigkeit des Bundes und öffnen damit den Blick für die Seinsdistanz zwischen Jahwe und Israel. Schon Amos (760 v. Chr.) macht sich zu ihrem Wortführer, wenn er als Bote Jahwes verkündigt: „Seid ihr nicht wie die Mohren vor mir, ihr Israelsöhne? Wohl habe ich Israel aus Ägypten geführt, doch ebenso die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir“ (Am 9,5). Jahwe verneint hier die Anwendung der gängigen Kategorie des Volksgottes. Sein in Freiheit mit Israel eingegan­ge­ner Sonderbund ist aufkündbar. Jeremia führt die einschlägige Verkündigung der Propheten auf ihre Spitze durch die Verheißung eines den Alten Bund ablösenden „Neuen Bundes“ (Jer 31,31 ff).

In Anlehnung an den eindrucksvollen Spruch vom überräumlichen und darum allgegenwärti­gen Walten Jahwes in Am 9,3 ff bezeugt der Autor von Ps 139,7ff das raumtranszendie­rende Sein Gottes auf folgende einzigar­tige Weise: „Wohin könnte ich flüchten vor deinem Geist­braus, wohin flie­hen vor deinem Antlitz? Stiege ich zum Himmel auf—dort bist du! Wollte ich mich betten in der Unterwelt — du bist auch da zugegen. Höbe ich mich auf des Morgen­rots Schwingen und ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, würde deine Hand auch dort mich packen und deine Rechte mich greifen.“ In dieser seiner Überräumlichkeit übersteigt und übergreift Jahwe auch den ganzen Kosmos. Dies kommt nicht nur in den Wor­ten von 1 Kg 8,27f (Tem­pelweihegebet) zum Zeugnis, sondern auch in seinen Schöpfer­taten, ins­be­sondere in seiner Erschaffung aller Gestirne, die im Gegensatz zu den Mythen keine Götter­mächte sind, sondern nach Gen 1,14-18 nur „Leuchter“, also der Sachwelt zuge­hören und einem schlichten Schöpferwort ihr Dasein verdanken (vgl. auch Jes 48,13; Ps 33,9).

2. Jahwe, der alle Zeitlichkeit transzendierende Gott der Lebensfülle

Die nach den Mythen dem All verhaftete Götterwelt unterliegt grundsätzlich auch dem Wer­de- und Vergehensprozeß der Natur. Darum gibt es Geburt und Tod und Wiederaufleben der Götter. Dieser mythischen Denkweise widerspricht das Alte Testament radikal. Nur die Welt hat einen Anfang, [160] Gott nicht. Die Existenz gehört so sehr zum Gottsein Jahwes, daß der Autor von Gen 1,1 sich den Hinweis auf Gottes „Dasein im Anfang“ ersparen kann. Ps 90,2 indes bekennt ausdrücklich: „Ehe die Berge geboren waren, ehe Erde und Erdkreis in Wehen lagen, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Wenn V. 4 dann sagt: daß tausend Jahre vor Jahwe sind „wie der gestrige Tag, wenn er vergangen“, so wird hier gleichnishaft verkündet, daß Jahwes Existenz und Leben sich nicht „zeitigt“, sondern alle irdische Zeit schlechthin transzendiert. In diesem Sinne nennt ihn auch Deutero-Jesaja „den Ersten und den Letzten“ (Jes 44,6; 48,12). Nach Jer 10,10 (Einschub!) ist Jahwe ewiger Gott als lebendiger Gott. Sei­ne unbegrenzte Lebensfülle ist also der innere Grund seiner Ewigkeit. Wenn Israel gern beim „lebendigen Gott“ schwört (vgl. Ri 8,19; 1 Sam 14,39 u. ö.), so bezeugt es damit Jahwes Lebendigkeit als Höchstes und Tiefstes seines Wesens. Dieses Leben ist so überreich, daß es durch nichts gemehrt werden kann, weder durch des Menschen Gerechtigkeit (Job 35,6) noch durch seine Lauterkeit (Job 22,2), noch durch Fasten (Sach 7,5), noch durch Opfer (Jes 40,16; Ps 50,12f). Be­sonders letzteres bedeutet einen fundamentalen Unterschied der alttesta­ment­lichen Botschaft gegenüber den Mythen, in welchen die Götter durch den Opferkult eine „Le­benszufuhr“ aus dem Kosmos erfahren. Jahwe dagegen ist der absolut auf Welt und Mensch Unangewiesene.

3. Jahwe, der übergeschlechtliche Gott

Im Geschlechtlichen tut sich im Tier- und Menschenbereich die Quelle des Lebens auf. Zu­gleich gehört der den Sexus umgreifende Eros für den Men­schen zur Fülle seines Lebens­vollzuges. Von daher ist es nicht erstaunlich, daß diese Kategorien in den Mythen auch die Götterwelt prägen: die Götter bilden je Paare aus männlichen und weiblichen Gottheiten. Ihre Liebes­einung bedeutet zugleich kosmische Fruchtbarkeit. Man versucht darum, in einer kultischen Nachahmung dieses „hieros gamos“, d. h. der „heiligen Hochzeit“, die Fruchtbar­keit in der Natur zu beschwören und zu fördern. In der Baalsreligion ist dieser orgiastische Kult sogar ins Zentrum gerückt. Im Gegensatz zu all diesen Vorstellungen ist der Gott des Alten Testaments Alleinwesen. Nicht einmal das Wort „Göttin“ ist uns überliefert. Jahwe hat kein weibliches Gegenüber, wiewohl auch er als Quelle alles Lebens gilt, wiewohl er ferner mit menschlichen Zügen ausgestattet und in ungetrüb­ter Lebensfülle vorgestellt wird. Selbst die Vatervorstellung wird nicht in einseitig maskuliner Weise auf ihn angewandt: er wird in Jer 49,15; 66,13 auch mit der Mutter verglichen, und das oft auf sein Verhalten angewendete Wort „barmherzig“ bedeutet im Hebräischen „mütterlich“. Wohl erscheint Jahwe in der Aus­deutung des Bundes als Ehebundes (Hos 1-3 u. a.) in der Gestalt von Bräutigam und Gemahl, aber dies ist allegorisch gemeint und bezieht sich dabei nicht auf sein Sein, sondern auf sein Tun (= Bundesliebe!). [161]

Die Geschlechtstranszendenz Jahwes ist singulär im Alten Orient; sie ist auch nicht durch eine Art „Geschlechtsangst“ erklärbar, weil es diese im Alten Testament nicht mehr als sonstwo gibt, und Gen 1,27 die Geschlecht­lichkeit des Menschen auf Gottes Schöpfungstat zurück­führt und sogar in die „Ebenbildlichkeit“ des Menschen einbindet.

4. Jahwe, der wesenhaft heilige Gott

Das „Heilige“ ist neben dem Wahren, Guten und Schönen ein Grundbereich menschlicher Ausgerichtetheit von urher. Ihm entspricht die allgemein-religionsgeschichtliche Kategorie des „tabu“. Das korrespondierende he­bräische Wortfeld ist von der Wurzel q-d-s und ihren Derivaten besetzt (= heilig). Die zugrunde liegende Idee bedeutet: Getrennt-sein, Anders-sein. Diese Aussage wurde bald auch auf Jahwe selbst bezogen (in Gen 28,17; Ex 3,5 noch ortsbe­zogen!), um ihn als „mysterium tremendum“ zu kenn­zeichnen, wie es sich in den Feuertheo­phanien (vgl. Ex 20,5 u. a.) anzeigt. Die Heiligkeit Jahwes ist dabei zuerst ontisch, dann aber zugleich ethisch zu fassen. Sie macht gleichsam sein Wesen aus. Nach Am 4,2 schwört Jah­we bei seiner Heiligkeit; sie ist ihm also Höchstes und Letztes. Jesaja erfährt Jahwe in der Beru­fungsvision (Jes 6) als König voll erschreckender Erha­benheit, blendender Lauterkeit und niederschmetterndem Glanz (kabod!). All dies meint das dreimalige qadoš (Sanctus!) der Se­raphen. Kreatur- und Sündenbewußtsein zugleich bleiben die einzige noch mögliche mensch­liche Reaktion auf solche Heiligkeitsmacht. Die jesajanische Hauptbezeichnung für Jahwe ist darum „der Heilige Israels“ (vgl. 1,4; 5,19; 10,20 u. ö.). Nach Deutero-Jesaja ist Jahwes Un­vergleichlichkeit mit Welt und Mensch das Kennzeichen seiner Heiligkeit (vgl. Jes 40,15.25; 55,8 u. a.). Die gesamte Priestertheologie ruht auf dem Theologumenon von Jahwes Heilig­keit auf (vgl. Lev 19,2 u. ö.).

Die Welttranszendenz Jahwes, wie sie in den aufgezeigten Perspektiven zutage tritt, ist das große Unterscheidungszeichen des Jahwismus und gehört so sehr zum Grundbestand seines Glaubensgutes, daß die Autoren des Alten Testaments ohne Gefahr des Mißverständnisses die vielen Anthropo­morphismen und Anthropopathismen auf Gott anwenden konnten, welche dem abendländischen Verständnis so viele Schwierigkeiten bereiten. Diese menschenförmi­gen Ausdrucksweisen lassen das unfaßliche und unbegreif­liche Sein und Wesen Jahwes intakt, ja bekommen von ihm her ihren ersten Sinn und Stellenwert: wollen sie doch zunächst bild- und gleichnishafte Bezeichnungen nicht für das Wesen Gottes, sondern für sein Tun und Walten, also seinen Selbstbezug auf Welt und Mensch sein. Wenn man dagegen einwenden mag: „agere sequitur esse“, so muß man allerdings diesem Ein­wand wenigstens in einer ge­wissen Hinsicht stattgeben: es besteht nämlich [162] kein Zweifel, daß in den kühnen Anthro­pomorphismen des Alten Testa­ments zugleich das am Wesen Gottes aufleuchtet, was man Personalität nennt.

III. Die Botschaft von Jahwe als personalem Gott

Der Hebräer hat den Begriff des Geistes und der Geistigkeit nicht philoso­phisch durchreflek­tiert und entwickelt. Dennoch hat er das Wesen des Geistseins als eines Seins, das sich selbst hat und zu sich selbst verhält, in der Wurzel erfaßt und gerade in seinem durch und durch per­sonal geprägten „Gottesbild“ zur höchsten Darstellung gebracht. Jahwe ist zwar der Unfaß­liche und damit der als selbst alles Umfangende einfachhin Unumfangbare, aber er ist niemals das Unendliche, das Umfassende im Sinne eines absolut unbestimmbaren „Es“. Jahwe offen­bart sich als „Ich“ und „Er“, als ein „Selbst“ schlechthin. Diese „Selbsthabe“ bedeutet kei­nerlei Eingrenzung seines Wesens, das eben als unendliches in unendlicher Weise sich selbst offen und verfügbar ist, während beim Menschen die Personalität „die Selbst­habe eines end­lichen Wesens in endlicher Weise“ meint.

