Dietrich Bonhoeffers Friedenspredigt zu Römer 12,17-21 von 1938: „Das Kreuz ist keines Menschen Privatbesitz, sondern es gehört allen Menschen, es gilt allen Menschen.“

Kassel - Altarkreuz
Hermann J. Kassel – Altarkreuz für St. Evergislus,
Bonn Bad-Godesberg (2002)

Eine eindrückliche kreuzestheologische Friedenspredigt hatte Dietrich Bonhoeffer 1938 über Römer 12,17-21 gehalten:

Predigt zu Römer 12,17-21

Von Dietrich Bonhoeffer

[Haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn [Gottes]; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“ So nun deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern über­winde das Böse mit Gutem.]

„Mir ist Erbarmung widerfahren“ – haben wir gesungen. So singt die ganze christliche Ge­meinde an jedem neuen Tage. „Mir ist Erbarmung widerfahren“ – als ich mein Herz noch vor Gott verschloß, als ich auf dem eignen Weg meiner Sünde ging, als ich meine Sünde mehr liebte als Gott, als ich durch meine Sünde in Jammer und Elend kam, als ich mich verirrt hatte und nicht zurückfand – da traf mich Gottes Wort, da hörte ich: Gott liebt mich, da fand mich Jesus, er war bei mir – er ganz allein –, er tröstete mich und vergab mir alle meine Sünden und rechnete mir das Böse nicht zu. „Mir ist Erbarmung widerfahren.“

Als ich Gott feind war um seiner Gebote willen, da handelte er an mir wie an einem Freunde. Als ich ihm Böses tat, tat Gott mir nur Gutes. Er rechnete mir mein Böses nicht auf, er suchte mich unermüdlich und ohne Erbitterung. Er litt mit mir, er starb für mich, es war ihm nichts zu schwer für mich. Da hatte er mich überwunden. Gott hatte seinen Feind gewonnen. Der Vater hat sein Kind wiedergefunden. Ist es nicht das, was wir meinen, wenn wir dieses Lied singen? Zwar begreife ich es nicht, [464] warum Gott mich so liebt, warum ich ihm so teuer war, zwar kann ich es nicht fassen, daß er mein Herz durch sein Leben überwinden konnte und wollte, aber nun kann ich sagen: „Mir ist [Erbarmung widerfahren] …“

Aber eben weil ich hier nichts begreife und verstehe, darum heißt es in unserem Text: „Haltet euch nicht selbst für klug – d. h. ihr mögt sonst ganz gescheite, tüchtige Leute sein in eurem Geschäft, in eurer Arbeit, aber von einem wißt ihr von Natur aus rein garnichts, in einem seid ihr so töricht und närrisch wie ein unmündiges Kind – nämlich in den göttlichen Dingen der Barmherzigkeit oder vielmehr wie aus einem Feind ein Freund wird, wie ein Feind Gottes überwunden wird.

Unser heutiger Text spricht von dem Verhalten des Christen gegen seine Feinde oder wie der Christ seine Feinde „überwindet.“ Diese Frage wird im Leben des Einzelnen und einer christ­lichen Gemeinde immer wieder von großer Wichtigkeit [sein], und eben hier sind wir so ganz und gar unverständig, haben wir von uns aus so ganz und gar verkehrte Gedanken, daß unser Text damit beginnt: „galtet euch nicht selbst für klug.“ Das ist wohl zu allererst eine Erinne­rung daran, wie unbegreiflich unserer Klugheit Gottes Weg mit uns war. Daß Gott uns such­te, uns vergab, daß er um unsertwillen seinen Sohn opferte, daß er uns darin das Herz abge­wann und bekehrte, das ist unsrer Klugheit allerdings fremd und unzugänglich. Damit ist uns also gesagt: Wenn ihr einem Feind begegnet: denkt zuerst an eure eigene Feindschaft gegen Gott und an Gottes Barmherzigkeit gegen euch. [465]

