
So kennt man es ja bei den Gedenkjahren großer Gelehrter. Die betreffende Person wird historisch umfassend gewürdigt; und dann gibt es noch das Abschlusskapitel: Was der betreffende uns heute noch zu sagen hat. Ralf Frisch hingegen schreibt zum Karl-Barth-Jahr 2019 keine Würdigung eines verdienstvollen Theologen, sondern betreibt eine relecture dessen Werks mit einer Absicht: Die Theologie Barths ist für unsere Gegenwart neu zur Geltung zu bringen, weil sie „den Nerv unserer Zeit und den Nerv ihrer Menschen trifft, wie keine andere Theologie davor und seither.“ Solch ein Urteil braucht einen ungebundenen Verstehenshintergrund jenseits eines Reflexionsschemas der Subjektivität bzw. eines doktrinären Propositionalismus.
An Hand von elf Grundentscheidungen Barths zeigt Frisch auf, wie sich Theologie in einem eigenen Freiraum Geltung zu verschaffen weiß, die als poetische Gottesrede wiederum für Menschen der Gegenwart befreiend wirkt. Das Besondere an Ralf Frischs Buch ist, dass er unter Einbezug von Literatur und Kunst einen ästhetischen Zugang zu Barth findet: „Die ‚Kirchliche Dogmatik‘, die eine Geschichte erzählt ist – philosophisch gesprochen – eine sogenannte Metaerzählung, deren Held Gott ist. Vor dem Forum der modernen Wissenschaft kann eine solche Gottesstory nicht als glaubwürdig erscheinen – es sei denn, man wäre von ihrer welterschließenden, also mythischen Kraft überzeugt, auch, wenn man sie wissenschaftlich betrachtet nicht für wahr hielte. Unter den Bedingungen neuzeitlicher Welterkenntnis muss Barths Gottesstory aufgrund ihrer inakzeptablen Verfahren geradezu wie eine theologische Fantasygeschichte anmuten.“
Der Zugang mag postmodern inspiriert sein, aber wie Frisch dann Karl Barth durch ausführliche Zitation und eigene Auslegung erfrischend zur Sprache bringt, hat in jedem Fall Erkenntnisgewinn – nämlich den der göttlichen Gnade: Barths Theologie „ist eine generöse Theologie der Generosität Gottes, der es nicht nötig hat, den Menschen, den er geschaffen hat und mit sich versöhnt hat, nicht sein zu lassen, wie er ist. […] Weil Gott auf eine Weise Gott ist, die sich des Menschen erbarmt, liegt es eigentlich nahe, was dem Menschen seltsamerweise fern liegt: dass der Mensch sich an seinem Menschsein und an seinem Sosein genügen lässt statt es unentwegt auf ein anderes, vermeintliches höheres Sein hin überschreiten zu wollen.“
An einem Punkt frage ich bezüglich eines poetologischen Zugangs zur Karl Barth nach: Lässt sich die Kirchliche Dogmatik als Erzählung tatsächlich unter Fiktion subsumieren? Sollte die erzählende Gottesrede sinnstiftend ersonnen worden sein, wird sie eine Martyriumsprüfung kaum bestehen können, derer sich Christen während des Nationalsozialismus mitunter stellen mussten. Für selbst Ersonnenes kann man nicht sterben, sondern wird sich zur eigenen Lebenserhaltung eines Besseren besinnen – „war nur so eine Idee von mir …“ Nur die dramatische Wahrheit des Evangeliums Jesu Christi lässt das widerrufsresistente Bekenntnis nachsprechen: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ (Römer 14,8)
Auch wer Frisch nicht in allen seinen Interpretationen zu folgen weiß, wird in seinem Buch theologisch gut unterhalten sein. Schließlich verbindet dieser denkerischen Scharfsinn mit eigenem Sprachwitz. Und am Ende ist man darauf eingestimmt worden, Karl Barth selbst neu zu lesen.
Ralf Frisch, Alles gut. Warum Karl Barths Theologie ihre beste Zeit noch vor sich hat, Zürich: TVZ 2018, 204 Seiten, ISBN 978-3-290-18172-7, 19,90 €.
In Deutschlandfunk Kultur ist ein Gespräch mit Ralf Frisch über sein Buch aufgezeichnet.