
Das ist eine Kunst: Das theologische Werk eines anderen sachgerecht darzustellen und zu würdigen, dessen Überzeugungen man selbst nicht teilt. Trutz Rendtorff (1931-2016) ist dies 1983 mit seiner Darstellung Karl Barths und seiner Theologie in dem von Heinrich Fries und Georg Kretschmar herausgegebenen Sammelband Klassiker der Theologie (erschienen bei C. H. Beck, München) gelungen. Über die Bedeutung der Theologie Karl Barths schreibt er:
Über die Bedeutung der Theologie Karl Barths hat es auf allen Stufen ihrer Entwicklung die heftigsten Auseinandersetzungen gegeben, die auch nach seinem Tode nicht beendet sind. Das kann bei einer Theologie, die sich über eine solche Fundamentalpolemik ins Spiel gebracht hat und den Streit ausdrücklich gesucht hat, auch nicht anders sein. Der Streit gehört zu ihrer nun schon klassisch zu nennenden Bedeutung unlöslich hinzu. Den einen galt und gilt die Barthsche Theologie als eine grandiose Wiederherstellung der vorneuzeitlichen Dogmatik, als ein höchst anspruchsvolles Unternehmen theologischer Restauration. Für diese Deutung sprechen die extensiven Bemühungen Barths, nicht nur die klassischen Themen der alten Dogmatik (bis hin zur Engellehre) aufzunehmen und neu zu bedenken, sondern vor allem auch das Gespräch mit der Bibel, den Kirchenvätern und Theologen aller Jahrhunderte zu führen, so daß die Kirchliche Dogmatik auch eine Fülle exegetischer und dogmengeschichtlicher Einzeltraktate enthält wie in keinem anderen theologischen Werk. Der Reichtum der christlichen Theologie aller Zeiten tritt hier überwältigend hervor.
Für diese Deutung spricht auch die Tatsache, daß Barth sich weitgehend aus der wissenschaftlichen Diskussion der Theologie im Sinne historischer, religionsgeschichtlicher, philosophischer und erkenntnistheoretischer Fragestellungen herausgezogen hat und auch, wo er auf entsprechende Themen und Fragestellungen eingegangen ist, doch nirgends methodisch und inhaltlich den Diskussionsstand akzeptiert und respektiert hat, der für die wissenschaftliche Diskussion im engeren Sinne maßgeblich war und ist. Dies ist ihm immer wieder vorgehalten worden und hat auch zu erheblichen Verständigungsschwierigkeiten geführt, zumal in der Diskussion mit Barth immer wieder der Eindruck entstand, seine Theologie sei nicht wirklich offen für die theologische Diskussion, sondern verlange, vor dem Eintritt in die Diskussion, eine Unterwerfung unter seine dogmatischen Prämissen. Dieser Eindruck des Autoritären bildet insofern eine spezifische Scheidelinie in Zustimmung und Ablehnung seines theologischen Denkstils. Wo dieser Denkstil von Schülern Barths ohne die entsprechende Substantialität seines Denkens tradiert worden ist, hat sich dieser Eindruck dann noch eher verfestigt.
Dieser Deutung fügt sich nicht, daß die Barthsche Theologie in wesentlichen Bezügen selbst traditionskritisch und vor allem auch kirchenkritisch ist und insofern spezifisch neuzeitliche Züge hat. Darum gibt es gute Gründe für eine Deutung, die in der Barthschen Theologie eine dogmatisch verschlüsselte Rezeption neuzeitlichen Denkens erblickt. Dafür spricht die zentrale Rolle der erkenntnistheoretischen Problematik, sofern sie letztlich auf das kompetente Subjekt von relevanter Wirklichkeitserkenntnis hin zugespitzt wird und dem Kantischen Theorem folgt, daß alle Welterkenntnis letztlich durch Selbsterkenntnis vermittelt ist. Daß Barth Offenbarung auf die Selbstoffenbarung Gottes hin radikalisiert und als Selbstbekundung der Subjektivität Gottes bestimmt hat, ist dafür ein ebenso deutliches Indiz wie sein durchgehendes Drängen darauf, alle theologische Wirklichkeitserkenntnis als durch diese Selbstoffenbarung Gottes vermittelt zu qualifizieren. Auch die tiefgreifenden Revisionen, die er an klassischen Deutungen der Dogmatik vorgenommen hat, lassen sich zwanglos und ohne Gewaltsamkeit als Umformulierung der Theologie im Lichte des neuzeitlichen Autonomie- und Freiheitsverständnisses erklären. Damit wird die spezifisch theologisch-christologische Inhaltlichkeit seiner Theologie nicht gleichgültig oder nur zum Darstellungsmittel herabgewürdigt. Denn die besondere Leistung Barths besteht gerade darin, nicht die traditionelle Theologie dem neuzeitlichen Denken angepaßt zu haben, sondern die in bestimmten Hinsichten aporetische Debatte um die Selbstbegründung des Subjektes von Freiheit durch die These von dem ontologischen Vorrang der Freiheit Gottes vor der menschlichen Selbsterfassung von Freiheit transzendiert zu haben. Das aber war und ist nur über den besonderen christologischen Gehalt der Theologie möglich und denkbar.
Gegen diese Deutung der Theologie Barths als spezifisch neuzeitlicher theologischer Theorie spricht, daß Barth selbst jedenfalls immer und zuerst auf der Unverrechenbarkeit und Besonderheit der christlichen Theologie beharrt hat und sich jedenfalls nicht daran beteiligt hat, ihr einen solchen allgemeinen Status im Kontext der neuzeitlichen Denkgeschichte zu geben. Es bleibt die Frage, ob eine solche Theologie dazu von sich aus fähig ist.
So ist die Theologie Barths keiner ihrer Deutungen vorbehaltlos zu subsumieren. Damit ist sie aber zum Thema weitergehender und anregender Auslegung und Interpretation geworden, wie es zum Merkmal eines Klassikers der Theologie gehört.
Hier der vollständige Text Trutz Rendtorff, „Karl Barth (1886-1968)“ als pdf.