„Haltet euch nicht selbst für klug“ – das ist sodann eine wichtige Erinnerung an den Anfang unseres Menschengeschlechtes. Der Teufel versprach Adam und Eva Klugheit. Klug wie Gott wollte er sie machen, sie sollten wissen, was gut und böse ist. Sie sollten damit zu Richtern über Gut und Böse gemacht werden. Seit Adam sich vom Teufel die Klugheit schenken ließ, meinen alle Menschen, daß sie in allen göttlichen Dingen etwas wüßten und mitzureden hät­ten. Sie meinten, sie wüßten nun, wie man mit Gott und mit Menschen umgehen müßte. Mit Hilfe ihrer Klugheit würden sie nun wohl eine gute Welt aufbauen. Aber was geschah? Der erste Sohn Adams und Evas war Kain, der Mörder seines Bruders. Der erste Mensch, der von Menschen auf dieser Erde geboren wurde, war ein Brudermörder. Da ging die Saat des Bösen auf. Das war die Frucht der Klugheit der ersten Menschen! Gibt uns das zu denken? „Haltet euch nicht selbst für klug“ – auf daß ihr nicht zu Mördern eurer Brüder werdet. Glaubt nicht selbst zu wissen, wie man mit Menschen, wie man mit Feinden umgeht, oder was gut und böse ist, sonst fressen sich die Menschen untereinander auf – „haltet euch nicht selbst für klug“ – sondern seht auf Gottes Weg zu den Menschen, zu seinen Feinden. Jenen Weg, den die Schrift selbst einen törichten Weg nennt, den Weg der Liebe Gottes zu seinen Feinden, die er ihnen erweist bis zum Kreuz. Das Kreuz Jesu Christi zu erkennen als die unüberwindliche Liebe Gottes zu allen Menschen, zu uns ebenso wie zu unsern Feinden, das ist die beste Klug­heit. Oder meinen wir, Gott liebte uns mehr als unsre Feinde? meinen wir, gerade wir seien die Lieblingskinder Gottes? Dächten wir so, dann stünden wir tief im Pharisäertum drin, dann hätten wir aufgehört Christen zu sein. Liebt Gott unsere Feinde etwa weniger, für die er doch ebenso gekommen ist, gelitten hat, gestorben [ist] wie für uns. Das Kreuz ist keines Menschen Privatbesitz, sondern es gehört allen Menschen, es gilt allen Menschen. Gott liebt unsere Feinde – das sagt uns das Kreuz, er leidet um sie, er hat Not und Schmerzen um sie, er hat [466] für sie seinen lieben Sohn gegeben. Darauf kommt alles an, daß wir bei jedem Feind dem wir begegnen, sogleich denken: den liebt Gott, für den hat Gott alles gegeben. Darum haltet euch nicht selbst für klug: das hieß für unsere Stellung zu unseren Feinden zuerst: Den­ke daran, daß du auch Gottes Feind warst und daß dir Erbarmung widerfahren ist ohne Ver­dienst und Würdigkeit. Es hieß zweitens: Denke daran, daß Gott auch für deinen Feind an[s] Kreuz ging und ihn liebt wie dich.

Darum „vergeltet niemand Böses mit Bösem, fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. Ist es möglich so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Also einmal ganz deutlich: da ist irgendeiner, ein Nachbar oder ein anderer, der fortgesetzt böse Dinge von mir sagt, der mich schmäht, der mir offenes Unrecht tut, der mich quält und plagt, wo er nur kann. Wenn wir ihn nur sehen, steigt in uns das Blut in den Kopf, ein furchtbar drohender Zorn er­füllt uns. Das ist der Feind, der so etwas bei uns bewirkt. Aber nun gilt es auf der Hut zu sein. Nun gilt es ganz schnell sich zu erinnern: mir ist Erbarmung widerfahren, nicht von Men­schen, nein von Gott selbst, und für ihn starb Jesus Christus – und auf einmal wird alles an­ders. Wir hören nun: vergeltet nicht Böses mit Bösem. Erhebe deine Hand nicht zum Schlag, öffne deinen Mund nicht im Zorn, sondern sei still. Was kann denn der dir schaden, der dir Böses antut. Nicht dir schadet es, aber ihm schadet es. Unrechtleiden schadet keinem Chri­sten. Aber Unrecht tun schadet. Nur eines will ja der Böse bei dir erreichen, nämlich, daß du auch böse wirst. Aber damit hätte er ja gesiegt. Darum vergilt nicht Böses mit Bösem. Du schadest damit nicht dem, sondern dir selbst. Nicht du bist in Gefahr, wenn dir Böses ge­schieht, aber der andre ist in Gefahr, der dir Böses tut und er kommt darin um, wenn du ihm nicht hilfst. Darum um des anderen willen und um deiner Verantwortung für ihn – vergilt nicht Böses mit Bösem. Hat Gott denn dir je so vergolten?