Die Personalität Jahwes wird im Alten Testament am erhellendsten offen­bar in seinem „Spre­chen“. Darin äußern sich personale Urgegebenheiten wie Erkenntnis und Weisheit, Wille und Freiheit, und dies nicht nur im Gegenstand, sondern schon in der Tatsache des Sprechens selbst, in welchem das Alte Testament schließlich alles „Walten Gottes nach außen“ zusam­menschließt und so vom kosmisch-schöpferischen, vom geschichtsmächtigen und vom spezi­fisch-offenbarenden Wort Jahwes kündet. Gerade letzteres Sprechen Gottes erfolgt bei den Propheten oft in der Weise des Gottesspru­ches, in welchem das „Ich“ Gottes redendes Subjekt und der Mensch das von Gott angeredete „Du“ ist. Am instruktivsten für Jahwes Personalität sind dabei die Selbstbezeugungen seiner Freiheit und Souveränität wie etwa Ex 33,19: „Ich neige mich gnädig, dem ich mich gnädig neige; ich erbarme mich dessen, dessen ich mich erbarme“; oder Jes 46,10: „Ich spreche: mein Plan steht fest; was mir gefällt, das vollführe ich.“ Was überhaupt in den prophetischen Gottesreden von Jahwe am meisten offenbar wird, sind per­sonale Wesensvollzüge. Manchmal läßt er geradezu in sein „Inneres“ schauen. Diese seine personale Lebensmitte wird öfter ausdrücklich „Herz“ genannt (vgl. Gen 6,6; 1 Sam 13,14; Hos 11,8; Jer 3,15 u. a.), womit der Hebräer die ganze innere Lebendigkeit der Person, also Erkenntnis, Wille und Ge­müt in einem einzigen Ausdruck zusammenfaßt.

IV. Die Botschaft von Jahwe als dem „Gott für Welt und Mensch“

Jahwe als „göttliche Freiheit in Person“ hat in dieser absoluten Selbstverfüg­barkeit sein Wesen „verfaßt“ zum Gottsein für Welt und Mensch. Das ist die tragende Mitte aller bibli­schen Botschaft im Alten und Neuen Testament. [163] Auf der dunklen Folie des „mysterium tremendum“, wie es sich in der Welt¬transzendenz Jahwes bezeugt, leuchtet um so heller die­ses „mysterium fascinosum“ auf. Diese „Frohbotschaft“ ist also nicht erst dem Neuen Testa­ment vorbehalten. Sie kann — „pädagogisch“ — so formuliert werden: Der welttranszendente Gott transzendiert sich in seiner personalen Freiheit ge¬wissermaßen selbst auf Welt und Mensch hin. Wie im alttestamentlichen Zeugnis von der Welttranszendenz Gottes alle Mythen in ihrem immanentistischen Kern zerbrochen werden, so wird auch in diesem „Evangelium“, das bereits im Alten Testament voll auftönt, allem religionsgeschichtlichen Denken und Han­deln, insofern es sich fundamental auf der Linie vom Men¬schen zu Gott bewegt, widerspro­chen: die Basis- und Bestimmungslinie der „Offenbarungsreligion“ geht von Gott zur Welt und zum Menschen hin. Des Menschen religiöses Denken und Tun ist nur „Antwort“ auf die­ses „Grundwort“ des Offenbarungsgottes.

1. Das Zeugnis der Namenoffenbarung

Das oben anskizzierte „Evangelium“ des Alten Testaments kommt am dichtesten und ein­drücklichsten im Namen „Jahwe“ selbst zum Zeugnis und Ausdruck. Über 6800mal begegnet dieser gottbestimmte Offenbarungsname im Alten Testament[5]. Inwiefern in diesem Namen die bundeswillige „Selbsttranszendenz“ Gottes zur Offenbarung und zum Leuchten kommt, wird im zweiten Bandes des vorliegenden Werkes (S. 120f) durch die exegetische Aufschlie­ßung der Namensoffenbarungsperikope von Ex 3 näherhin dargelegt und begründet (II).

2. Das Zeugnis der biblischen Urgeschichte

Gen 1-11 stellen in der Geschichte der Offenbarung keineswegs den Anfang der Offenba­rungserkenntnis dar, sondern bilden den äußersten (konzentrischen) Kreis, welchen das Glau­bensbewußtsein Israels von der zentralen mosaischen Selbsterschließung Gottes her auszu­leuchten vom inspirierenden Gott autorisiert wurde. Dabei haben diese Kapitel selbst eine Geschichte, die vom Ende des 10. Jahrhunderts (J) bis zum Ende des 6. Jahrhunderts (P) reicht. Dennoch muß in Anschlag gebracht werden, daß diese „Urgeschichte“ über ein halbes Jahrtausend hin fester Bestandteil des israelitischen Glaubensgutes war und darin gerade die Anfänge der Zuwendung Gottes zu Welt und Menschheit vergegenwärtigte. Darum hat es einen guten Sinn, bei der Darstellung der Grundbotschaft des Alten Testaments an dieser Stelle die dramatisch-bildhafte, vom Bund Jahwe—Israel her ätiologisch entworfene theolo-gische Schau und Lehre von Gen 1-11 kurz anzuskizzieren. [164]

a) Jahwe als Schöpfergott

Das Alte Testament wird eröffnet durch zwei Schöpfungserzählungen: Gen 2,4-25 ist die ältere, und zwar jahwistische Darstellung (J), die allerdings zugleich als Prolog zu Gen 3 (Sünde und Fall) gewertet werden muß. Gen 1 enthält die jüngere, und zwar priesterschrift­liche (P) Beschreibung. Beide sind wegen ihrer Unterschiede in der Annahme des Anfangszu­standes der Welt (Wasserchaos in Gen 1 — Wüstenchaos in Gen 2) und vorab in der Ab­folge der Schöpfungswerke nicht naturhistorisch zu interpretieren. Mit ganz verschiedenen Stilmit­teln und Einkleidungsformen stellen sie die Relation Gott—Welt als Schöpfung dar (im akti­vischen und passivischen Sinne). Dabei ist beiden gemeinsam das Zeugnis, daß die Welt im ganzen wie im einzelnen die Setzung des Gottes ist, welcher Israel sich als „Gott des Bundes“ geoffen­bart hat. Zwar verwendet nur Gen 2,4ff den Namen Jahwe, aber auch bei Gen 1 ist es ganz evident, daß der Schöpfergott ’elohim kein anderer als der Bundesgott vom Sinai ist. Damit wird offenbar, daß der Kosmos nicht nur Zeugnis ablegt von der Allmacht und Weis­heit Gottes, sondern für den Gläu­bigen auch Gabe der göttlichen Zuwendung zum Menschen ist. Dies wird auch dadurch unterstrichen, daß die Weltschöpfung im Menschen ihren Mittel- (Gen 2) bzw. ihren Zielpunkt (Gen 1) hat. Der Kosmos, insbesondere die Erde ist der Mensch­heit (Adam = „Erdling“!) von Gott als Raum ihres Lebens und Waltens eingeräumt. Ist in den ostsemitischen Anthroposmythen der Mensch „religiös“ entworfen (Bediener der Götter im Speise-, Trank-und Duftopfer), so ist nach Gen 2,15 selbst der Mensch des Gartens von Eden — oft Paradies genannt— dazu berufen, diesen Garten „zu bebauen und zu behüten“. Nach Gen 1,26 findet im „Herrschen an Gottes Stelle“ die Ebenbildlichkeit des Menschen ihren konkreten Ausdruck, so daß der Mensch in Ps 8 dann echte Königsprädikate („du hast ihn gekrönt mit Glorie und Glanz“, V. 6, „Herrscher über deiner Hände Werk“, V. 7) zuge­spro­chen erhält. In diesem „Menschenbild“ leuchtet zugleich der „Gott der Zuwen­dung zu Welt und Menschheit“ auf.

In der durchgehenden Parallelisierung und Verschränkung von Schöpfer­gott und Erlösergott bei Deutero-Jesaja wird die Identität beider geradezu hymnisch gefeiert. Dies alles hat zur Konsequenz, daß im Alten Testament Kosmos und Materie – und damit auch die Leiblichkeit des Menschen— keiner­lei Schatten einer dualistischen Weltanschauung aufweisen, sondern „Zu­wendungen” des bundeswillig zugewendeten Gottes an den Menschen und damit Bezeu­gungen seiner schöpferischen Bundesliebe sind. Zugleich er­scheint darin das „Walten Gottes nach außen“ als ein einziges, dem das übliche verfestigte „Stockwerksdenken“ von „natür­lich —übernatürlich“ nicht gerecht wird, sosehr man unter einer bestimmten theologischen Hin­sicht beides auch unterscheiden kann. Schließlich ergibt sich aus den Schöp­fungsaussagen des „weltfrohen“ und „weltfrommen“ Alten Testaments die [165] Folgerung, daß der Welt­dienst des Menschen vor Jahwe und mit Jahwe auch wahrhaftiger Gottesdienst ist.

b) Jahwe als Heilsgott

Die Geschichte vom Garten Eden, der zugleich des Menschen wie Gottes Garten ist (vgl. Gen 2,8) bezeugt in ihrem jetzigen Rahmen — nach Gen 1! —, daß Gott mit der Menschheit ei­nen gnadenhaften Sonderbund einging, wel­cher dem Bundesverhältnis Jahwe—Israel nachge­zeichnet wird. Das Wort „Bund“ fehlt zwar, weil kein eigentlicher Bundesschluß erfolgt, aber die von Gott der Urmenschheit gewährte Heilssphäre weist ähnliche theologische Grunddaten auf wie die Bundesgemeinschaft Jahwe—Israel. Auch hier ist der Mensch zur Entscheidung aufgerufen, in diesem „Heil“ zu bleiben oder im Falle des „Nein“ damit zugleich sein „Un­heil“ zu ergreifen. Weiterhin ist charakteristisch, daß dem „Bundesbruch“ von Gen 3 Unglau­be gegenüber dem göttlichen Heilswillen zugrunde liegt. Die Sünde, deren konkrete Ge­stalt sich im Bild des „Essens vom Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen“ verhüllt — sicher meint sie letztlich den menschlichen Versuch, die absolute Autonomie in der Bestim­mung von „gut“ und „bös“ und damit von Heil und Unheil zu erringen —, ist darum mit der üblichen Kurzformel „Ungehorsam“ nicht voll erfaßt. Der Ungehorsamsakt ist zuengst ver­bunden mit einer „Unhörsamkeit“ gegenüber der Botschaft vom Bundeswillen, d. h. vom „Jahwe-sein“ Gottes. Damit aber wird schon in der biblischen Urgeschichte das Thema vom Glauben als der unabdingbaren bundespartnerischen Grundhaltung des Menschen gegenüber Gott angeschlagen und zugleich deutlich, daß Glaube nichts anderes meint, als Gott seinen Bundes­willen glauben.

