Von Martin Buber
Die Sehnsucht, die Selbständigkeit wiederzugewinnen, ist dem jüdischen Volk in der Form eines modernen Staatswesens in Erfüllung gegangen. Für das Judentum bedeutet diese historische Tatsache, daß es nunmehr der schwersten Krisis seiner Geschichte entgegensieht. [199]
Die herrschende Ansicht ist dieser entgegengesetzt. Man meint zumeist, gerade erst die Konstituierung als Staat schaffe die Grundlage für einen großen Aufschwung des jüdischen Geistes, somit des Judentums.
Aber nicht bloß, daß Macht eines Staates und Blüte, einer Kultur durchaus nicht immer parallel gehen: wichtiger ist, daß auch die reiche geistige Produktivität des jüdischen Volkes in seinem Lande keineswegs ein neues großes Leben des Judentums zur Folge haben mußte.
Versteht man Judentum streng in seinem Einzigkeitscharakter, dann kann es keinen anderen Sinn haben als diesen: göttliches Geheiß über einem Volke, als Volk, stehend.
Nur ein einziges Mal ist es geschehen, daß ein Volk, sich auf den Weg seiner Geschichte begebend, ihn als einen von Gott gewiesenen und gebotenen sah, als eine von ihm zu vollziehende göttliche Satzung.
Wie sehr auch der faktische Weg seiner Geschichte von jenem abwich, jede Abweichung ist eben als solche gekennzeichnet und gerügt worden: jeder Punkt des faktischen Wegs ist auf einen des befohlenen, des „Weges Gottes“, des Wegs der Gerechtigkeit, bezogen worden. Stets wurde die „Umkehr“ zu ihm gefordert, stets blieb der eine „Weg Gottes“ sichtbar.
Dieses, als Volk auf den Weg Gottes bezogen zu sein, ist Judentum, oder es hat nie ein Judentum gegeben.
Aber man verkenne nicht, was damit gemeint ist! Etwas anderes als was wir leichten Herzens Moral zu nennen pflegen! Gott will — das war die Botschaft — daß Israel ein Volksleben in Gerechtigkeit nach innen und nach außen lebe: nicht bloß gerechte Institutionen, sondern gerechte Beziehungen, ein Lebenssystem gerechter Beziehungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat, gerechter Beziehungen auch als Volk zu anderen Völkern. Das heißt: Gott will, daß Israel mit der Gerechtigkeit auf Erden beginne. Daß es beginne, mit der Gerechtigkeit auf Erden Ernst zu machen, Welch ein Risiko! und welch eine Verheißung!
Das Volk hat versagt. Aber es hat nicht gezweifelt. Es hat nicht allein daran nicht gezweifelt, daß Gott, Gott selber, von ihm, von Israel, lebende Gerechtigkeit erwartet: es hat auch, in all den Zeiten des Exils, daran nicht gezweifelt, daß es sie verwirklichen würde, wenn es seine Selbstbestimmung, die Freiheit, seine eigenen Lebensformen als Volk zu bestimmen, wiedererlange!
Jetzt, nach fast zwei Jahrtausenden, hat Israel die Voraussetzungen der Verwirklichung wiedererlangt.
Nun aber scheint es dafürzuhalten, daß ihm. als Staat, allen modernen Staaten gleich, das Recht und die Pflicht zuteil geworden seien, in der [200] Forderung seiner jeweilen Interessen, wie seine Vertreter sie verstehen, die entscheidende, ja die absolute zu sehen. Die göttliche ist wie verschwunden. Einst, in der ersten Staatszeit Israels, hatten sich — an diesem Ort allein und in jener Stunde allein auf Erden — Propheten erhoben und hatten das Volk und seine Herrscher ermahnt, wo das Interesse des Augenblicks, das was im gegebenen Augenblick als das Interesse der Gemeinschaft erscheint, im Gegensatz zum umwandelbaren göttlichen Willen, dem Willen zur Gerechtigkeit, steht, da dürfe man nur diesem und nicht jenem folgen, sonst drohe Unheil und Zerfall. Unheil und Zerfall sind gekommen. Das große Exil hat begonnen. Heute, da in seine Mauern eine breite Bresche geschlagen ist, scheint die Situation, in der die Propheten sprachen, wiederkehren zu sollen, noch verschärft durch die Scheinweisheit der modernen Staatsraison und den zur vollkommenen Ausbildung gediehenen Irrglauben, daß es die Augenblickserfolge seien, die den Gang der Geschichte bestimmen.