„Fleißigt euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. habt mit allen Menschen Frieden.“ Gegen jedermann, mit allen Menschen – es gibt keine Ausnahme. Nicht nur gegen die Ehrbaren ehrbar [467] sein, sondern gerade auch gegen die Unehrbaren, nicht nur gegen die Friedfer­tigen friedfertig sein, sondern gerade gegen die, die uns nicht im Frieden leben lassen wollen. Das andere können die Heiden auch. Aber Jesus Christus starb nicht für die Ehrbaren und für die Friedfertigen, sondern gerade für die Sünder und Feinde, für die Unehrbaren, die Hasser, die Totschläger. Unser Herz steht immer darauf nur unter den Freunden, unter den Gerechten und Ehrbaren zu bleiben. Aber Jesus Christus war mitten unter seinen Feinden. Gerade dort wollte er sein. Dort sollen wir auch sein. Das unterscheidet uns von allen andern Sekten und Religionen. Da wollen die Frommen unter sich sein. Christus aber will, daß wir mitten unter unsern Feinden seien, wie er war; mitten unter seinen Feinden starb er den Tod der Liebe Gottes und betete: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Unter den Feinden will Christus seinen Sieg erringen. Darum zieht euch nicht zurück, sondert euch nicht ab, sondern „sinnt auf Gutes“ gegen jedermann, schaffet Frieden, soviel an euch ist, mit allen Menschen. „Soviel an euch ist“ – nicht ihr habt es in der Hand, wenn man euch den Frieden nicht läßt, wenn man euch schmäht und verfolgt. Aber „soviel an euch ist“, d. h. ihr sollt niemals die Quelle des Streites sein. Euer Herz soll immer des Friedens voll sein. Heißt das, daß wir auch das Wort Gottes verschweigen sollen um des lieben Friedens [willen]? Niemals – aber gibt es denn ein friedevolleres Wort und Werk als die Predigt von dem Frieden den Gott mit seiner Welt, mit seinen Menschen gemacht hat? „Soviel an euch ist“ [–] eines ist nicht an euch, nämlich Gottes Wort zu verschweigen – aber es ist an euch es zum Frieden zu sagen, zum Frieden der Menschen mit Gott zu sagen, mitten in einer zerrissenen, entzweiten Menschen[welt]. Jesus machte Frieden mit uns, als wir Feinde waren. Er hat auch Frieden ge­schafft mit allen unsern Feinden am Kreuz. Diesen Frieden laßt uns bezeugen vor jedermann!

„Rächet euch selber nicht …“ Wer die Rache in eigene Hand nimmt, der macht sich zum Rich­ter der Welt und der Menschen [468] und die Rache, die er üben wollte, wird auf sein eigenes Haupt kommen. Wer Rache üben will, der nimmt das Leben seines Feindes in seine eigne Hand und vergißt, daß Gott bereits seine Hand auf diesen Menschen gelegt hat, indem er für ihn starb am Kreuz. Wer Rache sucht an einem Menschen, der macht den Tod Christi zunich­te, der macht sich schuldig am Blut der Versöhnung. Christus starb für mich und für meinen Feind, uns beiden zum Heil. Suche ich Rache, so verachte ich das Heil des anderen. Dem anderen mag es nicht schaden, aber ich sage mich eben damit von den Taten Christi los.

Es ist ein schweres Opfer, das Christus von uns fordert, unsere Rache fahren zu lassen, viel­leicht das schwerste; denn des Menschen ganzes natürliches Wesen schreit nach Rache gegen die Feinde. Die Lust der Rache geht unserm menschlichen Blut über jede andere Sucht. Aber – wir wissen es, wir können uns nicht mehr rächen. Steht da der Feind vor meinen Augen und überfällt mich die Sucht, endlich einmal Rache üben zu können, dann steht alsbald Jesus Chri­stus hinter meinem Feind und bittet: erhebe deine Hand nicht, laß mir die Rache, ich will sie üben.