Die weiteren Kapitel der Urgeschichte zeigen, daß die durch menschliche Schuld bereits in die Urmenschheit eingebrochene „Sündenmacht“ — das Alte Testament hat keine eigentliche Erbsündelehre! — eine die ganze Früh­geschichte prägende und sich darin noch steigernde Geschichtsmacht wurde, die Jahwe zu immer größeren Gerichten herausforderte, welche in der Sint­flut ihre Kulmination erreichten. Aber alle Gerichtserzählungen der „Ur­geschichte“ bezeugen noch auf ihre Weise, daß Jahwe grundsätzlich Jahwe, d. h. der „zugewendete Gott“, bleibt. Darüber hinaus enthalten Gen 3-11 aber auch eine ganze Reihe positiver Zeugnisse dafür, daß Jahwe sein prin­zipielles „Ja“ zum Menschen auch angesichts des je und je aktuali­sierten menschlichen „Nein“ aufrechterhält und somit seine Gnade größer ist als sein Ge­richtswalten. Darauf verweisen:

  1. Das sogenannte „Proto-Evangelium“ von Gen 3,15[6]. [166]
  2. Eva ist in Gen 4,1 auch nach der „Vertreibung aus dem Garten Eden“ bei der Geburt Kains dessen sicher, daß sie „mit Jahwe zusammen einem Männlichen Existenz gab“.
  3. Jahwe wendet sich in Gen 4,6 dem versuchten Kain zu, um ihn heils­willig zu warnen.
  4. Jahwe erklärt sich in Gen 4,9 zum „Blutsverwandten“ und damit zum „Bluträcher“ des unterdrückten Abel. (Eröffnung des durchgehenden biblischen Themas von Jahwe als dem „Anwalt der Gebeugten“.)
  5. Jahwe bleibt auch nach dem Urteilsspruch Schutzherr des Kain (Gen 4,15).
  6. Jahwe nimmt Henoch, den Typus der frühgeschichtlichen Gerechten, in seine endgül­tige Gemeinschaft auf (Gen 5,22ff).
  7. „Noach findet Gnade in den Augen Jahwes“ (Gen 6,8).
  8. Jahwe gewährt dem neuen „Stammvater aller Völker“ einen allgemeinen Heilsbund (Gen 9).

3. Das Zeugnis der Erzvätergerchichte

Auch die Väterüberlieferungen haben im Glaubensgut Israels keinen zentra­len Rang, sondern bilden gleichsam einen ersten konzentrischen Kreis um das mosaische Erbe. Dennoch weiß Israel, daß diese „Vorgeschichte“ des Bundes Jahwe—Israel grundsätzlich das Einsetzen der eigentlichen Jahweoffenbarung bedeutet. In diesem Sinne wurden von den Autoren von Gen 12-50 die in den verschiedenen Stämmen und Milieus umlaufenden Stamm­vätersagen gesam­melt, gesichtet, theologisch bearbeitet und genealogisch miteinander verknüpft und wuchsen so zum inspirierten Gottes- und Glau­benszeugnis zusammen.

Die Abrahamserzählungen werden in Kap. 12 eröffnet mit der Verheißung Gottes, daß Abra­ham der Stammvater eines „großen Volkes“ (= Israel) sein werde, das „allen Geschlechtern des Erdbodens“ Segen bringe. Der partiellen Heilsgeschichte Jahwes mit Israel wird damit von vornherein ein universaler Heilshorizont zugeordnet, der später von den Propheten als solcher bestätigt und mit neuen Lichtern erhellt wird (vgl. Jes 2,1 ff; Sach 8,20f; 14,16; Zeph 2,11; Mal 1,11; Jes 19,19.21 u. a.).

Wichtig als Zeugnis für den göttlichen Bundeswillen wie auch für des Men­schen Antwort darauf (im Glauben!) ist Kap. 15. Dessen erster Teil (V. 1-6) — ausführlich behandelt in Bd II dieses Werkes unter dem Titel: „Der Glaube Abrahams als Beispiel und Modell biblischen Glaubens“ (VII; S. 132ff) — ist gewissermaßen der eröffnende Prolog für die Verse 7-21 mit dem Thema: Der Bund Gottes mit Abraham als göttlicher Verheißungseid. Nach diesem sehr alten Bericht über einen Visionsschlaf (innerhalb eines Inkubationsritus!) Abrahams an einem kanaanäischen Heiligtum schaut der Stammvater seinen [167] Gott einen „Fluchsetzungseid“ (N. Lohfink)[7] leisten: Jahwe engagiert sich so stark in seinem Bundes- und Heilswillen, daß er in der Vision eine (be­dingte) Selbstverfluchung setzt wie sonstwo bundschließende Menschen (vgl. Jer 34,18). Hier bezeugt der Offenbarungsgott seine radikale Bindung an den Stammva­ter Israels und aller Gläubigen auf eine schlechthin unerhörte und unvergeßbare Weise.

Die Patriarchengeschichte ist überaus reich an den verschiedenartigsten Zeugnissen für die heilswillige Bundestreue Gottes, welche aller menschlichen Schwachheit und Untreue zum Trotz sich in der Geschichte durchsetzt und zur Formation des Jahwevolkes Israel führt. Diese Führungsgeschichte erfährt ihre besondere Illustration im „Josephsroman“. Vor allem in der „Rede an seine Brüder“ (Gen 45,1-13) enthüllt Joseph die Geschichte als Heilsgeschichte, gegen welche auch menschliche Bosheit letztlich nichts ver­mag. In 50,20 nimmt er dieses Thema aufs neue auf und findet dafür die geniale Formel: „Ihr habt Böses wider mich geplant, Gott aber hat es umgeplant zum Guten.“ In diesem Satz gipfelt gleichsam die Vätergeschich­te; in ihm wird das Schlüsselwort zur ganzen Bundesgeschichte artikuliert.

4. Das Zeugnis der großen „Sinai-Perikope“ Ex 19-34

Das eröffnende Wort für diesen aus den Traditionssträngen JEPD zusam­mengewobenen Basistext des alttestamentlichen Gottesbundes bildet der sogenannte „Adlerspruch“ Jahwes von Ex 19,4f: „Ihr habt selbst gesehen, was ich den Ägyptern getan habe und wie ich euch auf Adlersflügeln getragen und euch an mich gebracht habe. Wenn ihr nun getreu auf meine Stim­me hört und meinen Bund haltet, so werdet ihr unter allen Völkern mein Krongut sein; denn mein ist die ganze Erde. Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein!“

Damit sind die voraufgegangenen Exoduskapitel mit ihrer Schilderung der Rettung aus Ägyp­ten (1-15) und des Zuges durch die Wüste zum Sinai (15-18) einprägsam resümiert. Diese „Erlösung“ aus Ägypten ist für Israel die fundamentale, geschichtlich erfahrene und als solche immer bezeugte Heilstat Jahwes, auf der alle spätere Geschichte und der ganze Glaube des Gottesvolkes aufruht. Sie wird in der Verkündigung der Bundescharta (Ex 20,1-17) bei jeder großen Kultversammlung immer neu vergegenwärtigt und beschworen durch die Worte der Selbstvorstellung Jahwes als des Erlöser­gottes: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägyp­ten, dem Sklavenhaus, herausgeführt hat“ (Ex 20,1).

Der Bundesschluß selbst, der auf das Bundesangebot des „Adlerspruches“ folgt, wird in Ex 24 in einer Art „Festagende“ überliefert, die aus zwei Tra-[168]ditionen (I = 24,1-2 + 9-11; II = 24,3-8) zusammengewachsen ist. Die erste Quelle berichtet von einem Mahl der Ältesten Isra­els vor dem erschie­nenen Bundesgott („Sie schauten Gott und aßen und tranken“, V. 11), die zweite Quelle von einem Gottesdienst mit Brandopfern und Gemeinschafts­schlachtopfern (mit Mahl verbunden!). Die Verbindung beider Überliefe­rungen zu einer Einheit wurde da­durch ermöglicht, daß das Opfermahl auf dem Berge als Finale der Opfer auf dem Altare „am Fuße des Berges“ (V. 4) angesehen werden konnte.

Der Bundesschluß geschieht also am Altare. Aber Jahwe wird dabei als Tischherr gedacht, der mit der Kultgemeinde ein Mahl hält unter Verwendung der ihm dargebrachten Gaben. Diese Vorstellung hält sich im ganzen Alten Testament durch. „Bund” bedeutet im Hebräischen — zumindest volks­etymologisch — „Gemeinschaftsmahl“[8]. Im Pesach-Mahl (vgl. Ex 12) wurde Israel immer aufs neue an die bundstiftende Kraft des Opfermahles er­innert.

In Ex 24 läßt Jahwe (in einer Ersatzzeremonie für den kultisch nicht mög­lichen Blutgenuß) die Hälfte des Blutes auf das Volk sprengen, um damit an­zuzeigen, daß sein Bund ein „Bluts­bund“ ist, also „Blutsverwandtschaft“ stiftet und zugleich einen „Bund auf Leben und Tod“ bedeutet. Vor dieser Besprengung mit Blut, d. h. mitten in der Bundesliturgie, nimmt Mose die „Bundesrolle“ (= Bundescharta des Dekalogs) und liest sie dem Volke vor, welches dann antwortet: „Alles, was Jahwe geredet hat, wollen wir hörsam tun!“ Der Wortgottesdienst, in welchem auf das verheißende und weisende Wort des Bundesgottes die Antwort der Kultge­meinde erfolgt (später zu­gleich von Psalmen begleitet!), gehört demnach wesentlich zum Bundes­gottesdienst und weist den Bund als ein zutiefst personales Gemeinschafts­verhältnis aus.

Den Kern dieses Wortgottesdienstes bildet die Bundescharta des Zehn­gebots. Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug veranschlagt werden, wie in Bd II des vorliegenden Werkes (Dt 5,6-21: Die Bundescharta des Zehn­gebotes; S. 122ff) dargetan wird.

