
Fridolin Stiers „Das Neuen Testament„, 1989 aus dem Nachlass von Eleonore Beck, Gabriele Miller und Eugen Sitarz herausgegeben, ist als begriffskonkordante Übersetzung besonders nah am Sprachduktus des griechischen Originals. Stier hatte über Jahre an ihr gearbeitet, ohne sie selbst zur Veröffentlichung zu bringen. 1965 ist jedoch seine Übersetzung des Markus-Evangeliums erschienen, zu der seinerzeit Walter Jens folgende Rezension geschrieben hatte:
„Die Heilsbotschaft nach Markus“, übersetzt von Fridolin Stier; Kösel-Verlag, München; 52 S., 3,80 DM.
Schon der erste Satz Anfang der Heilsbotschaft von Jesus, dem Messias, Gottes Sohn, zeigt die Vorzüge der Stierschen Übersetzung deutlich an: Wortwörtlichkeit, Verzicht auf alle Lesehilfe und Poetisierung, Beibehaltung der Syntax, eigenwillige Lesartensicht. Hier und anderswo (recht verwegen in Markus, 1,41: da ergrimmte er statt da jammerte es ihn) der Handschrift D in besonderer Weise vertrauend, verteidigt Stier den Zusatz Gottes Sohn, der, im Fall des revidierten Luther-Textes, gerade ein Opfer textkritischer Erwägungen wurde – und er hat seine Gründe dafür.
Markus ist ihm vertraut, man spürt, er durchschaut seinen Stil: die charakteristische Wortstellung mit dem antizipierten Verbum und dem nachgestellten Subjekt, die derbe Plastizität, das Wechselspiel von schlichter Benennung und doppeldeutiger Chiffre, von visionärer Rede und chronikalischer Notiz. Stier ist genauer als seine Vorübersetzer, genauer auch als Luther; wenn Markus geradmacht den Weg sagt, schreibt er nicht macht den Weg gerade. Die Wortstellung unangetastet zu lassen, ist ihm eine Selbstverständlichkeit, und gerade dadurch ergeben sich oft überraschend verfremdende Volten. Auch die Zeitstufen bleiben gewahrt: Ein Präsens ist ein Präsens. Die Sprünge zwischen Satz und Satz machen den Text unheimlich, rauh und unerforscht: Nur kein harmonisierender Präteritum-Stil, nur kein raunendes Beschwören des Imperfekts, heißt die Devise.
Und welche Valeurs bringt diese wortwörtliche Übersetzungsmethode ans Licht: Endlich erscheint wieder die große Vision des schlafenden Jesus, des Auferweckten, nicht des Auferstandenen, des beim Anruf des Vaters Erwachten, nicht des Thorwaldsen-Schemens. Und dann, wie ergiebig sind die participia praesentis, diese Brechtschen, so wenig nach Luther klingenden Fügungen, die den Sätzen plötzlich jene akkurate Ordnung verleihen, die man, in parataktischen und-Vorstellungen befangen, schon längst nicht mehr realisierte! Nun plötzlich das Erlebnis, ein Evangelium wie einen neuen Text, einen unbekannten, Ärgernis erregenden, hier hoch pathetischen, dort nahezu unbeholfenen, ein widerborstiges Stück Weltliteratur, ein inspiriertes und gestammeltes Bekenntnis, ein frommes Zeugnis lesen zu dürfen, den Bericht eines einfachen Mannes: so hat es mir Petrus erzählt…
Daß es bei alledem Stellen gibt, an denen die Wörtlichkeit nicht evozierend, sondern, einen Schritt über das Unvertraute hinaus, absonderlich wirkt, liegt auf der Hand: daß er in ein Boot stieg und im See sich setzte ist schlichtweg unsagbar oder mindestens problematisch – so problematisch wie jene archaisierenden Wendungen sind, die, präzise im Wortsinn, als barocke Einsprengsel hochtrabend wirken: Ödnis (das untere Jordantal ist gewiß keine Wüste, aber eine altdeutsche Ödnis doch auch nicht), Jenseite, Starrnis des Herzens (Herzensstarre, 16, 14 verwandt, klingt weit besser; aber 3,14 ist nicht Starrheit, sondern Verhärtung gemeint, die Hornhaut über dem Herzen: Die griechischen Vokabeln wollen wohl voneinander geschieden, nicht mit dem gleichen Wort „starr“ bezeichnet sein). Ein wenig mißlich stimmt in diesem Zusammenhang auch das nur noch parodistisch zu verwertende ob; auch ward läßt sich bequem durch wurde, lischen durch erlöschen, trügen durch betrügen ersetzen – von nichts war ihr genutzt ganz zu schweigen.
Hier, im pointierten Archaisieren, liegt Stiers einzige Schwäche: Was präzis klingen soll, im terminus-technicus-Sinn, kommt plötzlich etwas full mouthed heraus, und statt der Plastizität des Bauernkalenders vernimmt man den anachronistischen Tenor des Schott. Gestrige Genauigkeit, Wortwörtlichkeit von ehegestern: Das sind Charybdis und Scylla zugleich. Und vielleicht gehört auch noch die Versuchung dazu, an der morgenländisch-fremden Wortstellung auch dort festzuhalten, wo es der Text ausnahmsweise verbietet – und bedienten ihn die Engel heißt im Griechischen schlicht und teutonisch und die Engel bedienten ihn.
Doch das sind kleine Monenda, Unebenheiten, die nur der mit Nachdruck hervorheben muß, dem, wie mir, diese Übersetzung vom Geist Martin Luthers, von seiner Kenntnis und von seiner Wortgewalt, erfüllt zu sein scheint. Und wieviel theologische Gelehrsamkeit wurde hier eingedeutscht, ohne die Worte des Schriftstellers Markus explikativ zu erweitern!
Welcher Laie schließlich weiß schon, daß Jesus, auf Pilatus’ Frage, ob er der König der Juden sei, nicht du sagst es im Sinne von „ja“, sondern das sagst DU antwortet? Theologen und Laien gemeinsam aber haben Grund sich zu freuen; denn es ist keine Kleinigkeit, ein Stück Weltliteratur, ein Evangelium zum erstenmal in wortwörtlicher Treue lesen zu können.
DIE ZEIT, Nr. 24, 11. Juni 1965.