„… gebt Raum dem Zorn Gottes. [Ich will] vergelten, spricht der Herr.“ Ein furchtbares Wort. Können wir es hören und wissen, was es heißt, daß Gott Rache übt, ohne alsbald zu bitten: „nein, übe du keine Rache, nein, auch meinem Feinde kann und will ich es nicht wünschen, daß er in Gottes zornige Hände fällt.“ Aber Gott spricht: „Die Rache ist mein, ich will vergel­ten“ – Gott will und muß Rache üben über die Bösen. Aber – Wunder über Wunder – Gott hat schon Rache geübt in unbegreiflicher Weise, nicht an uns, die wir seine Feinde waren und noch täglich gegen ihn sündigen, nicht an unsern Feinden, sondern an sich selbst, an seinem lieben Sohn. An ihm suchte er alle unsere Sünde heim und strafte sie. Ihn verstieß er in die Hölle der Verzweiflung und Gottverlassenheit und in derselben Stunde betet Jesus: Vater, vergib ihnen … Das ist Gottes Rache, daß er sich selbst Schmerz und Leid zufügt, aber uns verschont und annimmt. Das ist Gottes Rache, daß er selbst das Leiden trägt und seinen Fein­den vergibt. Klingt es nicht in uns nach: Haltet euch nicht selbst für klug! [469] Gottes Wege zu euch [sind] zu wunderbar und hoch, zu barmherzig und liebevoll.

Ist es nun noch erstaunlich, daß es gleich nach diesem Wort von dieser Rache Gottes heißt: „so nun deinen Feind hungert. [so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du] feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Gott gab für den Feind sein Leben, sein alles, nun gibst auch du ihm, was du hast: Brot, wenn ihn hungert, Wasser, wenn ihn dürstet, Hilfe, wenn er schwach ist, Segen, Barmherzigkeit, Feindesliebe. Ist er dessen wert? Ja, wer wäre denn der Liebe wert, wer bedürfte denn unsrer Liebe mehr als der, der haßt? Wer ist denn ärmer als er, wer ist hilfsbedürftiger, wer ist liebebedürftiger als dein Feind? Hast du so deinen Feind schon einmal angesehen, als den, der imgrunde bettelarm vor dir steht und dich bittet, ohne es selbst aussprechen zu können: hilf mir, schenke mir das eine, was mir noch hel­fen kann aus meinem Haß, schenke mir Liebe, die Liebe Gottes, die Liebe des gekreuzigten Heilandes. Alles Drohen und Fäuste zeigen kommt ja aus dieser Armut, ist im Grunde ein Betteln um Liebe Gottes, um Friede, um Brüderlichkeit. Du weist den ärmsten der Armen von deiner Tür, wenn du deinen Feind von dir weist.

Feurige Kohlen. Kohlen brennen und schmerzen, wenn sie uns berühren. Auch die Liebe kann brennen und schmerzen. Sie lehrt uns erkennen, wie bettelarm wir sind. Es ist der brennende Schmerz der Buße, der sich bei dem einstellt, der trotz Haß und Drohung nur Liebe, nichts als Liebe findet. Gott hat diesen Schmerz uns kennen gelehrt. Als wir ihn empfanden war die Stunde der Umkehr da.

Nun bist du am Ziel: „laß dich das Böse nicht überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. So tat es Christus an uns. Er ließ sich durch unser Böses nicht irremachen, nicht überwinden. Er überwand unser Böses mit Gutem. Noch einmal wie geschieht [das]: nicht dadurch, daß wir dem Bösen des anderen Nahrung geben an unserm Bösen, dem Haß des anderen an unserm Haß, sondern dadurch daß das Böse ins Leere stößt und nichts findet, woran es sich entzünden kann. Wie überwinden wir das Böse? Indem wir es vergeben ohne Ende. Wie geschieht das? Indem wir ihn sehen als den, der er in Wahrheit ist, als [470] den, für den Christus starb, den Christus liebt. Wie wird die Gemeinde den Sieg über ihre Feinde erringen? Indem sie die Liebe Christi über die Feinde siegen läßt. Amen.

Gehalten in Groß-Schlönwitz am 23. Januar 1938 (3. Sonntag nach Epiphanias).

Quelle: Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 15: Illegale Theologenausbildung Sammelvikariate 1937-1940, hrsg. v. Dirk Schulz, München: Chr. Kaiser Verlag 1998, S. 463-470.

Hier die Predigt als pdf.

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