In Ex 21-23 — zumeist mit dem exegetischen Namen „Bundesbuch“ be­zeichnet — begegnen wir einer rechtlichen Ausarbeitung der mosaischen Grundweisungen; man könnte von einer Art „Grundgesetz des Gottes­volkes im Gotteslande“ sprechen. In dieser Bundesordnung fallen insbeson­dere die vielen Bestimmungen über das Verhalten der Bundesglieder zuein­ander auf. Hierin wird aufs neue offenbar, wie konstitutiv für die Offen­barungsreligion das mitmensch­liche Ethos ist, also die „Gerechtigkeit“, der später die Propheten ein Hauptgewicht geben. Auch der kultisch ausgerich­tete „neue Dekalog“ von Ex 34 hebt dieses „horizontale“ Charak­teristikum der Jahwereligion nicht auf. [169]

5. Das Zeugnis der Propheten in ihrer Auslegung der Bundescharta

Die alttestamentlichen Propheten sind nicht zunächst „Weissager“ und „An­kündiger des Mes­sias“[9]. Ihr Hauptanliegen ist die auf ihre jeweilige Zeit und Welt bezogene Verkündigung der unverkürzten Jahweoffenbarung und damit vorab die Durchsetzung der mosaischen Bundes­charta im Jahwevolk. Da zumeist der Bundesbruch — nicht die Bundestreue — in Israel die Herr­schaft hat, müssen sie überaus häufig die Strafreaktion Jahwes verkünden. Sie tun es aber immer mit einer klaren Begründung durch Aufdeckung der sträf­lichen Zustände im Gottes­volk. Dadurch wird ihr „Gott des Gerichts“ als ein nicht willkürlich waltender, sondern sitt­lich handelnder Gott erwiesen. Sein letztes Wort bleibt auch bei den Propheten die Gnade. Sie suchen nicht nur durch Strafandrohungen — „Strafe“ ist im Alten Testament göttlich ge­wirk­tes Sichauswirkenlassen der bundesbrüchigen und in sich selbst nach dem Unheil ausgreifen­den Taten — die Umkehr des Volkes und vorab seiner füh­renden Schichten zu erreichen, sondern auch durch „Aufhellung“ der Jahweoffenbarung, indem sie Jahwes Zuwendungswil­len auf die verschiedenste Weise ins Licht rücken. Man kann aus den genannten Gründen die meist unchronologische und unsystematische schriftliche Hinterlassenschaft der Propheten am besten durchschaubar machen, wenn man den zum Teil offe­nen, zum Teil verborgenen Bezie­hungspunkt ihrer Verkündigung, d. h. die Bundescharta des Dekalogs, als „Koordinatensy­stem“ ihren Texten zuordnet. Demgemäß stellt sich uns die Frage, was die Propheten zu den beiden Teilen des „Bundesformulars“ — 1. zur Selbstvorstellung Jahwes,2. zur Willens­offen­barung Jahwes in den zehn Weisungen — verkündet haben. Die Antwort muß dabei nicht nur die Propheten einbeziehen, sondern auch andere Texte, die von ihrer Verkündigung sichtlich beeinflußt wurden.

a) Die prophetische Jahwebotschaft

α) Jahwe als Vater. — Hosea (um 750 v. Chr.) und Jeremia (um 600 v. Chr.) vor allem sind die Propheten, welche uns am meisten ins Innere Jahwes schauen lassen. In Hosea 11 (vgl. Bd. II, S. 125ff: IV. Hosea 11,1-9: Jahwe als Vater) läßt Jahwe seine Zuwendung zu Israel im Bild der Vaterliebe in einer Weise darstellen, wie wir sie selbst im Neuen Testament kaum antreffen. Die Farben gehen von der Fürsorglichkeit bis zur Zärtlichkeit und damit zur Mütter­lich­keit Gottes. Ähnliches zeigt sich in Jer 31,15-20 (vgl. Bd II, S. 126). Das Vaterthema begegnet ferner in Jes 64,7; Mal 2,10. In Jes 49,15; 66,13 wird es abgewandelt zum aus­drück­lichen „Mutterthema“, wie es der häufigen Prädikatur Jahwes aus dem Wortfeld der „Barm­herzigkeit“ (im hebr. = Mütterlichkeit) entspricht. [170]

ß) Jahwe als Hirt. — Die Benennung des Herrschers als eines „Hirten“ ist ge­mein-orien­talisch. In der biblischen Anwendung des Hirtenbildes auf Jahwe kommt indes nicht zunächst das Herrscherliche, sondern das Fürsorgerliche des Hirten zum Zuge. Das klassische Zeugnis dafür ist Ex 34. Nachdem in V. 1-10 die früheren gottbestellten „Hirten“ (= Könige und über­haupt die gesamte Führungsschicht einschließlich der Priester) als „Hirten, die sich selbst wei­den“, entlarvt und verworfen werden, stellt sich in Vv. 11-23 Jahwe selbst als „der gute Hirt“ Israels vor: „Das Verirrte werde ich suchen, das Versprengte heimführen, das Verletzte verbinden, das Kranke stärken, das Fette und Kräftige behüten; ich werde sie weiden in rech­ter Art!“ (V. 16.)

Das Hirtenthema klingt ferner auf in Mich 4,6; Zeph 3,19; Jer 31,9. Ps 23 verwendet es als Vertrauensmotiv und verleiht ihm hymnischen Ausdruck.

γ) Jahwe als Gemahl. — Wiederum ist es Hosea, der autorisiert wird, diese kühne Thematik in die Jahweoffenbarung einzubringen. Der Eros zwischen Mann und Frau wird dabei so sehr zum Gleichnis für das Bundesverhältnis Jahwe—Israel, daß Jahwe selbst sich Titel und Tat eines Gemahls zueignen läßt. Dies kommt insbesondere in Hos 2 zum Zeugnis (vgl. Bd II, S. 129 ff: IV. Hos 2,18-25: Der Gottesbund der Endzeit als „Gottesehe“). Ein Echo auf Hosea, insbesondere auf seine Anprangerung Israels als einer — nach anfäng­licher Treue — im Baalsdienst ehebrüchig gewordenen Frau, finden wir in Jer 2,2ff und vorab in Ez 16. Auch das „Weinberglied“ von Jes 5,1-7 hat dieses Thema als Hintergrund. In Jes 54 wird Hos 2 wieder positiv aufgenom­men und aktualisiert (vgl. V. 5: „Dein Schöpfer wird dein Gemahl“) und findet sich auch bei Trito-Jesaja wieder (61,10 f; 62,4f). Der Autor des Hohen Liedes hat sich von diesen Prophetentexten inspirieren lassen, um nicht nur Eros und Ehe zu feiern, son­dern um auch durch deren Transparenz hindurch die „Gottesehe“, insonderheit in ihrer escha­tologischen Fülle, dichterisch zu beschwören.

δ) Jahwe als König. — Der Königstitel ist im Alten Orient die meistverbreitete Prädikatur für den Obergott des Pantheons, der den einschlägigen Mythen zufolge im Götterkampf mit den unheimlichen Chaosmächten den Sieg her­beigeführt und den lebenspendenden Kosmos ge­schaffen hat. In Israel hat man die Königstitulatur für Jahwe nur mit Reserve rezipiert. Haupt­hindernis scheint die Melek-Verehrung (mit Kinderopfern! Moloch!) in der palästi­nensischen Umwelt gewesen zu sein. Wahrscheinlich hat man am Tempel von Jerusalem Jahwe zuerst den Titel „Melek“ gegeben. Für das B. Jahrhundert bezeugt dies jedenfalls Jesaja in seiner Berufungsvision (6,5). Er kommt aber bezeichnenderweise sonst nie auf diese oder eine ähn­liche Prädikatur zurück. Zugleich wird aus seiner Botschaft deutlich, daß er Jahwe nicht mehr in erster Linie als „König des Kosmos“, sondern vor allem als „König der Geschichte“ be­trachtet, was die Wüstentradition von Jahwe als „Herzog“ Israels weiterführt und sie auf die Ebene der Geschichte transponiert (= „Transmigration“ des Gottesvolkes in der Dimension der Zeit!). Ähn-[171]liches treffen wir bei Ezechiel an, vorab in 20,33f: „Mit starker Hand und aufgerecktem Arm und ausgeschüttetem Grimm will ich König sein über euch und will euch aus den Völkern herausführen und aus den Ländern, wo­hin ihr zerstreut worden seid.“ Hier erhält die Königstitulatur eindeutig eine verheißende Bedeutung: Gott wird als König seine Macht in den Dienst seines Bundeswillens stellen und so das Chaos der Geschichte beenden. Deutern-Jesaja läßt angesichts der Nähe der von Ezechiel angesagten Be­freiung und neuen Landnahme die Frohbotschaft an Sion ausrichten: „Dein Gott ist König!“ (52,7). Dem­gemäß interpretiert er in 40,6 das Königtum Jahwes als Erlösertum. So wird die Königstitu­latur immer stärker eschatolo­gisch akzentuiert und gefüllt, wie dies insbesondere aus Zeph 3,15; Ob 21; Sach 14,9.16f; Jes 24,23 hervorgeht (vgl. auch Jer 10,10; Mal 1,14). Daß das Königswalten Jahwes am Ende zu einem unzerstörbaren und ewigen „Königreich“ führt, be­zeu­gen in der Spätzeit der alttestamentlichen Offenbarung Dan 2,44; 4,22; 7,27.

Die uns erhaltenen Psalmen vom Königtum Jahwes stehen in ihrer jetzigen Gestalt wohl durchweg unter dem Einfluß der einschlägigen prophetischen Verkündigung (vgl. zum Thema „König-Jahwe-Psalmen“ Bd II, Ps 96: Jahwe, der König der Welt und der Geschichte). Des­senunbeschadet können Ez und Dt-Jes von einschlägigen vorexilischen Tempelpsalmen in ihrer Jahwe-König-Verkündigung thematisch angeregt worden sein.

b) Die prophetische Willensoffenbarung Jahwes

Der Übergang von der nomadischen und halbnomadischen Existenz der israelitischen Stämme in das sedentäre Stadium in einem stark vorgeprägten Kulturraum mit seiner Ackerbau- und Fruchtbarkeitsreligion mußte die mosaische Jahwereligion in eine Krise bringen. Die Zwölf- Stämme-Amphiktyonie hatte zwar ihren festen Mittelpunkt im zentralen Lade-Heiligtum, aber dieses Zentrum hatte, wie das Richterbuch allenthalben dartut — auch infolge politischer Divergenzen der Stämme —, keine genügende Ausstrahlungskraft. Die Einführung des Königtums schuf neue Krisenherde, die bereits unter Salomo (ca. 970-930 v. Chr.) virulent wurden. Nur der prophetischen Be­wegung ist es zu verdanken, daß der Jahwismus sich durchhielt und alle Krisen schließlich überwand.

α) Der prophetische Kampf um das 1. Gebot (= Jahwe allein!). — Nach 1 Kg 11,31ff hat der Prophet Achia die Teilung des Salomonischen Reiches angesagt, weil Salomo — trotz des Tempelbaus in Jerusalem — Fremdkulte duldete und förderte. Im Nordreich ist um 850 v. Chr. der Prophet Elia aufgestanden gegen die zunehmende „Baalisierung“ Israels unter Achab und Jezabel. Sein Kampf führte im Gottesurteil auf dem Berge Karmel (1 Kg 18) zu einem vor­läufigen Sieg des Jahwismus. Aber wie (100 Jahre später!) die Predigt des Propheten Hosea zeigt, wurde der Jahweglaube immer wieder und sogar [172] wachsend synkretistisch durchsetzt: Jahwe und sein Kult nahmen Züge der Baalsreligion an. Hosea deckte in seiner Verkündigung diese „Buhlerei“ bis in ihre feinsten Verästelungen auf und kämpfte bis an sein Lebensende — im ganzen erfolglos — gegen die Untreue gegenüber Jahwe, wie sie sich in Glaube, Kult und Politik breitmachte. Im Südreich ging es um diese Zeit, wie Jesajas Tätig­keit zeigt, weniger um den Abfall zu fremden Göttern als um die Un­treue des Unvertrauens: der König und die führenden Kreise setzten nicht auf Jahwe und sein Beistandswort, sondern auf irdische Machtmittel und Mächte (vgl. Jes 7). Unter König Manasse (ca. 690-630) dran­gen dann aber auch im Südreich Fremdkulte bis ins Heiligtum von Jerusalem vor, so daß Zephanja (ab 630), Jeremia (ab 625) und noch Ezechiel (ab 598) sich für die Wahrung des Grundgebotes einsetzen mußten. Erst das Exil bewirkte und besiegelte die endgültige Durch­setzung des reinen Jahweglaubens bei den Verbannten in Babylon. Allerdings lebten nach der Rückkehr aus dem Exil einzelne abgöttische Winkelkulte (vgl. Jes 65,3ff 11) wieder auf. Den­noch war beim Erlöschen des Prophetismus sein Ziel: „Jahwe allein!“ grundsätz­lich erreicht.