Gewiß, man sagt der prophetischen Überlieferung nicht ab. Man ehrt und verehrt sie, aber nicht als verbindliche Lebenswahrheit, nur als einen ideellen Besitz der Nation, geeignet, in der nationalen Propaganda zweckmäßig verwendet zu werden. Nichts Schlimmeres als dies kann der menschlichen Artikulation göttlichen Worts widerfahren. Es ist an der Zeit, die Prophetie Israels dem Zugriff der Phrase zu entwinden, indem man sie ernst nimmt und sie, das wahre Licht der Menschenwelt, dem trügerischen Gefunkel der sogenannten Interessen entgegenstellt. Es ist die Wahrheit: durch Gerechtigkeit allein kann der Mensch als Mensch, können die Menschenvölker als Menschenvölker bestehen. Menschliches aber, das nicht mehr menschlich, das heißt, in der Verwirklichung des Geistes, bestehen kann, ist dem Los alles Nur-Stofflichen, der Zersetzung, überantwortet.
Wohl haben wir keine Propheten mehr, die zum Ausweis ihrer Botschaft sagen dürfen: „So hat Gott gesprochen.“ Aber jedem, der um die Wahrheit der Propheten weiß, liegt es ob, sie in das Drohen der Krisis hinein zu sprechen. Denn was einst gesagt wurde, ist auch für eine Stunde wie diese gesagt, und vielleicht mehr für sie als für irgendeine frühere. Es ist ja das Erdenreich des Menschen, es ist der Menschenbestand selber, der zu zerfallen droht, weil er nicht auf Gerechtigkeit gebaut ist. Wir Juden sind nur wie einst und wie immer das leibhafte Paradigma, an dem dargelegt wird, was dargelegt werden soll, — aber eben ein selber entscheidungsfähiges, selber Entscheidung übendes und das heißt: ein Paradigma für Heil und Un-[201]heil. Was heute für Israel gesprochen wird, wird für das ganze elende Menschengeschlecht dieser Stunde gesprochen. Aber zu Recht wird es gerade für Israel gesprochen, das einzige Volk, das unter einem göttlichen Geheiß auf den Weg seiner Geschichte ausgesandt worden ist.
Liebe kann sich je und je nur im Dasein von einzelnen, Gerechtigkeit kann sich nur im Volksleben und im Völkerleben erfüllen. Weil die Propheten den Weg nannten, der über wahres Volksein zu einer wahren Menschheit führt, haben sie über jede andere Forderung die der Gerechtigkeit gestellt. Nur ein Volk kann, wie zwischen seinen Gliedern — Individuen und Gruppen — untereinander, so auch in seinen eigenen Beziehungen zu anderen Völkern Gerechtigkeit stiften, sich selber und einer werdenden Menschheit zum Heil.
Dazu bedarf es der Selbständigkeit und Selbstbestimmung, eben dessen, das Israel jetzt wiedererlangt hat. Was wird es damit beginnen? Das ist die Frage der Krisis.
Die Propheten haben einst die „Erlösung“, die Befreiung vom Joch der Völker, nicht um seiner selbst willen verheißen, sondern um dessen willen, was es zu vollbringen hat. Aber man bilde sich nicht ein, daß was man zu vollbringen hat eben eine „nationale Kultur“ sei! Es gibt für Israel keine lebendige Kultur ohne Gerechtigkeit. Und es wird auch dann keine Wahrheit daraus, wenn man das zu Vollbringende als „religiöse Erneuerung“ bezeichnet. Denn es gibt für Israel keine lebendige Religion ohne Gerechtigkeit.
Nicht gerechte Gesetze und gerechte Institutionen allein sind gemeint, so unerläßlich sie als Grundlage sind. Gemeint ist in allem und jedem das echte Streben nach dem Gerechtsein, den Personen und den Gemeinschaften gegenüber. Gemeint ist die Richtung, die für das öffentliche wie für das private Leben maßgebend werden soll. Es geht um die Konstituierung der heiligen Lebensnorm.
Hierzu aufzurufen liegt heute jedem ob, im Staate Israel und in der Gola, der um die prophetische Wahrheit weiß.
Einige Menschen in Jerusalem haben sich zusammengetan, um mit dem Dienst an diesem Werk zu beginnen. Sie wollen keine Partei und keinen Verein gründen, nur gemeinsam der Wahrheit dienen. Sie sehen die ewige prophetische Wahrheit als verbindlich, sie wollen einander helfen, sie von der Wirklichkeit jeder Stunde aus immer neu als verbindlich zu erkennen, sie wollen sie als verbindlich von neuem deutlich machen, sich selber und anderen; wie es je und je die Stunde erfordert, so gut sie es wissen und so gut sie es können. [202]
Sie nennen sich mit dem Namen des Propheten, der vor allem die Botschaft der Gerechtigkeit als solche verkündigte und die Völker geißelte, weil sie an den Brudervölkern Unrecht verübten: Bnei Amos (Söhne Amos’).
Ihr Kreis, hier und in aller Welt, mag wachsen, schnell oder langsam, viele mitreißend oder nur einzelne überzeugend, wie Gott will.
Quelle: Martin Buber, Politische Schriften, hrsg. v. Abraham Melzer, Frankfurt: Zweitausendeins 2010, Seiten 198-202.