
In der neuen Predigtordnung ist für den Sonntag Septuagesiame in der 1. Predigtreihe eine neue Perikope, nämlich Prediger (Kohelet) 7,15-18 vorgesehen. Übersetzt hat Otto Kaiser (Kohelet – das Buch des Predigers Salomo, Stuttgart 2007, S. 20) die Perikope wie folgt:
15 Beides habe ich in den Tagen meines Lebens gesehen:
Es kommt vor, daß ein Gerechter trotz seiner Gerechtigkeit umkommt,
und es kommt vor, daß ein Frevler trotz seiner Bosheit alt wird.
16 Sei nicht allzu gerecht und gebärde dich nicht allzu weise,
warum willst du dich zugrunde richten?
17 Sei nicht allzu frevelhaft und sei kein Tor,
warum willst du vor deiner Zeit sterben?
18 Gut ist es, wenn du das eine anpackst
und auch von dem anderen deine Hand nicht läßt:
Ja, wer Gott fürchtet, dem gelingt beides.
Zu den anstößigen Versen 16 und 17 schreibt Walter Lüthi in Der Prediger Salomo lebt das Leben. Eine Auslegung für die Gemeinde (Basel 1952):
So sieht der Prediger die Möglichkeit sinnvoller Lebensgestaltung in der Geduld. Zur Geduld fügt er nun noch die Demut, die Demut, die tapfer und entschlossen zu unseren menschlichen Unzulänglichkeiten steht. Hierher gehört die beinahe ergötzliche Mahnung, dass man nicht allzu gwundrig hinhöre, was der Knecht über einen plaudere, denn, genau genommen («Hand aufs Herz!»), habe man ja selber auch schon über ihn geklatscht: «Gib auch nicht acht auf alles, was man sagt, dass du nicht hören müssest deinen Knecht dir fluchen. Denn dein Herz weiss, dass du andern auch oftmals geflucht hast» (21-22). Noch deutlicher aber ist diese schlicht demütige Haltung in den Worten: «Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, dass du dich nicht verderbest. Sei nicht allzu gottlos und nicht allzu töricht, dass du nicht sterbest zur Unzeit» (16-17). Dass man nicht allzu dumm tun und nicht allzu gottlos sich gebärden soll, [85] weil das immerhin gewisse Gefahren in sich birgt, das begreift man; aber kann man allzu gerecht und allzu weise sein? Jawohl, man kann geistlich hochmütig sein, und Hochmut kommt vor dem Fall. Es gibt solchen Vollkommenheitsdünkel ja nicht nur in seiner religiös-sektenhaften Form, sondern auf jedem Gebiet menschlichen Verhaltens. Zu hoch beladen, fällt das Fuder um. Allzu fein gesponnen, reisst der Faden, und allzu gut gespitzt, bricht der Bleistift ab. Und wo das Kind sich nicht mit einem Apfel begnügt, sondern gleich deren drei ergreifen will, lässt es sie alle fallen. Es gibt mehr Menschen als wir meinen, die allzu gerecht und allzu weise sind. Man kann beispielsweise die Anforderungen, die man an sich stellt, so hoch schrauben, dass man schliesslich vor lauter Angst, einen Fehler zu begehen, überhaupt nichts tut. Wer in einer Welt der Sünde und des Todes auf irgendeinem Gebiet, sei es in der Wirtschaft oder in der Politik oder auf dem Felde der Humanität, mitgestalten und mittun will, der muss den Mut zur Unvollkommenheit aufbringen. Wer da allzu gerecht und allzu weise ist, der wird am Wegrand des Lebens stehen bleiben, ewiger Zuschauer sein, wird ständig derjenige sein, der es besser gewusst und besser getan hätte, und verfällt so der Lächerlichkeit. Darum gib in aller Demut zu, dass, wo gehobelt wird, Späne fliegen. Ich meine, dieser Hochmut sei neben dem Pressiergeist eine andere tiefe Not unserer Tage. Wir sind ganz allgemein ein Geschlecht geworden, das sich überfordert, ein Geschlecht, das zu viel will, sich zu viel zumutet. Nicht nur der Mensch ist überfordert, so dass Erschlaffungs- und Erschöpfungserscheinungen immer häufiger in Erscheinung treten, sogar den Erdboden haben wir überfordert, so dass er anfängt, sich gegen diese masslose Ausbeutung zu wehren. Ein Geschlecht, das von «unbegrenzten Möglichkeiten» spricht, übertreibt, Übertreibung aber ist unweise. In einer Welt des Todes und der Schuld gibt es eine Möglichkeit des Lebens, [86] aber diese ist nun eben begrenzt. Das ist die Weisheit des Predigers.
Hier noch eine Auslegung von Friedrich Mildenberger zu Prediger 7,15-18.