ß) Das Engagement der Propheten für das mosaische Gottesrecht (= mitmenschliche Ge­rechtigkeit). — Da der Offenbarungsgott sich Israel als „Jahwe“, d. h. als Gott der Zuwen­dung zu Welt und Mensch erschlossen hat, ist es nur kon­sequent, daß das im Grundgebot geforderte „Ja“ zu ihm nur dann eine ganze Entscheidung zu ihm ist, wenn der Mensch „in ihm und durch ihn und mit ihm“ sein engagiertes „Ja“ zum Menschen gewissermaßen mit­spricht und damit die göttliche Zuwendung zum Menschen gleichsam sichtbar gegen­wärtig setzt. Darum wird im Jahwismus, wie der Dekalog zeigt, das mit­menschliche Ethos in die Mitte der „Religion“ hineingezogen. Alle Weisun­gen der sogenannten „2. mosaischen Tafel“ sind deshalb vom Mitmenschen aus und auf ihn hin formuliert. Wie die „Religionen der Völ­ker“, aber auch noch bestimmte Bewußtseinslagen der Christenheit zeigen, ist es jedoch eine bleibende Versuchung des Menschen, „Religion“ als „Vertikale“ zu begrei­fen, der man dann höchstens „moralische Konsequenzen“ in der Horizon­talen zubilligt. Auch in Israel erlag man immer wieder der Versuchung, das religiöse „Praktizieren“ als „Vertikale“, näherhin als Opferdienst (= Gottes­dienst!) zu fixieren. Wiederum haben die Propheten einer solchen „religions­geschichtlichen“ Religion radikal widersprochen.

Ein frühes und instruktives Beispiel dafür gibt der beamtete Hofprophet Nathan gegenüber David, seinem königlichen Herrn. Er zieht den Bruch der Bundescharta durch David (betr. 9., 6. und 5. Gebot, 2 Sam 11) ans Licht und spricht dem König das vernichtende Urteil (2 Sam 12,1-12). Ähnlich wie Nathan für den Hethiter Uria (Mann der Betsabe) tritt Elia für den Freibauern Nabot und seine Familie ein (1 Kg 21). Der Bruch des Gottesrechtes (betr. 10., 8., 5., 7. Gebot) durch Achab und Jezabel ruft das durch Elia übermittelte Strafwort Jahwes ge­gen das Königshaus auf den Plan. [173]

In der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Blütezeit unter König Jerobeam II. von Nordisrael (ca. 785-745 v. Chr.), in welche zugleich die erwähnte starke Überwachsung des Jahwismus durch den Baalskult fällt, wird nicht zuerst Hosea, sondern der Prophet Amos (ab 760) nach Israel ent­sandt. Vordringlicher als die Wiederherstellung des orthodoxen Credo scheint Jahwe sein „Gottesrecht“ im Sinne der mitmenschlichen Gerechtigkeit zu sein. Denn die Predigt des Amos berührt Probleme des 1. Gebotes nur am Rande, setzt sich aber mit aller Vehemenz allenthalben für den „mišpaṭ“, d. h. „die Menschenrechte“ der von den führenden Kreisen wirtschaftlich, sozial und rechtlich „Gebeugten“ und Ausgebeuteten, ein. Exempla­risch dafür ist der Gottesspruch: „Ich hasse und verwerfe eure Feste. Eure Kultversamm­lun­gen mag ich nicht riechen … An euren Gaben habe ich kein Gefallen, und auf das Opfer eurer Mastkälber blicke ich nicht. Hinweg von mir mit dem Lärm eurer Lieder! Das Spiel eurer Harfen will ich nicht hören. Wie Wasser flute das Recht, und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!“ (5,21ff.)

Erst nach Amos wird Hosea (ab 750) berufen. Aber er wäre kein Nachfolger des Mose, als der er sich fühlt (vgl. 12,14), wäre nicht auch ihm das mosaische Gottesrecht der „2. Tafel“ ein zentrales Anliegen. Unvergeßbar — vgl. Mt 9,13; 12,7! — ist sein Gottesspruch: „Bruder­sinn will ich, nicht Schlacht­opfer, Gotteserkenntnis, nicht Brandopfer!“ (6,6.) „Gotteser­kenntnis“ bedeutet aber bei Hosea, Gott als Jahwe, d. h. als den „Gott der Zuwendung“ erken­nen und anerkennen und darum das „Verfluchen, Lügen, Morden, Stehlen, Ehebrechen …“ (4,2f) las­sen.

Auch im Südreich muß der Prophet Jesaja (ab 740) beklagen, daß Israel als „Weinberg Jah­wes“ nur Stinklinge statt Trauben brachte: „Er hoffte auf Rechtsspruch (mišpaṭ), und siehe da Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit (edaqah), und siehe da Wehgeschrei“ (sc. der Gebeugten,5,7). Darum ist die „heilige Stadt“ Jerusalem für Jahwe gleich Sodoma und Gomorrha (1,10). Ähn­lich wie Amos muß auch dieser „theologischste“ aller Propheten den Gottesspruch verkünden: „Eure Neumonde und Festzeiten haßt meine Seele. Sie sind mir eine Last. Ich bin es müde, sie zu tragen. Wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch; mögt ihr noch so viel beten, ich höre nicht hin. Eure Hände sind voller Blutschuld[10]. Waschet und reinigt euch! Schafft eure schlechten Werke mir aus den Augen! Hört auf, Böses zu tun! Lernet Gutes tun und trachtet nach Gerechtigkeit!“ (Jes 1,14ff.)

Micha, der jüngere Zeitgenosse des Jesaja, wird mit Recht manchmal „der Amos des Süd­reiches“ genannt. Ist er doch „erfüllt mit Kraft, mit dem Geist Jahwes, mit Rechtssinn und mit dem Mut, um Jakob sein Unrecht zu ver­künden und Israel seine Schuld“ (3,8). Diese Schuld ist „Blutschuld“ (3,10), [174] Bestechlichkeit der „Häupter und Richter“ (3,9), Gewinnsucht der Priester und Propheten (3,10), das allgemeine Bauernlegen (2,1 ff) und die Ausbeu­tung der Schwachen durch Schuldknechtschaft (2,8f1). Nach 6,6f bietet das Volk freilich jede Menge von Opfern an (sogar die männliche Erstgeburt), um seine Religiosität zu dokumen­tieren. Doch der Prophet muß antworten: „Es ist dir (bereits) verkündigt, o Mensch, was gut ist und Jahwe an dir sucht: nichts anderes als Gerechtigkeit üben, den Brudersinn lieben und in Dienmut wandern mit deinem Gott!“ (6,8.) Es gibt im Alten Testament keine tref­fendere Kurzformel für das, was Jahwe als menschliche Antwort auf das göttliche Heilswalten erwartet. Hier wird der ideale Bundespartner gekenn­zeichnet, und dabei werden bezeich­nenderweise die beiden mosaischen Tafeln gleichsam umgekehrt, damit jeder Versuchung Israels — und des Men­schen! („adam“ in der Anrede!) —, die zweite Tafel als zweitrangig zu be­trachten, von vornherein gesteuert werde.

Auch der Prophet Zephanja bekämpft um 630 v. Chr. nicht nur die Fremd­kulte, welche zur Zeit Manasses sich in Juda breitmachten, sondern auch das wirtschaftliche und soziale Un­recht (vgl. 1,10f; 3,3f) in Jerusalem, der „gewalttätigen Stadt“ (3,1). Seine Devise lautet: „Suchet Gerechtigkeit, suchet Demut!“ (2,3.) Seine Verheißung gilt einem „demütigen und armen Volk“ (3,12). „Israels Rest“ wird „kein Unrecht mehr tun, nicht mehr Lüge reden, und in ihrem Munde wird keine trügerische Zunge mehr gefunden werden.“ (3,13.)

Jeremia, der jüngere Zeitgenosse des Zephanja, setzt sich noch stärker für das Gottesrecht ein, sosehr er auch den Bruch des 1. Gebotes (Verehrung des Baal und der Gestirngötter, vorab der „Himmelskönigin“,7,18 u. a.) stigmatisiert. Man braucht beispielsweise nur Texte wie 5,1-3; 5,26-29; 9,1-7 nachzulesen, um leicht zu erkennen, welche zentrale Bedeutung die „zweite mosaische Tafel“ auch für Jeremia hat. In 7,21 ff relativiert er kühn allen Opfergottesdienst, um die „Hörsamkeit“ gegenüber der Bundescharta im ganzen als die ursprünglich von Jahwe gewollte „Religion“ zu erweisen. Als die Besitzenden die in der Belagerungsnot von ihnen selbst in einer Bundeszeremonie verfügte Freilassung versklavter Mitbürger nachher schamlos rückgängig machten, mußte Jeremia diesem wortbrüchigen Volk im Namen Jahwes eine „Freilassung für Schwert, Pest und Hunger“, also die endgültige Katastrophe ankündigen (Jer 34,8-22). Auch für den Priester­propheten Ezechiel (ab 595) ist Jerusalem die Stadt des Blut­vergießens und der Götzen (vgl. 22,3 f; 23,37 u. a.), ja einfachhin „die Blutstadt“ (24,9 u. a.). Wegen der in ihr waltenden Unbarmherzigkeit ist sie die Schwester Sodomas (16,48ff). Schuldlosigkeit nennt der Prophet „Recht und Gerechtigkeit üben“ (18,5ff) und zählt dann fast nur mitmenschliche Verhaltensweisen (darunter auch „dem Hungrigen Brot spenden, den Nackten bekleiden“) auf.

