Drei Monate, nachdem Dietrich Bonhoeffer im Oktober 1933 die Auslandspfarrstelle in London angetreten hatte, schrieb er für den Gemeindeboten für die deutschen evangelischen Gemeinden in Großbritannien (Nr. 1, 7. Januar 1934) folgende Neujahrsandacht:
Lukas 9,57-62: Und sie gingen in einen anderen Markt. Es begab sich aber, da sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wo du hingehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten begraben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes. Und ein anderer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, daß ich einen Abschied mache mit denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.
„Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“ – dieses Sprichwort, das sich in den verschiedensten Ländern findet, entspringt nicht der frechen Weltklugheit eines Unerbesserlichen, sondern hier enthüllt sich christliche Einsicht. Wer an der Jahreswende nichts Besseres zu tun weiß, als sich ein Register begangener Schlechtigkeiten anzulegen, und den Beschluß zu fassen, von nun an – wie viele solche „von nun an“ hat es schon gegeben! – mit besseren Vorsätzen anzufangen, der steckt noch mitten im Heidentum.
Denn erstens meint er, der gute Vorsatz mache schon den neuen Anfang, d. h. er meint, er könne von sich aus einfach [172] einen neuen Anfang machen, wann er es gerade wolle. Und das ist eine böse Täuschung; einen neuen Anfang macht allein Gott mit dem Menschen, wenn es ihm gefällt, aber nicht der Mensch mit Gott. Einen neuen Anfang kann der Mensch darum überhaupt nicht machen, sondern er kann nur darum beten. Wo der Mensch bei sich selbst ist und aus sich heraus lebt, da ist das Neue und der Anfang nicht. Und Gott kann man nicht kommandieren, man kann um ihn nur beten. Aber beten kann der Mensch nur, wenn er begreift, daß er etwas nicht kann, daß er an seiner Grenze ist, daß ein andrer anfangen muß.
Zweitens aber merkt der Mensch, der allein von seinen guten Vorsätzen leben will, gar nicht, woher diese eigentlich kommen. Da gilt es scharf hinzusehen. Unsere sogenannten guten Vorsätze sind ja nichts als Angstprodukte eines schwachen Herzens, das sich vor allerlei Schlechtigkeiten, Sünden fürchtet und sich nun mit sehr menschlichen Waffen rüstet, um gegen diese Gewalten anzugehen. Wer aber Angst hat vor der Sünde, der ist schon mitten drin. Die Angst ist das Netz, das uns der Böse überwirft, damit wir uns verstricken und alsbald zu Fall kommen. Wer Angst hat, ist schon gefallen. Wen auf einer schwierigen Bergbesteigung plötzlich die Angst überfällt, der strauchelt gewiß.
Also mit solchen ängstlichen guten Vorsätzen ist es nichts. So kommen wir bestimmt zu keinem neuen Anfang. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Wie finden wir einen neuen Anfang? Unser Text berichtet zunächst von einem offenbar für Jesus Christus begeisterten jungen Mann, der vielleicht schon lange auf die Gelegenheit gewartet hatte, seiner Begeisterung Ausdruck zu geben. Jetzt kommt Jesus in die Stadt, der Begeisterte eilt ihm entgegen, tritt ihm in den Weg: Ich will dir folgen, wo du hingehst. Er selbst will den Anfang machen, er bietet sich an, in glühender Hingabe meint er für diesen Mann alles tun, alles [173] lassen zu können. Aber Jesus wehrt ab. Ihm ist diese Begeisterung verdächtig. Weißt du auch, was du tust? Weißt du auch, wer ich bin? Weißt du auch, wohin mein Weg dich führen würde? Weißt du auch, daß man sich mir nicht aus Begeisterung an den Hals wirft, sondern daß ich festen, unerschütterlichen Glauben brauche, der sich allein an meinen Ruf hält? Habe ich dich gerufen? Kommst du allein auf meinen Ruf? Du willst von neuem anfangen, du Begeisterter; bedenke, was du tust; bedenke, mit wem du es wagst; bedenke, daß es von der Begeisterung zur Verlegenheit nur ein Schritt ist!
Den Zweiten in unserer Geschichte ruft Jesus selbst an; der lebt ganz im Vergangenen, hängt einem großen Schmerz nach, den er nicht vergessen kann, hat keine Zukunftsfreudigkeit mehr; er möchte in der Welt der Toten, im Vergangenen dahindämmern. Den ruft Christus heraus. Er zögert, er will noch einmal zurück. „Laß die Toten ihre Toten begraben“ – laß das Vergangene dahinten, werde frei – jetzt oder nie. Christus ruft dich zu neuem Anfang, auf ihn allein wage es – aber nun gleich, heute noch, Christus zieht weiter – geh’ mit ihm, auf seinen Ruf, jetzt!
Der Dritte wäre wohl gern mitgegangen. Er meint es ernst, und eben darum kann er ja wohl seinem Anerbieten, Jesus nachzufolgen, eine kleine Bedingung anhängen. „Erlaube mir zuvor …“ Ich will ja gewiß, aber, nicht wahr, du verstehst, Herr, noch dieses und jenes „zuvor“. Nein, er versteht nicht, will nicht verstehen. „Wer seine Hand an den Pflug legt …“; nicht zurück, aber auch nicht in unübersehbare Fernen schaut der Mann, der den Pflug führt, sondern auf den nächsten Schritt, den er tun muß; Rückblicke sind keine christliche Sache. Laß dahinten Angst, Kummer, Schuld. Du aber sieh auf den, der dir einen neuen Anfang gegeben. Ober ihm vergißt du alles.
Das nächste Jahr wird kein Jahr ohne Angst, Schuld, Not [174] sein. Aber – daß es in aller Schuld, Angst, Not ein Jahr mit Christus sei, daß unserm Anfang mit Christus eine Geschichte mit Christus folgte, die ja nichts ist als ein tägliches Anfangen mit ihm – darauf kommt es an.
Quelle: Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Band 4: Auslegungen – Predigten 1933 bis 1944, hrsg. v. Eberhard Bethge, München: Chr. Kaiser 1961, Seiten 171-174.