Der große Prophet und Theologe Deutero-Jesaja (ab 550) hat besonders in [175] seinen Got­tesknechtsliedern[11] die „Horizontale“ in der Jahwereligion unter­strichen. Der Jahweknecht „bringt den Völkern das Gottesrecht“ (42,1). Gerade dadurch wird er zum „Licht der Heiden­völker“ (42,6; 49,6). Er geht in seiner Zuwendung und Liebe zum Menschen so weit, „daß er sein Leben (sc. für sie, vgl. 53,5) in den Tod dahingibt … und die Sünden der Vielen trägt“ (53,12). So ist es nicht verwunderlich, daß man nach der Rückkehr nach Jerusalem in den Schriften der Deutero-Jesaja-Schule (Trito-Jesaja genannt) bei all ihrer Liebe auch zum Kul­tischen (vgl. 58,13ff betr. Sabbat) eine Reihe von Texten antrifft, welche die Mitmensch­lich­keit zum Kenn­zeichen des wahren Bundespartners machen. Exemplarisch dafür ist Jes 58,1-12: hier wird das wahre Fasten nicht als „continentia“, sondern als ein ichvergessener Über­stieg zum Mitmenschen definiert. Fasten nach dem Her­zen Jahwes heißt: „Ruchlose Fesseln auflösen, die Seile des Jochholzes frei­geben, Unterdrückte frei entlassen, jedes Jochholz zerbrechen; ferner, daß du dem Hungrigen dein Brot brichst und Arme, Obdachlose in dein Haus nimmst, wenn du einen Nackten siehst, ihn bekleidest und vor deinem Bruder dich nicht verbirgst“ (58,6f). Dementsprechend muß auch der an sich stark kultisch ausgerichtete Pro­phet Sacharja (ab 520) in einer Antwort an die noch in Babel Weilenden klarmachen, daß Fa­sten nicht eine Sache im Interesse Jahwes ist (7,5 f). Jahwe komme es auf die Einhaltung sei­ner Grundweisungen an, wie „er sie durch die früheren Propheten verkünden ließ“ (7,7). Die­se lauten nach Sacharja: „Haltet getreues Gericht, übt gegeneinander Brudersinn und Erbar­men! Witwen und Waise, Fremdlinge und Arme bedrückt nicht! Plant in euren Herzen nicht Böses widereinander!“ (7,9f.) Weil Israel dem zuwiderhandelte und „sein Herz hart wie Diamant machte“ (7,12), kam nach Sacharja die große Katastrophe des Exils (vgl. 7,12.14).

6. Das Zeugnis der Priesterüberlieferung

Die Priester sind in der klassischen Zeit Israels nicht in erster Linie „Opferer“. Wie Ex 24,7; Dt 27,9f; 31,9ff; 26ff; 33,10 klar aufzeigen, ist die Bewahrung und Verkündigung der mosa­ischen Bundescharta ihre zentrale Aufgabe. Sosehr sich die Priesterschaft im Laufe der Zeiten auf den Opferdienst und eine detailliert entfaltete Ritualgesetzgebung konzentrierte, vergaß man nicht, daß Jahwe bei aller Transzendenz und Heiligkeit ein der Welt und dem Menschen zugewendeter Gott ist. Als erstes ist in der alttestamentlichen Priestertheologie dies erstaun­lich: In Gen 1 wird der Mensch nicht als kultisches Wesen entworfen wie in den Mythen. Die in ihm angelegte „Ebenbildlichkeit“ — eine in einer bildlosen Religion verwunderliche und darum um so eindrucks­vollere Wesensbestimmung des Menschen — kommt im Walten an der Welt [176] zum Vollzuge (Gen 1,26.28; vgl. Ps 8). Sodann ist für P der Grund für das große Flutgericht nicht der allgemein religiös-kultische Verfall, sondern die Fülle von „Ge­walttaten“ (ḥamas) auf Erden. Weiterhin haben die Priester die „Torliturgie“, d. h. die Gewäh­rung der Zulassung zum Tempel, offen­sichtlich im Sinne des mosaischen Gottesrechtes ver­waltet und gemäß Ps 15; 24,3f; Jes 33,14f bei diesem Anlaß nicht nach kultischer Reinheit, sondern ethischer Lauterkeit gefragt. Schließlich hat die Priesterschaft die ethischen und sozialen Bestimmungen sowohl der Bundescharta wie der „Grundver­fassung“ („Bundesbuch” Ex 21-23) als integrierenden Bestandteil in ihr Heiligkeitsgesetz aufgenommen (vgl. Lev 19,9-18.32-37). Dabei wurde diese Ausrichtung auf den Mitmenschen gerade von den Prie­stern in die auch für das Neue Testament bedeutsame Formel gebracht: „Liebe deinen Näch­sten wie dich selbst! Ich bin (nämlich) Jahwe!“ (Lev 19,18.) Dies gilt nicht nur gegenüber dem eige­nen Volksgenossen, sondern auch gegenüber dem „Fremdling“ (Lev 19,34).

7. Das Zeugnis der Weisheitslehre

Nach Jer 18,18 rechnet Israel neben dem Priester mit seiner Weisung und dem Propheten mit seinem Wort auch den Weisen mit seinem „Rat“, d. h. mit seiner erzieherischen Mahnung, zu den bevollmächtigten Lehrern des Gottesvolkes. In der Tat besteht ein bedeutender Teil des Alten Testaments aus seinem „Weisheitsschrifttum“. Es hat sich aus der frühen Sippenweis­heit der Nomadenzeit — der Dekalog und Amos sind nicht unbeeinflußt von ihr! — und dann aus der Tätigkeit einer eigentlichen „Weisheitsschule“ am Königs­hof (mit Kontakten zur internationalen Schulweisheit!) herausgebildet. In den verschiedenen Schichten des Buches der Sprichwörter kann man die Ent­wicklungslinie, welche die Weisheit in Israel genommen hat, noch gut erken­nen. Weite Teile dieses Buches (vgl. z. B. Kap. 10-22) sind so „profan“, daß sie bei „religiösen“ Menschen oft Ärgernis erregen. Aber gerade hierin kommt ein dem Jahwismus Eigentümliches zum Tragen: ein Leben vor dem der Welt zugewandten Antlitz Jahwes ist in allen Bereichen ein Jahwe zuge­wendetes Leben oder soll zu einem solchen werden unter der zentralen Frage aller Weisheit: „Wie kann mein Leben vor Gott, den Mit­menschen und vor mir selbst am besten geraten?“ Je länger, je mehr wird allerdings die Weis­heitslehre in Israel „theologische Weisheit“. Das bedeutet aber nur insofern ein stärkeres Betonen der „Vertikalen“, als man immer weniger die eigene Erkenntnis und Erfahrung als Quelle der Weisheit ansieht, und dafür sich mehr an den Offenbarungsgott als den ureigentli­chen Weisheitslehrer hält, der insbesondere in seinen Grundweisungen die rechten Wege zu einem glückenden Leben weist. Spr 1-9 sind ein beredtes Beispiel dafür, wie in sol­cher Perspektive die prophetisch kolorierte mosaische Botschaft des Deute­ronomiums und zu­gleich die Weisung der Propheten selbst in neuer, eben [177] sapientieller Art zum Zuge kommen kann. Selbst da, wo die theologische Reflexion des Verfassers ihren spekulativen Gipfel erreicht — in der Personifizierung von Gottes Weisheit —, wird die Zuwendung Jah­wes zu Welt und Mensch in einer neuen, bisher unerhörten Weise bezeugt; verkündet doch die als Person vorgestellte Chokmah von sich selbst dies: „Als er (sc. Jahwe) be­festigte die Wol­ken oben, als er erstarken ließ die Quellen aus der Tiefe, als er dem Meer seine Grenzen setzte … als er der Erde Fundamente legte, war ich als Beraterin an seiner Seite. Und ich war Tag für Tag (voller) Wonne, indem ich vor ihm spielte; ich spielte vor ihm auf dem Erdenrund, und meine Wonne ist es, bei den Menschen zu sein“ (Spr 8,30f).

Gerade im Kreise der scharf beobachtenden Weisheitslehrer konnte indes auf die Dauer die Diskrepanz zwischen dem Glauben an Gottes grundsätz­lichen Bundeswillen und den ihm widerstreitenden Unheilszuständen in der Welt nicht übersehen werden. Das Buch Job ist in dieser Gespaltenheit ange­siedelt. In ihm wird gegen ein optimistisches Dekretieren von überkommenen Interpretationsformeln (Leid = Strafe für Sünde!) Front gemacht. Und doch hält Job grundsätzlich an seiner Glaubensüberzeugung fest: „Ich weiß, mein Anwalt (= Jah­we!) lebt, und ein Vertreter ersteht mir über dem Staube!“ (19,25.) In den das Buch abschlie­ßenden Gottesreden (Kap. 38-41) wird ihm das gewaltige und geheimnisvolle Schöpfungs­walten Jahwes — nirgendwo sonst im Alten Testament wird es so ausführlich und packend dargestellt – vor Augen geführt, auf daß er sich bescheide und trotz der Dunkelheiten des Daseins Gottes prinzipielles Ja zu seiner Schöpfung nicht verneine.

Einen davon merklich verschiedenen Standpunkt nimmt der Verfasser des im Neuen Testa­ment nie zitierten Buches Kohelet („Prediger“) ein. Er malt in eindrucksvoller Weise die Gebrechlichkeit aller menschlichen Mög­lichkeiten aus. Nur schwer ringt er sich — bei aller Anerkenntnis der Existenz Jahwes — zur Erkenntnis durch: „Siehe, ich habe dies gefunden: Gott hat die Menschen recht geschaffen, sie aber suchen viele Künste“ (7,30).

8. Das Zeugnis der Heilserwartung Israels

a) Die allgemeine Endzeiterwartung

Der letzte Horizont aller Zukunftsbezogenheit der Menschheit ist im Alten Testament Jahwe selbst[12]. Die Namensoffenbarung enthält in nuce den Ausblick auf eine Kulmination aller Geschichte in einer Zukunft, die Gott selbst ist. Die Propheten haben diesen Kern auf vielerlei Weise entfaltet, am eindrücklichsten in der Vorstellung Jahwes als des endzeitlichen Gemahls und Königs (vgl. 5 a, γ+δ). In der Ausmahlung der kommenden Wirklichkeit [178] greifen sie dabei gern zu Bildern, die zur Paradiesesvorstellung gehören. Hosea wählt als Kulisse für die endzeitliche „Gottesehe“ den Frieden zwi­schen Tierreich und Menschenreich (vgl. Jes 11,6ff; 65,25) und den der Völker untereinander (2,20) und dazu das fruchtbare Zueinander von Him­mels- und Erdenwelt (2,23 f). Ez 47,1-12 greift das Motiv des Paradiesesstromes auf und macht ihn zum Spender des Lebens (vgl. Jes 33,21; Joel 4,18; Sach 14,8). In Ez 36,35 und Jes 51,3 wird sogar „der Garten Eden“ selber zur Schilderung der Landgabe der Zukunft be­schworen.

Als „neuen Bund“ dagegen kündigt Jeremia die Heilszeit an (31,31), nachdem er die Samm­lung und Heimkehr des Gesamtvolkes in das neu ge­währte „Gelobte Land“ präkonisiert hat (31,1-27). Dabei verinnerlicht er — wie Hos 2,21f — seine Schau, indem er auf die „ewige Liebe“ Jahwes, der dies alles entströmt (31,3), das Gottesvolk der Endzeit mit einer Liebe ant­worten läßt, die keine steinernen Gebotstafeln mehr braucht, weil Jahwes Weisung ihm „ins Herz geschrieben“ ist (31,33). Nach Ez 36,26f wird dieses neue Herz dadurch ermög­licht, daß Jahwe seinen Geist in das Innere der Menschen legt. Von dieser Geistausgießung „über alles Fleisch“ (selbst über Sklaven und Sklavinnen) kündet auch Joel 3,1f. Diesem erneuerten Gottesvolk wird von Deutero-Jesaja verheißen: „Siehe, Völker, die du nicht kennst, wirst du rufen, und die dich nicht kennen, werden zu dir eilen um Jahwes, deines Gottes, und des Hei­ligen Israels willen, weil er dich verherr­licht“ (55,4). Damit wird das Thema der „Völker­wallfahrt nach dem Sion“ eröffnet, das seinen klassischen Niederschlag in Jes 2,2-4 (= Mich 4,1-3) gefunden hat. Am universalsten sieht Jes 19,24 die Heilszukunft: „An jenem Tag wird Israel als dritter im Bund mit Ägypten und Assur ein Segen sein inmitten der Erde. Jahwe seg­net und spricht: ,Gesegnet sei mein Volk Ägypten und Assur, das Werk­zeug meiner Hände, und Israel, mein Erbgut.“ Dem Kontext nach (vgl. 19,19) ist dabei nicht einmal mehr an eine Kultzen­tralisation in Jerusalem gedacht. Einen damit vergleichbar weiten Horizont weisen nur noch Zeph 2,11 und Mal 1,11 auf.

Die nachexilische Zeit hat noch eine ganze Reihe anderer Vorstellungen entwickelt, welche für das im Glauben befochtene Gottesvolk — der neue Exodus und die neue Landnahme, die insbesondere Deutero-Jesaja ange­kündigt hatte, waren nur zu einem Teil in Erfüllung gegan­gen! — die Heils­zukunft vergegenwärtigen sollten. Sie nahmen verständlicherweise öfter ein starkes apokalyptisches Kolorit an: Israel wird „Endsieger“ über die Feind­mächte werden. Dazu gehören eine Reihe von Texten, welche unter dem Thema „Tag Jahwes“ stehen. Die mit diesem Motiv von Anfang an ver­bundene volkstümliche Heilserwartung haben die vorexili­schen Propheten zwar dämpfen müssen (vgl. Am 5,18ff; Jes 2,6ff; Zeph 1,7.14: Tag Jah­wes = Tag des großen Gerichts), aber nach der großen Gerichtskatastrophe des Exils wird der „Tag Jahwes“ in der prophetischen Verkündigung zum Tag des Gerichts über alle gottfeindli­chen Mächte (vgl. Jes 13,4.13; Ob 15; Joel [179] 4,9ff; Sach 12,1ff) und damit zugleich zum Tage endgültigen Heils für das Gottesvolk der Jahwegetreuen (vgl. Joel 3 und 4; Sach 14) und damit auch zum Tag der Scheidung von Sündern und Gerechten (Mal 3,2ff.19ff). Unter dem Bild vom „Neuen Himmel und der Neuen Erde“ (Jes 65,17; 66,22) stellt Trito-Jesaja der gebeugten Jahwegemeinde die Endzeit vor Augen. Die späte „Jesaja-Apokalypse“ (Jes 24-27) bezieht auch den Kosmos in das endzeitliche Gerichtswalten Jahwes ein (vorab 24,4.19f), um aber dann eine neue Gestalt und Zeit der Welt zu zeichnen: „Vernichten wird er den Tod auf ewig. Und abwischen wird Gott der Herr die Tränen von jedem Antlitz“ (25,8) und „deine Toten werden leben, werden auferstehen“ (26,19). Von einer solchen „Auferstehung Vieler“ spricht auch Dan 12,2f. Ausgangspunkt dieser Auferstehungshoffnung mag Ez 37,1-4 gewe­sen sein, wo der Prophet in seiner berühmten Vision von den Totengebeinen die Wieder­er­weckung Israels aus dem Grabe der Gefangenschaft verkündet. Mit der Jesaja-Apokalypse und vorab mit dem Buch Daniel erhält die Endzeit die Konturen eines neuen Äons, in welchen die bisherige Weltzeit nicht bruchlos übergehen wird. Darum ist in Dan 7 das kommende „Reich des Heiles“ auch eine aus dem Himmel kommende Größe, vor welcher alle irdischen Reiche zu ihrem endgültigen Ende kommen werden (vgl. 9,26; 11,27; 12,13).

Das Alte Testament enthält, wie diese Skizze dartut, keine einheitliche Lehre über die „Escha­ta“. Immerhin konvergieren die verschiedenartigen Vorstellungen und Bilder darin, daß Jahwe die Geschichte von Kosmos und Menschheit einem Ziel entgegenführt, das ganz in seinen Händen liegt und zugleich die höchste und alles umfassende Fülle seiner Zuwendung zu Welt und Mensch bringen wird. Von letzterem Gedanken sind auch die wenigen alttestamentlichen Texte geprägt, welche etwas über die individuelle Eschatologie (nach dem Tode) aussagen: Ps 16,10; 49,16; 73,23ff. Hier schenkt der Glaube an Jahwes machtvollen Bundeswillen und sei­ne Bundestreue die Ahnung, daß der Gang ins Grab Übergang zu Jahwe ist.

b) Die Erwartung des messianischen Heilbringers

Die im Christentum verbreitete Meinung, das Alte Testament habe sein „Rückgrat“ im „Chri­stuszeugnis“ (im engeren Sinne!), wird diesem Gottesbuch nicht gerecht. Die relativ wenigen messianischen Texte (die man nicht mit künstlich christologisch ausgedeuteten Stellen anrei­chern sollte!) müßten vor einer solchen Überbewertung, welche eine Entwertung des übrigen Alten Testaments zur Folge hat, warnen. Auch ist bemerkenswert, daß die allgemeine Endzei­terwartung Israels nur an wenigen Stellen die Messiaserwartung Israels berührt oder direkt miteinbezieht. Anderseits kann nicht            geleugnet werden, daß man dem eschatologischen Heils­walten Jahwes in einer wachsend akzentuierten Heilbringergestalt auch einen spezifischen Charakter verlieh. [180]

Die Einführung des Königtums in Israel mußte bei der allgemeinen Zukunftsbezogenheit des israelitischen Glaubens auch der Gestalt des Königs, welche ja im Orient schon immer Heils­bedeutung hatte, einen Platz in der zukünftigen Heilszeit zuweisen. Die Nathanweissagung von 2 Sam 7 (im jetzigen Text nur geringfügig deuteronomistisch überarbeitet) legt dafür auch ein klares Offenbarungsfundament. Danach soll nicht David Jahwe ein Haus (= Tempel) bau­en, sondern Jahwe wird David ein Haus (= Dynastie) errichten, das ein ewiges Königtum dar­stellen wird. In diesem neuen Ver­ständnishorizont erhalten dann auch die auf David zielenden Texte Gen 49,8ff und Num 24,7.17f eine messianische Aura. Dies gilt sicher auch für die an sich in ihrer Auslegung umstrittene Weissagung vom Emmanuel in Jes 7. Den königlichen Heilbringer (im sicher messianischen Sinne!) sagen Jes 9 und 11 an und machen zugleich bedeutsame Aussagen zu seiner Person und Funktion. Nach Jes 9 wird in ihm dem von den Weltmächten zertretenen Israel „das große Licht“ (9,1) zuteil. Er erhält Prädikate (Wunderrat, Gott­held, Ewigvater, Friedensfürst), die ihn über die gewöhnlichen Sterblichen erheben. Wozu aber hat er seine fast göttliche Herrschermacht? Er soll damit „endlosen Frieden“ schaf­fen und „Recht und Gerechtigkeit“ unter den Menschen aufrichten (9,6; vgl. V. 4). Noch deut­licher tritt dieser messianische „Heilsbezug“ auf Welt und Mensch hin in Jes 11,1-5 zutage: die Fülle des Geistes Jahwes (mit den Gaben Weisheit und Einsicht, Rat und Stärke, Jahwe-Erkenntnis und Jahwefurcht) wird ihm verliehen, um allmächtiger Rechtshelfer der Armen und Geringen zu sein. Diese mitmenschliche Gerech­tigkeit und Treue ist geradezu der „Schurz seiner Lenden“ und „der Gurt seiner Hüften“ (V. 5). Er wird also der Bundescharta zur endgültigen Durch­setzung verhelfen, so daß in seinem Reiche alle Menschen wahrhaft Mensch sein können. Aus diesem Grund und zugleich im Hinblick auf die bundes- brüchigen Könige erhält er bei Jeremia den Namen: „Jahwe, unsere Gerech­tigkeit“ (23,5f). Auch in Mich 5,1f werden die Geborgenheit und Friedens­fülle Israels dadurch garantiert, daß der messianische Zukunftsherrscher in „der Kraft Jahwes und in der Hoheit des Namens seines Gottes regiert“ (V. 3). Bei Ezechiel ist die messianische mit der allgemeinen Heilserwartung insofern direkt verbunden, als die künftige Hirtenschaft Jahwes (vgl. 34,11-22) im „Hirten David“ gleichsam ihre Inkarnation erfahren soll: „Ich werde über sie einen einzigen Hirten bestellen, meinen Knecht David; der soll sie weiden und ihr Hirt sein!“ (34,23.) Mit ihm zu­sammen wird wie in Jes 11,6ff der Paradiesesfriede geschenkt (34,24ff). In der Wiederauf­nah­me dieser Zusage in 37,22 ff — wo übrigens der Friedensbringer „König“ genannt wird — wird als Charakteristikum seiner segensreichen Herrschaft u. a. auch das Wandeln nach den Weisungen der Bundescharta genannt (37,24). In Sach 9,9f (nachexilisch) erhält der auf einem Esel — Frie­denstier im Gegensatz zum Kriegspferd! — Jerusalem einziehende Frie­denskönig die Züge eines Angehörigen der [181] „Anawim“, also eines Jahwefrommen, der zu den Ar­men und Demü¬tigen im Lande gehört.

Die Messiaserwartung Israels spiegelt sich auch stark im Psalter. Sicher gab es in vorexili­scher Zeit die Gattung des „Königspsalms“ (meist Inthronisationslieder!). Im Lichte der Nathanweissagung und der prophetischen Messiastexte lag dabei um den neu inthronisierten König gewissermaßen eine messianische Aura. Aber von den uns erhaltenen „Königspsal­men“ können aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen Ps 2; 45; 72 und 110 höchstens als nachexilische „Relectures“ vorexilischer Stücke gelten. Dann aber sind sie „direkt-messia­nisch“ auszulegen. In jedem Fall waren sie für die nachexilische Gemeinde eine vorausfei­ernde Vergegenwärtigung des „kommenden David“ (Ps 2 und 110) bzw. des neuen „Salomo“ (Ps 45 und 72). Nach Ps 2 ist der Messias (in V. 2 mašiaḥ genannt!) „Sohn Gottes“ und als König auf Sion zugleich Eigner und Herrscher der Völkerwelt (V. 8). Nach Ps 110 soll er die getrennten Ämter des Königs und des Priesters wieder in seiner Person vereinen. Er ist durch Jahwes Einsetzung von Anfang an und für immer in die göttliche Lebens- und Heilssphäre hineingestellt und soll sie in dieser Welt verkörpern. Ps 45 läßt den messianischen König in­sofern Jahwes Stelle vertreten, als er hier als Gemahl des endzeitlichen Gottesvolkes vor­ge­stellt wird. Am meisten mit den einschlägigen Prophetentexten verwandt ist Ps 72. „Frie­de“ und „Gerechtigkeit“ (V. 3) sind die Kennzeichen seines Regiments, das sich über alle Könige und Völker erstreckt (V. 8-11). Er setzt gleichsam die Zuwendung Jahwes zu Welt und Mensch gegenwärtig: „Denn er errettet den Armen, der um Hilfe schreit, den Gebeugten, der keinen Helfer hat. Des Geringen und Armen erbarmt er sich und bringt dem Leben der Armen Heil. Aus Druck und Gewalt erlöst er sie; denn kostbar in seinen Augen ist ihr Blut“ (V. 12-14).

Exegetisch stark umstritten sind die deutero-jesajanischen „Jahweknechtslieder“: Jes 42,1-4; 49,1-6; 50,4-9; 52,13 – 53,12. Ihr „Jahweknecht“ ist die einzigartigste Heilsgestalt des Alten Testaments. Die messianischen Züge an ihm sind kaum zu leugnen, weil sich in ihm alle Mitt­lerfunktionen der Offenbarungsgeschichte verdichten. Die königlichen Konturen treten aller­dings stark zurück — immerhin gehört 42,1 ff zur Gattung der Königsdesignation (Wester­mann) —, dafür treten die des Propheten und Weisheitslehrers stärker hervor. Am bemerkens­wertesten ist jedoch Jes 53: hier geht der Knecht in seinem Brudersinn so weit, daß er den Sühnetod für die Sünden „der Vielen“ auf sich nimmt und gerade dafür von Jahwe auf die höchste Höhe des Lebens gestellt und zum Haupt „der Vielen“ bestellt wird. [182]

C. Schluß

Die notwendige Kürze ließ nur eine Anskizzierung der Gesamtbotschaft des alttestamentli­chen Gottesbuches zu. Sie vermag wohl dennoch den Reichtum der altbundlichen Offenba­rung und ihre Bedeutung auch für das neubundliche Gottesvolk aufzuzeigen. Es geht dabei um eine Grundlegung der Bot­schaft des Neuen Testamentes, die im wahrsten Sinne des Wor­tes „fundamen­tal“ genannt werden kann. Zugleich greift diese Botschaft oft weit ins Neue Testament hinein. Für den Kenner des Neuen Testaments wird dies an vielen Punkten unmit­telbar evident, auch wenn in unserer Skizze die Linien nicht eigens in die neubundliche Ver­kündigung durchgezogen wurden. Wenn man demnach die neutestamentliche Botschaft ger­ade vom Alten Testament her neu verstehen kann, sollte das christliche Kerygma erneut die Einheit beider Testamente entdecken. Die Impulse, die davon gerade in unserer Zeit der Krise der Kirche und überhaupt des Christentums auszugehen und sich fruchtbar zu erweisen ver­mögen, sind beträchtlich. Die Krisis, in die das Alte Testament z. B. die „Gottesbilder“ der Religionen der Völker gestellt hat mit der Verkündigung: „Gott ist der ganz andere“, sollte im Offenbarungs­glauben gewissermaßen eine permanente sein, welche immer von neuem die übliche Verfestigung bestimmter Vorstellungsbilder auch des christlichen Glaubensbewußt­seins löst und übersteigt, wobei jedoch eines nie entschwin­den darf: das Selbst Gottes als Er und Ich und Du. Die radikale Ortung des Glaubens in dieser Personalität, und zwar zutiefst in ihrer „Zukunft“, ist ein anderes Beispiel eines bleibenden alttestamentlichen Offenbarungsim­pulses, der für Pulsschlag und Leben des Gottesvolkes entscheidend und gerade für unsere Epoche des sogenannten „Glaubensschwundes“ wahrhaft zukunfts­trächtig ist. Auch im Streit um die authentische „Offenbarungsreligion“, der quer durch die Kirchen geht und zur fatalen Polarisierung von „Vertika­listen“ und „Horizontalisten“ zu führen droht, sagt bereits das Alte Testament das entscheidende Wort: „Vertikale“ und „Horizontale“, Religion und Ethos müs­sen miteinander unlösbar geeint sein und bleiben (wie die Kreuzes­balken!). Jahwe ist keine Chiffre für Mitmenschlichkeit, aber Mitmenschlich­keit bezeugt Jahwe, ja setzt seine Zuwen­dung glaubwürdig gegenwärtig. Darum wird im Neuen Testament die Nächstenliebe — wel­che neutestament­lich auch die Feindesliebe einbegreift — der Gottesliebe gleichgesetzt (Mt 22,39). In der eindringlichen Aufnahme der hoseanischen Gottesweisung (Hos 6,6): „Barm­herzigkeit, nicht Opfer!“ (Mt 9,13; 12,7) und erst recht in der Rede vom Endgericht (Mt 25,31 11) ist der Kirche ein zentrales Ver­mächtnis der altbundlichen Gottesoffenbarung ins Ge­dächtnis geschrieben worden. Diese Schrift hätte nie übertüncht oder übermalt werden sollen mit Entwürfen, die der allgemeinen Religionsgeschichte zugrunde liegen. Im Alten Testament sind die Menschenrechte „Gottesrecht“, und das Neue Testament hat diese Botschaft (vgl. Mich 6,8: „Nichts anderes als Gerechtig-[183]keit üben, den Brudersinn lieben, in Dienmut wandern mit deinem Gott“) im Leben, Lehren und Sterben Jesu geradezu inkarnatorisch wer­den lassen. Jahwe und Jesus — Jeschua (= Jahwe ist Heil!) bedeutet die Kulmination aller Jahweoffenbarung! — werden am glaubwürdigsten der Welt offenbar, wo der Glaube an sie leibhaftige Zuwendung zu Welt und Mensch geworden ist (vgl. Gal 5,6; 1 Jo 4,11-13).

LITERATURAUSWAHL

1. Für ausgedehntere Studien:

Die „Theologien des AT“ von W. Eichrodt I (Göttingen 71961); II (Göttingen 51962) und von G. v. Rad I (München 51966); II (München 41965).

J. Hempel, Das Ethos des Alten Testaments (Berlin 21964).

H. van Oyen, Ethik des AT (Gütersloh 1967).

Wort und Botschaft. Eine theologische und kritische Einführung in die Probleme des AT, hrsg. von J. Schreiner (Würzburg 1967).

W. H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube und seine Umwelt (Neukirchen 1968).

2. Kürzere Überblicke oder Einblicke bieten:

M. Rehm, Das Bild Gottes im AT (Würzburg 1951).

W. Eichrodt, Das Gottesbild des AT, Calwer Hefte (Stuttgart 1956).

M. Buber, Die Götter der Völker und Gott, in: Festschrift O. Michel (Köln 1963) 44-57.

A. Gelin, Die Botschaft des Heils im AT (Düsseldorf 1957).

H. Gross — N. Lohfink — J. Scharbert — O. Schilling — H. Schlier, Die religiöse und theologische Bedeutung des AT, in: Studien und Berichte der kath. Akademie in Bayern, Heft 33 (Würz­burg 1965).

A. Deissler, Gottes Selbstoffenbarung im AT, in: Mysterium Salutis II (Einsiedeln 1967) 226-271.

Ders., Die Bundespartnerschaft mit Gott als Hinwendung des Menschen zur Welt und zum Mitmenschen — eine unüberholbare Botschaft der frühen altbundlichen Offenbarung, in: Weltverständnis im Glauben, hrsg. von B. Metz (Mainz 1965) 203-223.

Ders., Ich werde mit dir sein (Meditationen aus dem Pentateuch) (Freiburg i. Br. 1969).

Quelle: Bruno Dreher/Norbert Greinacher/Ferdinand Klostermann, Handbuch der Verkündi­gung, Bd. 1, Freiburg-Basel-Wien: Herder 1970, S. 154-183.


[1] Zur Vorbereitung des Konzils wurden von den römischen Behörden ex officio keine Alt­testamentler herange­zogen. Nur rein zufällig waren am Konzil auch Alttestamentler beteiligt, wie Kardinal Bea und Kardinal Alfrink. In das derzeit höchste Theologengremium der katholischen Kirche wurde kein Alttestamentler berufen.

[2] Leider hat auch der neue „Holländische Katechismus“ an dieser Sachlage wenig geändert, wiewohl er die Chance dazu hatte. Sätze wie: „Was im Alten Testament auf niedriger Stufe und in grober Weise nach oben strebt, wird im Neuen geistlich und klar“ (Glaubensver­kündigung für Erwachsene [Freiburg i. Br. 1969] 71), werten in ihrer klobigen Globalität das wieder ab, was in diesem Werk an vermehrter Information über das Alte Testament gegenüber bisherigen Katechismen steht.

[3] Für den Hebräer ist der Mensch in erster Linie ein sprechendes Wesen. Darum nennt er die Tierwelt — trotz ihrer Laute und Lautsignale — das „Stumme (behēmah). Was die Sprache für den Menschen und seine „Mensch­werdung“ bedeutet, kann man heutzutage besonders an den Forschungsbeiträgen zur Entwicklungspsychologie des Kleinkindes erkennen.

[4] Im Sonnenlied des Echn-Aton heißt es u. a.: „Du einziger Gott, außer dem es keinen andern gibt“ (H. Gressmann, Altorientalische Texte zum A. T. [Berlin 21926] 17).

[5] Im sogenannten „elohistischen“ Teil des Psalters (Ps 42-83) ist der ursprüngliche Name zumeist durch ‚elohim ersetzt, in den spätesten Büchern durch „Herr“.

[6] Eine genaue Analyse des Spruches kann die Implikation eines „Heilshorizontes“ erweisen. Vgl. Oberrhein. Pastoralblatt 55 (1954) 63ff (Verf.).

[7] Vgl. seine exegetische Untersuchung von Gen 15: „Die Landverheißung als Eid“ (SBS 28 [1967]).

[8] berit kann als Substantiv von barah (=gemeinschaftlich ein Mahl halten) abgeleitet werden.

[9] Die messianischen Texte sind bei ihnen selten und wenig umfänglich.

[10] Blutschuld meint hier wie sonstwo nicht nur den blanken Mord, sondern jede „Nein“-Tat gegenüber dem Mitmenschen, weil sie in sich ein Gefälle zur Ver-“Nichtung“ hin hat.

[11] Die Verfasserschaft ist insbesondere für das 4. Lied (Jes 53) allerdings umstritten.

[12] Auch im Neuen Testament ist dies nicht anders, wie 1 Kor 15,28 in unerhörter Dichte („Gott alles in allem“!) bezeugt.

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